ungeheure Erlösung ankündigen!" Die Blätter der Opposition verriethen ihre üble Laune indem sie verstohlen die Echtheit des jungen Bourbonen anzweifelten oder boshaft an die Stuarts erinnerten, denen das Schick- sal auch noch kurz vor ihrer Entthronung einen unerwarteten Stamm- halter bescheert hatte. In Wahrheit glaubte ganz Europa, daß ein un- erhörtes Glück den französischen Thron von Neuem befestigt habe. Erst die Zukunft sollte lernen, wie wenig der befangene Blick der Mitleben- den die Bedeutung der Ereignisse des Tages zu übersehen vermag. Jener wunderbare Glücksfall war ein schweres Mißgeschick für Frankreich und die Sache der Monarchie. Wäre die alte Dynastie damals ausgestorben, so hätte das Haus Orleans, das den Ideen des neuen Jahrhunderts näher stand, kraft seines Erbrechts den Thron bestiegen, und dann konnte viel- leicht ein nationales, von allen Parteien anerkanntes Königthum wieder Wurzeln schlagen und die zerrissene Kette der Zeiten endlich schließen. Die Geburt dieses Thronerben aber weckte auf's Neue den alten Haß der demokratisirten Gesellschaft wider das königliche Haus und stachelte den lauernden Ehrgeiz der Orleans zu unheimlichen Plänen auf.
Für den Augenblick freilich waren die Ultras im Vortheil, und da in Frankreich Niemand gern lange in den Reihen einer aussichtslosen Minder- heit verharrt, so errangen die Parteien der Rechten bei den Neuwahlen einen großen Erfolg. Noch ehe das Jahr zu Ende ging sah Richelieu sich ge- nöthigt zwei Führer der Ultras, Villele und Corbiere in das Ministerium aufzunehmen. Dies uneinige Cabinet behauptete sich nur mühsam in dem Gewoge der parlamentarischen Kämpfe. Während die deutschen Zei- tungsleser sich bewunderungsvoll an der glänzenden Beredsamkeit der Pa- riser Kammern weideten, war der französische Staat durch die Gehäs- sigkeit seiner Parteien dermaßen geschwächt, daß seine Stimme im Rathe der großen Mächte wenig mehr galt. --
Kaum minder bedenklich erschien zur Stunde die Lage Englands. Die Erbsünde des britischen Parlamentarismus, die Vernachlässigung der niederen Stände trug endlich ihre Früchte. Die hungernden Massen, denen der ersehnte Friede nur neues Elend gebracht, knirschten in die Zügel, blutige Straßenkämpfe verkündeten das Nahen einer ernsten so- cialen Bewegung, und statt die Gefahr durch die Herabsetzung der drücken- den Kornzölle und andere dringend nöthige wirthschaftliche Reformen zu beschwören griff das Tory-Cabinet mit rücksichtsloser Härte durch. Fast gleichzeitig mit den Karlsbader Beschlüssen erschienen die sechs Knebelbills gegen die Presse und die öffentlichen Versammlungen. Während die Na- tion über diese letzte schwere Verletzung ihres Verfassungsrechts noch murrte, begann sie auch schon wahrzunehmen, wie tief Englands Macht in der Staatengesellschaft gesunken war. Gedeckt durch den Silbenwall ihrer Meere war die englische Handelspolitik von Altersher gewohnt, die jedem Staate eingeborene Selbstsucht mit einer cynischen Unbefangenheit, die
Treitschke, Deutsche Geschichte. III. 10
Steigende Macht der Ultras.
ungeheure Erlöſung ankündigen!“ Die Blätter der Oppoſition verriethen ihre üble Laune indem ſie verſtohlen die Echtheit des jungen Bourbonen anzweifelten oder boshaft an die Stuarts erinnerten, denen das Schick- ſal auch noch kurz vor ihrer Entthronung einen unerwarteten Stamm- halter beſcheert hatte. In Wahrheit glaubte ganz Europa, daß ein un- erhörtes Glück den franzöſiſchen Thron von Neuem befeſtigt habe. Erſt die Zukunft ſollte lernen, wie wenig der befangene Blick der Mitleben- den die Bedeutung der Ereigniſſe des Tages zu überſehen vermag. Jener wunderbare Glücksfall war ein ſchweres Mißgeſchick für Frankreich und die Sache der Monarchie. Wäre die alte Dynaſtie damals ausgeſtorben, ſo hätte das Haus Orleans, das den Ideen des neuen Jahrhunderts näher ſtand, kraft ſeines Erbrechts den Thron beſtiegen, und dann konnte viel- leicht ein nationales, von allen Parteien anerkanntes Königthum wieder Wurzeln ſchlagen und die zerriſſene Kette der Zeiten endlich ſchließen. Die Geburt dieſes Thronerben aber weckte auf’s Neue den alten Haß der demokratiſirten Geſellſchaft wider das königliche Haus und ſtachelte den lauernden Ehrgeiz der Orleans zu unheimlichen Plänen auf.
Für den Augenblick freilich waren die Ultras im Vortheil, und da in Frankreich Niemand gern lange in den Reihen einer ausſichtsloſen Minder- heit verharrt, ſo errangen die Parteien der Rechten bei den Neuwahlen einen großen Erfolg. Noch ehe das Jahr zu Ende ging ſah Richelieu ſich ge- nöthigt zwei Führer der Ultras, Villele und Corbiere in das Miniſterium aufzunehmen. Dies uneinige Cabinet behauptete ſich nur mühſam in dem Gewoge der parlamentariſchen Kämpfe. Während die deutſchen Zei- tungsleſer ſich bewunderungsvoll an der glänzenden Beredſamkeit der Pa- riſer Kammern weideten, war der franzöſiſche Staat durch die Gehäſ- ſigkeit ſeiner Parteien dermaßen geſchwächt, daß ſeine Stimme im Rathe der großen Mächte wenig mehr galt. —
Kaum minder bedenklich erſchien zur Stunde die Lage Englands. Die Erbſünde des britiſchen Parlamentarismus, die Vernachläſſigung der niederen Stände trug endlich ihre Früchte. Die hungernden Maſſen, denen der erſehnte Friede nur neues Elend gebracht, knirſchten in die Zügel, blutige Straßenkämpfe verkündeten das Nahen einer ernſten ſo- cialen Bewegung, und ſtatt die Gefahr durch die Herabſetzung der drücken- den Kornzölle und andere dringend nöthige wirthſchaftliche Reformen zu beſchwören griff das Tory-Cabinet mit rückſichtsloſer Härte durch. Faſt gleichzeitig mit den Karlsbader Beſchlüſſen erſchienen die ſechs Knebelbills gegen die Preſſe und die öffentlichen Verſammlungen. Während die Na- tion über dieſe letzte ſchwere Verletzung ihres Verfaſſungsrechts noch murrte, begann ſie auch ſchon wahrzunehmen, wie tief Englands Macht in der Staatengeſellſchaft geſunken war. Gedeckt durch den Silbenwall ihrer Meere war die engliſche Handelspolitik von Altersher gewohnt, die jedem Staate eingeborene Selbſtſucht mit einer cyniſchen Unbefangenheit, die
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 10
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Steigende Macht der Ultras.
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ihre üble Laune indem ſie verſtohlen die Echtheit des jungen Bourbonen
anzweifelten oder boshaft an die Stuarts erinnerten, denen das Schick-
ſal auch noch kurz vor ihrer Entthronung einen unerwarteten Stamm-
halter beſcheert hatte. In Wahrheit glaubte ganz Europa, daß ein un-
erhörtes Glück den franzöſiſchen Thron von Neuem befeſtigt habe. Erſt
die Zukunft ſollte lernen, wie wenig der befangene Blick der Mitleben-
den die Bedeutung der Ereigniſſe des Tages zu überſehen vermag. Jener
wunderbare Glücksfall war ein ſchweres Mißgeſchick für Frankreich und
die Sache der Monarchie. Wäre die alte Dynaſtie damals ausgeſtorben,
ſo hätte das Haus Orleans, das den Ideen des neuen Jahrhunderts näher
ſtand, kraft ſeines Erbrechts den Thron beſtiegen, und dann konnte viel-
leicht ein nationales, von allen Parteien anerkanntes Königthum wieder
Wurzeln ſchlagen und die zerriſſene Kette der Zeiten endlich ſchließen.
Die Geburt dieſes Thronerben aber weckte auf’s Neue den alten Haß
der demokratiſirten Geſellſchaft wider das königliche Haus und ſtachelte
den lauernden Ehrgeiz der Orleans zu unheimlichen Plänen auf.
Für den Augenblick freilich waren die Ultras im Vortheil, und da in
Frankreich Niemand gern lange in den Reihen einer ausſichtsloſen Minder-
heit verharrt, ſo errangen die Parteien der Rechten bei den Neuwahlen einen
großen Erfolg. Noch ehe das Jahr zu Ende ging ſah Richelieu ſich ge-
nöthigt zwei Führer der Ultras, Villele und Corbiere in das Miniſterium
aufzunehmen. Dies uneinige Cabinet behauptete ſich nur mühſam in
dem Gewoge der parlamentariſchen Kämpfe. Während die deutſchen Zei-
tungsleſer ſich bewunderungsvoll an der glänzenden Beredſamkeit der Pa-
riſer Kammern weideten, war der franzöſiſche Staat durch die Gehäſ-
ſigkeit ſeiner Parteien dermaßen geſchwächt, daß ſeine Stimme im Rathe
der großen Mächte wenig mehr galt. —
Kaum minder bedenklich erſchien zur Stunde die Lage Englands.
Die Erbſünde des britiſchen Parlamentarismus, die Vernachläſſigung der
niederen Stände trug endlich ihre Früchte. Die hungernden Maſſen,
denen der erſehnte Friede nur neues Elend gebracht, knirſchten in die
Zügel, blutige Straßenkämpfe verkündeten das Nahen einer ernſten ſo-
cialen Bewegung, und ſtatt die Gefahr durch die Herabſetzung der drücken-
den Kornzölle und andere dringend nöthige wirthſchaftliche Reformen zu
beſchwören griff das Tory-Cabinet mit rückſichtsloſer Härte durch. Faſt
gleichzeitig mit den Karlsbader Beſchlüſſen erſchienen die ſechs Knebelbills
gegen die Preſſe und die öffentlichen Verſammlungen. Während die Na-
tion über dieſe letzte ſchwere Verletzung ihres Verfaſſungsrechts noch murrte,
begann ſie auch ſchon wahrzunehmen, wie tief Englands Macht in der
Staatengeſellſchaft geſunken war. Gedeckt durch den Silbenwall ihrer
Meere war die engliſche Handelspolitik von Altersher gewohnt, die jedem
Staate eingeborene Selbſtſucht mit einer cyniſchen Unbefangenheit, die
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/161>, abgerufen am 22.07.2024.
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