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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Die Cortes-Verfassung von 1812.
nische Parteiname der Liberalen in alle Cultursprachen überging, so fan-
den sich auch überall in der Welt gläubige Bewunderer, welche in dem
heiligen Codex der Spanier das allgemeingiltige constitutionelle Vernunft-
recht entdeckten, obgleich keine andere Verfassung jener Zeit so unverkenn-
bar den Stempel eines ganz eigenartigen Ursprungs trug. Mitten im
Sturme des Krieges, ohne jede Mitwirkung des landflüchtigen Königs,
und doch beständig in Angst vor der Heimtücke des rückkehrenden Bour-
bonen, hatten einst die Cortes von Cadix im Namen des souveränen Volks
dies neue Grundgesetz berathen und Alles darin angesammelt was jenem
aufgeregten, unerfahrenen Geschlechte groß und ehrwürdig erschien: die
radikalen Sätze der neufranzösischen Doktrin und allerhand unklare Er-
innerungen aus den altständischen Fueros des spanischen Mittelalters.
Nur diese verwickelten, dem Ausländer kaum verständlichen Verhältnisse
erklärten das Räthsel, wie die königstreuen Spanier dahin gelangt waren
ihr altes Königthum so arg zu verstümmeln. Die Souveränität stand
den Cortes zu, die ohne Zuthun der Krone aller zwei Jahre neu ge-
wählt wurden und niemals aufgelöst werden konnten; vertagten sie sich,
so ließen sie einen Ausschuß zur Beaufsichtigung der Krone zurück; so-
bald sie einen Beschluß zum dritten male wiederholten, durfte der König
nicht mehr widersprechen, und sogar das Recht, unfähige oder unwürdige
Personen von der Thronfolge auszuschließen blieb den Cortes allein vor-
behalten. Die Vertreter des souveränen Volks besaßen in der That alle
Rechte eines Convents; ihre Allgewalt war nur beschränkt durch die naive
Vorschrift: "Das spanische Volk ist verpflichtet die Freiheit mittels weiser
und gerechter Gesetze zu erhalten und zu beschützen."

Daß Spanien unter einer solchen Verfassung, mit einem nichtswür-
digen König, einer fanatischen Clerisei und einem eidbrüchigen Heere, end-
losen Wirren entgegentrieb, konnte den Staatsmännern der großen Mächte
nicht entgehen. Besonders gefährlich erschien den Kabinetten die Macht der
zahlreichen geheimen Vereine, die bei dieser Revolution unverkennbar
mitgewirkt hatten. In seinen germanisch-protestantischen Heimathlanden
war der Freimaurerorden von seinen humanen Zwecken niemals abge-
wichen und stets ein freier Bund verbrüderter Vereine geblieben, weil er von
der Staatsgewalt geduldet, in Preußen und einigen der deutschen Klein-
staaten sogar begünstigt wurde. Die deutschen Logen standen allen poli-
tischen Parteikämpfen fern, obwohl sie natürlich einzelne Radikale zu ihren
Mitgliedern zählten und zuweilen wohl auch ein gewissenloser Abenteurer,
wie Wit v. Dörring, seine Kenntniß der maurerischen Symbole mißbrauchte
um Zutritt zu den Geheimbünden des Auslandes zu erlangen. In der
katholischen Welt dagegen war der Orden, seit Papst Clemens XII. ihn
verdammt hatte, oft von kirchlicher und politischer Verfolgung heimgesucht
und dadurch, seinem ursprünglichen Charakter zuwider, in die Reihen der
Opposition gedrängt worden. Die hierarchische, in Staat und Gesell-

Die Cortes-Verfaſſung von 1812.
niſche Parteiname der Liberalen in alle Culturſprachen überging, ſo fan-
den ſich auch überall in der Welt gläubige Bewunderer, welche in dem
heiligen Codex der Spanier das allgemeingiltige conſtitutionelle Vernunft-
recht entdeckten, obgleich keine andere Verfaſſung jener Zeit ſo unverkenn-
bar den Stempel eines ganz eigenartigen Urſprungs trug. Mitten im
Sturme des Krieges, ohne jede Mitwirkung des landflüchtigen Königs,
und doch beſtändig in Angſt vor der Heimtücke des rückkehrenden Bour-
bonen, hatten einſt die Cortes von Cadix im Namen des ſouveränen Volks
dies neue Grundgeſetz berathen und Alles darin angeſammelt was jenem
aufgeregten, unerfahrenen Geſchlechte groß und ehrwürdig erſchien: die
radikalen Sätze der neufranzöſiſchen Doktrin und allerhand unklare Er-
innerungen aus den altſtändiſchen Fueros des ſpaniſchen Mittelalters.
Nur dieſe verwickelten, dem Ausländer kaum verſtändlichen Verhältniſſe
erklärten das Räthſel, wie die königstreuen Spanier dahin gelangt waren
ihr altes Königthum ſo arg zu verſtümmeln. Die Souveränität ſtand
den Cortes zu, die ohne Zuthun der Krone aller zwei Jahre neu ge-
wählt wurden und niemals aufgelöſt werden konnten; vertagten ſie ſich,
ſo ließen ſie einen Ausſchuß zur Beaufſichtigung der Krone zurück; ſo-
bald ſie einen Beſchluß zum dritten male wiederholten, durfte der König
nicht mehr widerſprechen, und ſogar das Recht, unfähige oder unwürdige
Perſonen von der Thronfolge auszuſchließen blieb den Cortes allein vor-
behalten. Die Vertreter des ſouveränen Volks beſaßen in der That alle
Rechte eines Convents; ihre Allgewalt war nur beſchränkt durch die naive
Vorſchrift: „Das ſpaniſche Volk iſt verpflichtet die Freiheit mittels weiſer
und gerechter Geſetze zu erhalten und zu beſchützen.“

Daß Spanien unter einer ſolchen Verfaſſung, mit einem nichtswür-
digen König, einer fanatiſchen Cleriſei und einem eidbrüchigen Heere, end-
loſen Wirren entgegentrieb, konnte den Staatsmännern der großen Mächte
nicht entgehen. Beſonders gefährlich erſchien den Kabinetten die Macht der
zahlreichen geheimen Vereine, die bei dieſer Revolution unverkennbar
mitgewirkt hatten. In ſeinen germaniſch-proteſtantiſchen Heimathlanden
war der Freimaurerorden von ſeinen humanen Zwecken niemals abge-
wichen und ſtets ein freier Bund verbrüderter Vereine geblieben, weil er von
der Staatsgewalt geduldet, in Preußen und einigen der deutſchen Klein-
ſtaaten ſogar begünſtigt wurde. Die deutſchen Logen ſtanden allen poli-
tiſchen Parteikämpfen fern, obwohl ſie natürlich einzelne Radikale zu ihren
Mitgliedern zählten und zuweilen wohl auch ein gewiſſenloſer Abenteurer,
wie Wit v. Dörring, ſeine Kenntniß der maureriſchen Symbole mißbrauchte
um Zutritt zu den Geheimbünden des Auslandes zu erlangen. In der
katholiſchen Welt dagegen war der Orden, ſeit Papſt Clemens XII. ihn
verdammt hatte, oft von kirchlicher und politiſcher Verfolgung heimgeſucht
und dadurch, ſeinem urſprünglichen Charakter zuwider, in die Reihen der
Oppoſition gedrängt worden. Die hierarchiſche, in Staat und Geſell-

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[137/0153] Die Cortes-Verfaſſung von 1812. niſche Parteiname der Liberalen in alle Culturſprachen überging, ſo fan- den ſich auch überall in der Welt gläubige Bewunderer, welche in dem heiligen Codex der Spanier das allgemeingiltige conſtitutionelle Vernunft- recht entdeckten, obgleich keine andere Verfaſſung jener Zeit ſo unverkenn- bar den Stempel eines ganz eigenartigen Urſprungs trug. Mitten im Sturme des Krieges, ohne jede Mitwirkung des landflüchtigen Königs, und doch beſtändig in Angſt vor der Heimtücke des rückkehrenden Bour- bonen, hatten einſt die Cortes von Cadix im Namen des ſouveränen Volks dies neue Grundgeſetz berathen und Alles darin angeſammelt was jenem aufgeregten, unerfahrenen Geſchlechte groß und ehrwürdig erſchien: die radikalen Sätze der neufranzöſiſchen Doktrin und allerhand unklare Er- innerungen aus den altſtändiſchen Fueros des ſpaniſchen Mittelalters. Nur dieſe verwickelten, dem Ausländer kaum verſtändlichen Verhältniſſe erklärten das Räthſel, wie die königstreuen Spanier dahin gelangt waren ihr altes Königthum ſo arg zu verſtümmeln. Die Souveränität ſtand den Cortes zu, die ohne Zuthun der Krone aller zwei Jahre neu ge- wählt wurden und niemals aufgelöſt werden konnten; vertagten ſie ſich, ſo ließen ſie einen Ausſchuß zur Beaufſichtigung der Krone zurück; ſo- bald ſie einen Beſchluß zum dritten male wiederholten, durfte der König nicht mehr widerſprechen, und ſogar das Recht, unfähige oder unwürdige Perſonen von der Thronfolge auszuſchließen blieb den Cortes allein vor- behalten. Die Vertreter des ſouveränen Volks beſaßen in der That alle Rechte eines Convents; ihre Allgewalt war nur beſchränkt durch die naive Vorſchrift: „Das ſpaniſche Volk iſt verpflichtet die Freiheit mittels weiſer und gerechter Geſetze zu erhalten und zu beſchützen.“ Daß Spanien unter einer ſolchen Verfaſſung, mit einem nichtswür- digen König, einer fanatiſchen Cleriſei und einem eidbrüchigen Heere, end- loſen Wirren entgegentrieb, konnte den Staatsmännern der großen Mächte nicht entgehen. Beſonders gefährlich erſchien den Kabinetten die Macht der zahlreichen geheimen Vereine, die bei dieſer Revolution unverkennbar mitgewirkt hatten. In ſeinen germaniſch-proteſtantiſchen Heimathlanden war der Freimaurerorden von ſeinen humanen Zwecken niemals abge- wichen und ſtets ein freier Bund verbrüderter Vereine geblieben, weil er von der Staatsgewalt geduldet, in Preußen und einigen der deutſchen Klein- ſtaaten ſogar begünſtigt wurde. Die deutſchen Logen ſtanden allen poli- tiſchen Parteikämpfen fern, obwohl ſie natürlich einzelne Radikale zu ihren Mitgliedern zählten und zuweilen wohl auch ein gewiſſenloſer Abenteurer, wie Wit v. Dörring, ſeine Kenntniß der maureriſchen Symbole mißbrauchte um Zutritt zu den Geheimbünden des Auslandes zu erlangen. In der katholiſchen Welt dagegen war der Orden, ſeit Papſt Clemens XII. ihn verdammt hatte, oft von kirchlicher und politiſcher Verfolgung heimgeſucht und dadurch, ſeinem urſprünglichen Charakter zuwider, in die Reihen der Oppoſition gedrängt worden. Die hierarchiſche, in Staat und Geſell-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/153>, abgerufen am 27.11.2024.