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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
Zwar der ehrliche Oken bewahrte sich inmitten dieser Saturnalien immer
noch die Freude am Beobachten und Vergleichen und bereicherte die Wis-
senschaft durch gründliche Untersuchungen über die Entwicklungsgeschichte
der Säugethiere; doch manches schöne Talent ging in dem phantastischen
Spiele völlig unter. Wie viele gute Kraft mußte der junge Justus Liebig
verschwenden, bis er des romantischen Hochmuths endlich Herr ward und
sich entschloß, schlichtweg als ein Unwissender an die wirkliche Welt heran-
zutreten.

Die Naturphilosophie sah in der Natur den unbewußten Geist, in
den Naturkräften die Organe dunkler Willensmächte und suchte daher
überall nachzuweisen, wie bewußtes und unbewußtes Leben in einander
spielen. Hier, auf dem räthselreichen Grenzgebiete der Naturwissenschaft,
berührte sie sich mit der religiösen Schwärmerei der Zeit und mit den Ge-
heimlehren jener Zauberer und Schwindler, die seit Swedenborgs Tagen
das ganze alte Jahrhundert hindurch an den Höfen ihr Wesen getrieben
hatten. Bis zum Jahre 1815 lebte noch in der Schweiz der alte Mes-
mer, der Wundermann, dessen Lehren einst Lavater in den Kreisen der
Erweckten verbreitet hatte; der kannte die geheime Naturkraft der mag-
netischen Allfluth, das eigentliche Lebensprincip, das alle Krankheiten heilen,
ja selbst verhüten sollte. Dies halbverschollene "Evangelium der Natur"
brachte der Berliner Wohlfart jetzt wieder in Umlauf. Ueberall tauchten
schlafwandelnde Frauen und magnetische Heilkünstler auf; überall in den
eleganten Salons bildeten verzückte Herren und Damen die magnetische
Kette. Hufeland und mehrere andere bedeutende Aerzte befreundeten sich
mit der neuen Offenbarung; jedoch die Mode des Tages stürmte blind-
lings über diese Gemäßigten hinweg.

Das Körnlein Wahrheit, das in den Doctrinen des Magnetismns
lag, verschwand bald in dem trüben Schlamme des gemeinen Aberglau-
bens. Ein krankhafter Drang nach dem Unerforschlichen bethörte die
Wissenschaft bevor sie noch in der erforschbaren Welt recht heimisch ge-
worden; phantastische Bücher erzählten von dem Geheimniß der "Lebens-
kraft", die man sich als eine besondere Substanz vorstellte. Auch Galls
Schädellehre gewann wieder zahlreiche Gläubige, zumal seit der höfische
Naturphilosoph Carus sie der vornehmen Welt mundgerecht zu machen
wußte. General Müffling ließ den jungen Offizieren, wenn sie in die
Berliner Kriegsschule eintraten, regelmäßig durch einen Phrenologen die
Köpfe betasten, um die Talente herauszufinden; und stand ein Porträt-
maler auf der Höhe der Zeit, so schmückte er seine Gestalten mit unna-
türlich hohen Stirnen, den Kennzeichen der Genialität. Dem alten Goethe
sendete einst ein englischer Verehrer eine Büste, die einem Wasserkopfe sehr
ähnlich sah; sie stellte den Dichter selber vor, der Bildhauer hatte nach den
Grundsätzen der Schädellehre a priori erkannt, wie der Fürst der Dichtung
unfehlbar aussehen mußte. Männer aller Parteien versanken in dies

II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
Zwar der ehrliche Oken bewahrte ſich inmitten dieſer Saturnalien immer
noch die Freude am Beobachten und Vergleichen und bereicherte die Wiſ-
ſenſchaft durch gründliche Unterſuchungen über die Entwicklungsgeſchichte
der Säugethiere; doch manches ſchöne Talent ging in dem phantaſtiſchen
Spiele völlig unter. Wie viele gute Kraft mußte der junge Juſtus Liebig
verſchwenden, bis er des romantiſchen Hochmuths endlich Herr ward und
ſich entſchloß, ſchlichtweg als ein Unwiſſender an die wirkliche Welt heran-
zutreten.

Die Naturphiloſophie ſah in der Natur den unbewußten Geiſt, in
den Naturkräften die Organe dunkler Willensmächte und ſuchte daher
überall nachzuweiſen, wie bewußtes und unbewußtes Leben in einander
ſpielen. Hier, auf dem räthſelreichen Grenzgebiete der Naturwiſſenſchaft,
berührte ſie ſich mit der religiöſen Schwärmerei der Zeit und mit den Ge-
heimlehren jener Zauberer und Schwindler, die ſeit Swedenborgs Tagen
das ganze alte Jahrhundert hindurch an den Höfen ihr Weſen getrieben
hatten. Bis zum Jahre 1815 lebte noch in der Schweiz der alte Mes-
mer, der Wundermann, deſſen Lehren einſt Lavater in den Kreiſen der
Erweckten verbreitet hatte; der kannte die geheime Naturkraft der mag-
netiſchen Allfluth, das eigentliche Lebensprincip, das alle Krankheiten heilen,
ja ſelbſt verhüten ſollte. Dies halbverſchollene „Evangelium der Natur“
brachte der Berliner Wohlfart jetzt wieder in Umlauf. Ueberall tauchten
ſchlafwandelnde Frauen und magnetiſche Heilkünſtler auf; überall in den
eleganten Salons bildeten verzückte Herren und Damen die magnetiſche
Kette. Hufeland und mehrere andere bedeutende Aerzte befreundeten ſich
mit der neuen Offenbarung; jedoch die Mode des Tages ſtürmte blind-
lings über dieſe Gemäßigten hinweg.

Das Körnlein Wahrheit, das in den Doctrinen des Magnetismns
lag, verſchwand bald in dem trüben Schlamme des gemeinen Aberglau-
bens. Ein krankhafter Drang nach dem Unerforſchlichen bethörte die
Wiſſenſchaft bevor ſie noch in der erforſchbaren Welt recht heimiſch ge-
worden; phantaſtiſche Bücher erzählten von dem Geheimniß der „Lebens-
kraft“, die man ſich als eine beſondere Subſtanz vorſtellte. Auch Galls
Schädellehre gewann wieder zahlreiche Gläubige, zumal ſeit der höfiſche
Naturphiloſoph Carus ſie der vornehmen Welt mundgerecht zu machen
wußte. General Müffling ließ den jungen Offizieren, wenn ſie in die
Berliner Kriegsſchule eintraten, regelmäßig durch einen Phrenologen die
Köpfe betaſten, um die Talente herauszufinden; und ſtand ein Porträt-
maler auf der Höhe der Zeit, ſo ſchmückte er ſeine Geſtalten mit unna-
türlich hohen Stirnen, den Kennzeichen der Genialität. Dem alten Goethe
ſendete einſt ein engliſcher Verehrer eine Büſte, die einem Waſſerkopfe ſehr
ähnlich ſah; ſie ſtellte den Dichter ſelber vor, der Bildhauer hatte nach den
Grundſätzen der Schädellehre a priori erkannt, wie der Fürſt der Dichtung
unfehlbar ausſehen mußte. Männer aller Parteien verſanken in dies

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[78/0092] II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre. Zwar der ehrliche Oken bewahrte ſich inmitten dieſer Saturnalien immer noch die Freude am Beobachten und Vergleichen und bereicherte die Wiſ- ſenſchaft durch gründliche Unterſuchungen über die Entwicklungsgeſchichte der Säugethiere; doch manches ſchöne Talent ging in dem phantaſtiſchen Spiele völlig unter. Wie viele gute Kraft mußte der junge Juſtus Liebig verſchwenden, bis er des romantiſchen Hochmuths endlich Herr ward und ſich entſchloß, ſchlichtweg als ein Unwiſſender an die wirkliche Welt heran- zutreten. Die Naturphiloſophie ſah in der Natur den unbewußten Geiſt, in den Naturkräften die Organe dunkler Willensmächte und ſuchte daher überall nachzuweiſen, wie bewußtes und unbewußtes Leben in einander ſpielen. Hier, auf dem räthſelreichen Grenzgebiete der Naturwiſſenſchaft, berührte ſie ſich mit der religiöſen Schwärmerei der Zeit und mit den Ge- heimlehren jener Zauberer und Schwindler, die ſeit Swedenborgs Tagen das ganze alte Jahrhundert hindurch an den Höfen ihr Weſen getrieben hatten. Bis zum Jahre 1815 lebte noch in der Schweiz der alte Mes- mer, der Wundermann, deſſen Lehren einſt Lavater in den Kreiſen der Erweckten verbreitet hatte; der kannte die geheime Naturkraft der mag- netiſchen Allfluth, das eigentliche Lebensprincip, das alle Krankheiten heilen, ja ſelbſt verhüten ſollte. Dies halbverſchollene „Evangelium der Natur“ brachte der Berliner Wohlfart jetzt wieder in Umlauf. Ueberall tauchten ſchlafwandelnde Frauen und magnetiſche Heilkünſtler auf; überall in den eleganten Salons bildeten verzückte Herren und Damen die magnetiſche Kette. Hufeland und mehrere andere bedeutende Aerzte befreundeten ſich mit der neuen Offenbarung; jedoch die Mode des Tages ſtürmte blind- lings über dieſe Gemäßigten hinweg. Das Körnlein Wahrheit, das in den Doctrinen des Magnetismns lag, verſchwand bald in dem trüben Schlamme des gemeinen Aberglau- bens. Ein krankhafter Drang nach dem Unerforſchlichen bethörte die Wiſſenſchaft bevor ſie noch in der erforſchbaren Welt recht heimiſch ge- worden; phantaſtiſche Bücher erzählten von dem Geheimniß der „Lebens- kraft“, die man ſich als eine beſondere Subſtanz vorſtellte. Auch Galls Schädellehre gewann wieder zahlreiche Gläubige, zumal ſeit der höfiſche Naturphiloſoph Carus ſie der vornehmen Welt mundgerecht zu machen wußte. General Müffling ließ den jungen Offizieren, wenn ſie in die Berliner Kriegsſchule eintraten, regelmäßig durch einen Phrenologen die Köpfe betaſten, um die Talente herauszufinden; und ſtand ein Porträt- maler auf der Höhe der Zeit, ſo ſchmückte er ſeine Geſtalten mit unna- türlich hohen Stirnen, den Kennzeichen der Genialität. Dem alten Goethe ſendete einſt ein engliſcher Verehrer eine Büſte, die einem Waſſerkopfe ſehr ähnlich ſah; ſie ſtellte den Dichter ſelber vor, der Bildhauer hatte nach den Grundſätzen der Schädellehre a priori erkannt, wie der Fürſt der Dichtung unfehlbar ausſehen mußte. Männer aller Parteien verſanken in dies

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/92>, abgerufen am 27.04.2024.