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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Karl Ritter.
Als Adalbert v. Chamisso in jenen Tagen von seiner Weltumseglung heim-
kehrte und beim Anblick des Swinemünder Leuchtthurms im tiefsten Herzen
erschüttert fühlte, er sei ein Deutscher geworden und hier grüße ihn die
liebe Heimath, da wehte die russische, nicht die preußische Flagge über
seinem Haupte. Und doch war es ein Sohn dieses Binnenvolkes, der
jetzt die Erdkunde in ihren Grundlagen neu gestaltete; einen erstaunlicheren
Erfolg hat der deutsche Idealismus selten errungen. --

So weit Deutschlands historische Wissenschaften den Nachbarvölkern
vorauseilten, ebenso tief blieb der allgemeine Stand unserer Naturfor-
schung hinter den Leistungen der Franzosen und Engländer zurück. Paris
galt noch lange mit Recht als die Heimath der exakten Wissenschaften.
Einzelne große Köpfe wurden freilich durch die reiche poetisch-philosophische
Bildung der letzten Generation in den Stand gesetzt, geradeswegs die
höchsten Ziele der Naturforschung in's Auge zu fassen, die Natur als
Einheit, als Kosmos zu begreifen; hatte doch Goethe in seiner Metamor-
phose der Pflanzen durch die That bewiesen, daß die Idee die Erschei-
nungen der Natur ganz und gar durchdringen und verklären kann ohne
sie willkürlich zu entstellen. Alexander Humboldt gestand immer dankbar,
durch Goethe sei er erst mit neuen Organen für das Verständniß der
Natur ausgestattet worden; nur weil er einst aus dem Quell, der in
Jena und Weimar floß, mit vollen Zügen getrunken hatte, konnte er sich
die staunenswerthe Vielseitigkeit seiner Naturkenntniß erwerben. Auch
Ritter wäre ohne die Naturphilosophie niemals auf den Gedanken ge-
rathen, in seiner Erdkunde alle Zweige der historischen und der exakten
Forschung zu gemeinsamem Schaffen zu vereinigen. Der Masse der Min-
derbegabten aber gereichte die Kühnheit der Philosophie zum Verderben.

Nicht umsonst hatte Schelling den übermüthigen Ausspruch gethan:
seit man die Idee des Lichtes kenne, sei Newtons blos empirische Far-
benlehre überwunden. Nicht umsonst hatte der fahrige Hendrik Steffens,
noch dreister, gefordert, die Naturforschung müsse sich steigern zur Spe-
culation und in allem Sinnlichen schlechterdings nur noch das Geistige
erkennen. Jeder junge Fant, dem eine neue Idee im Kopfe gährte, meinte
sich nun berechtigt, die Welt der Erscheinungen nach einem vorgefaßten
Plane zurechtzurücken; Lorenz Oken stand im vierten Semester des medi-
cinischen Studiums, als er schon den Grundriß seines Systems der Na-
turphilosophie veröffentlichte. Man verlor die Ehrfurcht vor dem Wirk-
lichen, der Chemiker mochte sich die Hände nicht beschmutzen, der Physiker
verschmähte die Ergebnisse seiner "Apperception" durch Experimente zu
prüfen. Verworrene Bilder verdrängten die klaren Begriffe. Im Tone
des Propheten sprach Schelling von den beiden Principien der Finsterniß
und des Lichtes, deren Angel das Feuer sei. Der Diamant war der
zum Bewußtsein gekommene Kiesel, die Wälder die Haare des Erdthiers,
und am Aequator zeigte sich die angeschwollene Bauchseite der Natur.

Karl Ritter.
Als Adalbert v. Chamiſſo in jenen Tagen von ſeiner Weltumſeglung heim-
kehrte und beim Anblick des Swinemünder Leuchtthurms im tiefſten Herzen
erſchüttert fühlte, er ſei ein Deutſcher geworden und hier grüße ihn die
liebe Heimath, da wehte die ruſſiſche, nicht die preußiſche Flagge über
ſeinem Haupte. Und doch war es ein Sohn dieſes Binnenvolkes, der
jetzt die Erdkunde in ihren Grundlagen neu geſtaltete; einen erſtaunlicheren
Erfolg hat der deutſche Idealismus ſelten errungen. —

So weit Deutſchlands hiſtoriſche Wiſſenſchaften den Nachbarvölkern
vorauseilten, ebenſo tief blieb der allgemeine Stand unſerer Naturfor-
ſchung hinter den Leiſtungen der Franzoſen und Engländer zurück. Paris
galt noch lange mit Recht als die Heimath der exakten Wiſſenſchaften.
Einzelne große Köpfe wurden freilich durch die reiche poetiſch-philoſophiſche
Bildung der letzten Generation in den Stand geſetzt, geradeswegs die
höchſten Ziele der Naturforſchung in’s Auge zu faſſen, die Natur als
Einheit, als Kosmos zu begreifen; hatte doch Goethe in ſeiner Metamor-
phoſe der Pflanzen durch die That bewieſen, daß die Idee die Erſchei-
nungen der Natur ganz und gar durchdringen und verklären kann ohne
ſie willkürlich zu entſtellen. Alexander Humboldt geſtand immer dankbar,
durch Goethe ſei er erſt mit neuen Organen für das Verſtändniß der
Natur ausgeſtattet worden; nur weil er einſt aus dem Quell, der in
Jena und Weimar floß, mit vollen Zügen getrunken hatte, konnte er ſich
die ſtaunenswerthe Vielſeitigkeit ſeiner Naturkenntniß erwerben. Auch
Ritter wäre ohne die Naturphiloſophie niemals auf den Gedanken ge-
rathen, in ſeiner Erdkunde alle Zweige der hiſtoriſchen und der exakten
Forſchung zu gemeinſamem Schaffen zu vereinigen. Der Maſſe der Min-
derbegabten aber gereichte die Kühnheit der Philoſophie zum Verderben.

Nicht umſonſt hatte Schelling den übermüthigen Ausſpruch gethan:
ſeit man die Idee des Lichtes kenne, ſei Newtons blos empiriſche Far-
benlehre überwunden. Nicht umſonſt hatte der fahrige Hendrik Steffens,
noch dreiſter, gefordert, die Naturforſchung müſſe ſich ſteigern zur Spe-
culation und in allem Sinnlichen ſchlechterdings nur noch das Geiſtige
erkennen. Jeder junge Fant, dem eine neue Idee im Kopfe gährte, meinte
ſich nun berechtigt, die Welt der Erſcheinungen nach einem vorgefaßten
Plane zurechtzurücken; Lorenz Oken ſtand im vierten Semeſter des medi-
ciniſchen Studiums, als er ſchon den Grundriß ſeines Syſtems der Na-
turphiloſophie veröffentlichte. Man verlor die Ehrfurcht vor dem Wirk-
lichen, der Chemiker mochte ſich die Hände nicht beſchmutzen, der Phyſiker
verſchmähte die Ergebniſſe ſeiner „Apperception“ durch Experimente zu
prüfen. Verworrene Bilder verdrängten die klaren Begriffe. Im Tone
des Propheten ſprach Schelling von den beiden Principien der Finſterniß
und des Lichtes, deren Angel das Feuer ſei. Der Diamant war der
zum Bewußtſein gekommene Kieſel, die Wälder die Haare des Erdthiers,
und am Aequator zeigte ſich die angeſchwollene Bauchſeite der Natur.

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[77/0091] Karl Ritter. Als Adalbert v. Chamiſſo in jenen Tagen von ſeiner Weltumſeglung heim- kehrte und beim Anblick des Swinemünder Leuchtthurms im tiefſten Herzen erſchüttert fühlte, er ſei ein Deutſcher geworden und hier grüße ihn die liebe Heimath, da wehte die ruſſiſche, nicht die preußiſche Flagge über ſeinem Haupte. Und doch war es ein Sohn dieſes Binnenvolkes, der jetzt die Erdkunde in ihren Grundlagen neu geſtaltete; einen erſtaunlicheren Erfolg hat der deutſche Idealismus ſelten errungen. — So weit Deutſchlands hiſtoriſche Wiſſenſchaften den Nachbarvölkern vorauseilten, ebenſo tief blieb der allgemeine Stand unſerer Naturfor- ſchung hinter den Leiſtungen der Franzoſen und Engländer zurück. Paris galt noch lange mit Recht als die Heimath der exakten Wiſſenſchaften. Einzelne große Köpfe wurden freilich durch die reiche poetiſch-philoſophiſche Bildung der letzten Generation in den Stand geſetzt, geradeswegs die höchſten Ziele der Naturforſchung in’s Auge zu faſſen, die Natur als Einheit, als Kosmos zu begreifen; hatte doch Goethe in ſeiner Metamor- phoſe der Pflanzen durch die That bewieſen, daß die Idee die Erſchei- nungen der Natur ganz und gar durchdringen und verklären kann ohne ſie willkürlich zu entſtellen. Alexander Humboldt geſtand immer dankbar, durch Goethe ſei er erſt mit neuen Organen für das Verſtändniß der Natur ausgeſtattet worden; nur weil er einſt aus dem Quell, der in Jena und Weimar floß, mit vollen Zügen getrunken hatte, konnte er ſich die ſtaunenswerthe Vielſeitigkeit ſeiner Naturkenntniß erwerben. Auch Ritter wäre ohne die Naturphiloſophie niemals auf den Gedanken ge- rathen, in ſeiner Erdkunde alle Zweige der hiſtoriſchen und der exakten Forſchung zu gemeinſamem Schaffen zu vereinigen. Der Maſſe der Min- derbegabten aber gereichte die Kühnheit der Philoſophie zum Verderben. Nicht umſonſt hatte Schelling den übermüthigen Ausſpruch gethan: ſeit man die Idee des Lichtes kenne, ſei Newtons blos empiriſche Far- benlehre überwunden. Nicht umſonſt hatte der fahrige Hendrik Steffens, noch dreiſter, gefordert, die Naturforſchung müſſe ſich ſteigern zur Spe- culation und in allem Sinnlichen ſchlechterdings nur noch das Geiſtige erkennen. Jeder junge Fant, dem eine neue Idee im Kopfe gährte, meinte ſich nun berechtigt, die Welt der Erſcheinungen nach einem vorgefaßten Plane zurechtzurücken; Lorenz Oken ſtand im vierten Semeſter des medi- ciniſchen Studiums, als er ſchon den Grundriß ſeines Syſtems der Na- turphiloſophie veröffentlichte. Man verlor die Ehrfurcht vor dem Wirk- lichen, der Chemiker mochte ſich die Hände nicht beſchmutzen, der Phyſiker verſchmähte die Ergebniſſe ſeiner „Apperception“ durch Experimente zu prüfen. Verworrene Bilder verdrängten die klaren Begriffe. Im Tone des Propheten ſprach Schelling von den beiden Principien der Finſterniß und des Lichtes, deren Angel das Feuer ſei. Der Diamant war der zum Bewußtſein gekommene Kieſel, die Wälder die Haare des Erdthiers, und am Aequator zeigte ſich die angeſchwollene Bauchſeite der Natur.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/91>, abgerufen am 28.04.2024.