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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
liebte nach Dichterart sich zuweilen sehnsuchtsvoll in selige Träume zu ver-
lieren; durch seine weichere Feder erhielten auch die Hausmärchen ihre
liebliche Form. Zwei gleichberechtigte Richtungen der Wissenschaft ver-
körperten sich in den beiden Brüdern. Des Aelteren Spruch hieß: "besser
gelernt als gelehrt," er achtete nur das Lernen und Forschen als schöpfe-
rische Thätigkeit; der Jüngere verschmähte nicht, als Lehrer für das nähere
Bedürfniß der Wissensdurstigen zu sorgen. Die Beiden verdankten ihrer
Märchensammlung die Liebe des Volks, die dem strengen Forscher fast
niemals zu theil wird. Ueberall im Lande wußte man gemüthliche kleine Ge-
schichten von dem Brüderpaare, das nur mit der Wünschelruthe in den
Boden zu schlagen brauchte um den reichen Hort der alten Sagen an
den Tag zu bringen. Man erzählte von der tiefen stillen Herzenstreue
ihrer Lebensgemeinschaft: wie sie selbander so fromm und heiter durchs
Leben schritten und trotz der glühenden Liebe zum großen Vaterlande doch
von der traulichen hessischen Heimath, von den rothen Bergen des Fulda-
thales sich nimmermehr trennen wollten; Beide so kindlich anspruchslos
und doch so streng gegen die Modegötzen des Tages, so sicher im Urtheil
über alles Hohle, Gemachte, Unwahre; wie ihre Arbeitstische im näm-
lichen Zimmer standen, und wie sie jeden neuen Fund mit harmloser
Freude einander mittheilten. Kein Kinderräthsel, kein Basengeschwätz und
kein Ammenlied war ihnen zu gering, Alles gewann Leben vor ihren Augen
was aus dem Heiligthum der deutschen Sprache stammte, beim Anblick
eines alten Bruchstücks konnte Jakob das Mitleid nicht verwinden. Und
neben der schweren Arbeit brach auch der herzliche Verkehr mit guten
Menschen niemals ab; nie beirrte ein Gegensatz der Meinungen die Beiden
in der Treue ihrer Freundschaft; wie anmuthig wußte Wilhelm in seinen
Briefen an die strengkatholischen Haxthausens zu plaudern, und zuweilen
fiel auch Jakob mit seinen tieferen Tönen ein. Es war ein rührendes
Bild einfältiger Größe, das auch den Rohen etwas ahnen ließ von der
sittlichen Macht der lebendigen Wissenschaft.

Jakob Grimm schätzte die Worte nur um der Sachen willen; sein
Wirken fand eine glückliche Ergänzung in den Arbeiten des Braunschwei-
gers Karl Lachmann, des classisch geschulten, gestrengen Vertreters der
formalen Philologie, der die Sachen um der Worte willen trieb und die
noch unstet schweifende junge Wissenschaft in die harte Zucht der Methode
nahm. Gleich heimisch in den alten wie in den germanischen Sprachen
wurde er der Begründer der altdeutschen Textkritik und Metrik, ein Her-
ausgeber von unübertroffener Schärfe und Sicherheit. Was einst F. A. Wolf
über die Entstehung der homerischen Gedichte gelehrt, wendete Lachmann
auf das deutsche Epos an und versuchte, nicht ohne Gewaltsamkeit, das
Nibelungenlied in eine Reihenfolge selbständiger Lieder aufzulösen. Seit
August Zeune den Freiwilligen von 1815 seine "Zelt- und Feldausgabe
der Nibelungen" mitgegeben hatte, begann die spielende Beschäftigung mit

II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
liebte nach Dichterart ſich zuweilen ſehnſuchtsvoll in ſelige Träume zu ver-
lieren; durch ſeine weichere Feder erhielten auch die Hausmärchen ihre
liebliche Form. Zwei gleichberechtigte Richtungen der Wiſſenſchaft ver-
körperten ſich in den beiden Brüdern. Des Aelteren Spruch hieß: „beſſer
gelernt als gelehrt,“ er achtete nur das Lernen und Forſchen als ſchöpfe-
riſche Thätigkeit; der Jüngere verſchmähte nicht, als Lehrer für das nähere
Bedürfniß der Wiſſensdurſtigen zu ſorgen. Die Beiden verdankten ihrer
Märchenſammlung die Liebe des Volks, die dem ſtrengen Forſcher faſt
niemals zu theil wird. Ueberall im Lande wußte man gemüthliche kleine Ge-
ſchichten von dem Brüderpaare, das nur mit der Wünſchelruthe in den
Boden zu ſchlagen brauchte um den reichen Hort der alten Sagen an
den Tag zu bringen. Man erzählte von der tiefen ſtillen Herzenstreue
ihrer Lebensgemeinſchaft: wie ſie ſelbander ſo fromm und heiter durchs
Leben ſchritten und trotz der glühenden Liebe zum großen Vaterlande doch
von der traulichen heſſiſchen Heimath, von den rothen Bergen des Fulda-
thales ſich nimmermehr trennen wollten; Beide ſo kindlich anſpruchslos
und doch ſo ſtreng gegen die Modegötzen des Tages, ſo ſicher im Urtheil
über alles Hohle, Gemachte, Unwahre; wie ihre Arbeitstiſche im näm-
lichen Zimmer ſtanden, und wie ſie jeden neuen Fund mit harmloſer
Freude einander mittheilten. Kein Kinderräthſel, kein Baſengeſchwätz und
kein Ammenlied war ihnen zu gering, Alles gewann Leben vor ihren Augen
was aus dem Heiligthum der deutſchen Sprache ſtammte, beim Anblick
eines alten Bruchſtücks konnte Jakob das Mitleid nicht verwinden. Und
neben der ſchweren Arbeit brach auch der herzliche Verkehr mit guten
Menſchen niemals ab; nie beirrte ein Gegenſatz der Meinungen die Beiden
in der Treue ihrer Freundſchaft; wie anmuthig wußte Wilhelm in ſeinen
Briefen an die ſtrengkatholiſchen Haxthauſens zu plaudern, und zuweilen
fiel auch Jakob mit ſeinen tieferen Tönen ein. Es war ein rührendes
Bild einfältiger Größe, das auch den Rohen etwas ahnen ließ von der
ſittlichen Macht der lebendigen Wiſſenſchaft.

Jakob Grimm ſchätzte die Worte nur um der Sachen willen; ſein
Wirken fand eine glückliche Ergänzung in den Arbeiten des Braunſchwei-
gers Karl Lachmann, des claſſiſch geſchulten, geſtrengen Vertreters der
formalen Philologie, der die Sachen um der Worte willen trieb und die
noch unſtet ſchweifende junge Wiſſenſchaft in die harte Zucht der Methode
nahm. Gleich heimiſch in den alten wie in den germaniſchen Sprachen
wurde er der Begründer der altdeutſchen Textkritik und Metrik, ein Her-
ausgeber von unübertroffener Schärfe und Sicherheit. Was einſt F. A. Wolf
über die Entſtehung der homeriſchen Gedichte gelehrt, wendete Lachmann
auf das deutſche Epos an und verſuchte, nicht ohne Gewaltſamkeit, das
Nibelungenlied in eine Reihenfolge ſelbſtändiger Lieder aufzulöſen. Seit
Auguſt Zeune den Freiwilligen von 1815 ſeine „Zelt- und Feldausgabe
der Nibelungen“ mitgegeben hatte, begann die ſpielende Beſchäftigung mit

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[70/0084] II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre. liebte nach Dichterart ſich zuweilen ſehnſuchtsvoll in ſelige Träume zu ver- lieren; durch ſeine weichere Feder erhielten auch die Hausmärchen ihre liebliche Form. Zwei gleichberechtigte Richtungen der Wiſſenſchaft ver- körperten ſich in den beiden Brüdern. Des Aelteren Spruch hieß: „beſſer gelernt als gelehrt,“ er achtete nur das Lernen und Forſchen als ſchöpfe- riſche Thätigkeit; der Jüngere verſchmähte nicht, als Lehrer für das nähere Bedürfniß der Wiſſensdurſtigen zu ſorgen. Die Beiden verdankten ihrer Märchenſammlung die Liebe des Volks, die dem ſtrengen Forſcher faſt niemals zu theil wird. Ueberall im Lande wußte man gemüthliche kleine Ge- ſchichten von dem Brüderpaare, das nur mit der Wünſchelruthe in den Boden zu ſchlagen brauchte um den reichen Hort der alten Sagen an den Tag zu bringen. Man erzählte von der tiefen ſtillen Herzenstreue ihrer Lebensgemeinſchaft: wie ſie ſelbander ſo fromm und heiter durchs Leben ſchritten und trotz der glühenden Liebe zum großen Vaterlande doch von der traulichen heſſiſchen Heimath, von den rothen Bergen des Fulda- thales ſich nimmermehr trennen wollten; Beide ſo kindlich anſpruchslos und doch ſo ſtreng gegen die Modegötzen des Tages, ſo ſicher im Urtheil über alles Hohle, Gemachte, Unwahre; wie ihre Arbeitstiſche im näm- lichen Zimmer ſtanden, und wie ſie jeden neuen Fund mit harmloſer Freude einander mittheilten. Kein Kinderräthſel, kein Baſengeſchwätz und kein Ammenlied war ihnen zu gering, Alles gewann Leben vor ihren Augen was aus dem Heiligthum der deutſchen Sprache ſtammte, beim Anblick eines alten Bruchſtücks konnte Jakob das Mitleid nicht verwinden. Und neben der ſchweren Arbeit brach auch der herzliche Verkehr mit guten Menſchen niemals ab; nie beirrte ein Gegenſatz der Meinungen die Beiden in der Treue ihrer Freundſchaft; wie anmuthig wußte Wilhelm in ſeinen Briefen an die ſtrengkatholiſchen Haxthauſens zu plaudern, und zuweilen fiel auch Jakob mit ſeinen tieferen Tönen ein. Es war ein rührendes Bild einfältiger Größe, das auch den Rohen etwas ahnen ließ von der ſittlichen Macht der lebendigen Wiſſenſchaft. Jakob Grimm ſchätzte die Worte nur um der Sachen willen; ſein Wirken fand eine glückliche Ergänzung in den Arbeiten des Braunſchwei- gers Karl Lachmann, des claſſiſch geſchulten, geſtrengen Vertreters der formalen Philologie, der die Sachen um der Worte willen trieb und die noch unſtet ſchweifende junge Wiſſenſchaft in die harte Zucht der Methode nahm. Gleich heimiſch in den alten wie in den germaniſchen Sprachen wurde er der Begründer der altdeutſchen Textkritik und Metrik, ein Her- ausgeber von unübertroffener Schärfe und Sicherheit. Was einſt F. A. Wolf über die Entſtehung der homeriſchen Gedichte gelehrt, wendete Lachmann auf das deutſche Epos an und verſuchte, nicht ohne Gewaltſamkeit, das Nibelungenlied in eine Reihenfolge ſelbſtändiger Lieder aufzulöſen. Seit Auguſt Zeune den Freiwilligen von 1815 ſeine „Zelt- und Feldausgabe der Nibelungen“ mitgegeben hatte, begann die ſpielende Beſchäftigung mit

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/84>, abgerufen am 27.11.2024.