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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Die Gebrüder Grimm.
standtheilen des Wortschatzes. So kam alsbald Gesetz und Leben in den
Werdegang unserer Sprache, der bisher so räthselhaft und zufällig schien.
In dem unschuldigen, poetischen, leiblich frischen Jugendleben der Völker
-- so führte Grimm mit künstlerischer Lebendigkeit aus -- zeigt auch die
Sprache sinnliche Kraft und Anschaulichkeit, sie liebt die Form um der
Form willen, schwelgt in dem Wohlklang volltönender Flexionen; bei rei-
fender Cultur wird auch sie geistiger, abstrakter, auf Klarheit und Kürze
bedacht, das stumpfere Ohr verliert die Freude an der Form, der nüch-
terne Verstand kümmert sich nicht mehr um die sinnlichen Bilder, welche
den Wörtern zu Grunde liegen, und nach und nach wird Alles ausge-
stoßen oder abgeschliffen was nicht unmittelbar zur Verdeutlichung des
Sinnes dient. Begreiflich genug, daß Grimms poetisches Gemüth der
formenreichen alten Sprache durchaus den Vorzug gab, wie auch seine
eigene Redeweise mit den Jahren immer sinnlicher und bilderreicher wurde.
Doch er verkannte nicht, daß die vollzogene Entwicklung nicht wieder
rückgängig werden durfte, und verwarf darum strenge jene vorwitzigen
Sprachreinigungsversuche, die bei den teutonischen Eiferern für patriotisch
galten: das heiße unsere alte Sprache wie ein zufälliges Gebilde von
heute behandeln.

Ein Jahr nach dem Erscheinen des ersten Bandes seiner Grammatik
entdeckte Grimm das Gesetz der Lautverschiebung und gab damit der Ety-
mologie, die sich bisher unsicher tastend an die Aehnlichkeit des Klanges
der Wörter gehalten hatte, endlich einen festen wissenschaftlichen Boden.
Unterdessen hatte sein rastlos combinirender Kopf auch schon die uran-
fängliche Verwandtschaft aller indogermanischen Sprachen erkannt; ent-
zückt verweilte er vor der unendlichen Fernsicht, die sich auf dieser Höhe
aufthat. Ließ sich das nämliche Wort im Sanskrit und in allen den
jüngeren Sprachen der verwandten Völker auffinden, dann war bereits
bewiesen, daß auch die Sache, die durch jenes Wort bezeichnet ward, dem
räthselhaften Urvolke der Indogermanen schon bekannt gewesen sein mußte.
Und so konnte nach und nach die geheimnißvolle Völkerwiege Indiens
aus ihrem Dunkel heraustreten; es konnte erforscht werden, welche Stufe
der Gesittung die Völker Europas schon erreicht hatten bevor sie sich
trennten und die Wanderung gen Westen antraten, was ihnen gemein
war von Anbeginn und was sie sich erst erwarben ein jedes auf seinem
eigenen Wege. Die historischen Wissenschaften standen mit einem male
vor einer unübersehbaren Reihe neuer Aufgaben, die das innerste Seelen-
leben aller Völker und Zeiten berührten und in den zwei Menschenaltern
seitdem erst zum kleinsten Theile ihre Lösung gefunden haben.

Während Jakob Grimm also, ein glücklicher Finder, von Entdeckung
zu Entdeckung fortschritt, gefiel sich sein Bruder Wilhelm im ruhigen Ge-
stalten. Seine Freude war, die Werke unserer alten Dichtung in sauberen
Ausgaben, mit sinniger Erklärung dem neuen Geschlechte darzubieten; er

Die Gebrüder Grimm.
ſtandtheilen des Wortſchatzes. So kam alsbald Geſetz und Leben in den
Werdegang unſerer Sprache, der bisher ſo räthſelhaft und zufällig ſchien.
In dem unſchuldigen, poetiſchen, leiblich friſchen Jugendleben der Völker
— ſo führte Grimm mit künſtleriſcher Lebendigkeit aus — zeigt auch die
Sprache ſinnliche Kraft und Anſchaulichkeit, ſie liebt die Form um der
Form willen, ſchwelgt in dem Wohlklang volltönender Flexionen; bei rei-
fender Cultur wird auch ſie geiſtiger, abſtrakter, auf Klarheit und Kürze
bedacht, das ſtumpfere Ohr verliert die Freude an der Form, der nüch-
terne Verſtand kümmert ſich nicht mehr um die ſinnlichen Bilder, welche
den Wörtern zu Grunde liegen, und nach und nach wird Alles ausge-
ſtoßen oder abgeſchliffen was nicht unmittelbar zur Verdeutlichung des
Sinnes dient. Begreiflich genug, daß Grimms poetiſches Gemüth der
formenreichen alten Sprache durchaus den Vorzug gab, wie auch ſeine
eigene Redeweiſe mit den Jahren immer ſinnlicher und bilderreicher wurde.
Doch er verkannte nicht, daß die vollzogene Entwicklung nicht wieder
rückgängig werden durfte, und verwarf darum ſtrenge jene vorwitzigen
Sprachreinigungsverſuche, die bei den teutoniſchen Eiferern für patriotiſch
galten: das heiße unſere alte Sprache wie ein zufälliges Gebilde von
heute behandeln.

Ein Jahr nach dem Erſcheinen des erſten Bandes ſeiner Grammatik
entdeckte Grimm das Geſetz der Lautverſchiebung und gab damit der Ety-
mologie, die ſich bisher unſicher taſtend an die Aehnlichkeit des Klanges
der Wörter gehalten hatte, endlich einen feſten wiſſenſchaftlichen Boden.
Unterdeſſen hatte ſein raſtlos combinirender Kopf auch ſchon die uran-
fängliche Verwandtſchaft aller indogermaniſchen Sprachen erkannt; ent-
zückt verweilte er vor der unendlichen Fernſicht, die ſich auf dieſer Höhe
aufthat. Ließ ſich das nämliche Wort im Sanskrit und in allen den
jüngeren Sprachen der verwandten Völker auffinden, dann war bereits
bewieſen, daß auch die Sache, die durch jenes Wort bezeichnet ward, dem
räthſelhaften Urvolke der Indogermanen ſchon bekannt geweſen ſein mußte.
Und ſo konnte nach und nach die geheimnißvolle Völkerwiege Indiens
aus ihrem Dunkel heraustreten; es konnte erforſcht werden, welche Stufe
der Geſittung die Völker Europas ſchon erreicht hatten bevor ſie ſich
trennten und die Wanderung gen Weſten antraten, was ihnen gemein
war von Anbeginn und was ſie ſich erſt erwarben ein jedes auf ſeinem
eigenen Wege. Die hiſtoriſchen Wiſſenſchaften ſtanden mit einem male
vor einer unüberſehbaren Reihe neuer Aufgaben, die das innerſte Seelen-
leben aller Völker und Zeiten berührten und in den zwei Menſchenaltern
ſeitdem erſt zum kleinſten Theile ihre Löſung gefunden haben.

Während Jakob Grimm alſo, ein glücklicher Finder, von Entdeckung
zu Entdeckung fortſchritt, gefiel ſich ſein Bruder Wilhelm im ruhigen Ge-
ſtalten. Seine Freude war, die Werke unſerer alten Dichtung in ſauberen
Ausgaben, mit ſinniger Erklärung dem neuen Geſchlechte darzubieten; er

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[69/0083] Die Gebrüder Grimm. ſtandtheilen des Wortſchatzes. So kam alsbald Geſetz und Leben in den Werdegang unſerer Sprache, der bisher ſo räthſelhaft und zufällig ſchien. In dem unſchuldigen, poetiſchen, leiblich friſchen Jugendleben der Völker — ſo führte Grimm mit künſtleriſcher Lebendigkeit aus — zeigt auch die Sprache ſinnliche Kraft und Anſchaulichkeit, ſie liebt die Form um der Form willen, ſchwelgt in dem Wohlklang volltönender Flexionen; bei rei- fender Cultur wird auch ſie geiſtiger, abſtrakter, auf Klarheit und Kürze bedacht, das ſtumpfere Ohr verliert die Freude an der Form, der nüch- terne Verſtand kümmert ſich nicht mehr um die ſinnlichen Bilder, welche den Wörtern zu Grunde liegen, und nach und nach wird Alles ausge- ſtoßen oder abgeſchliffen was nicht unmittelbar zur Verdeutlichung des Sinnes dient. Begreiflich genug, daß Grimms poetiſches Gemüth der formenreichen alten Sprache durchaus den Vorzug gab, wie auch ſeine eigene Redeweiſe mit den Jahren immer ſinnlicher und bilderreicher wurde. Doch er verkannte nicht, daß die vollzogene Entwicklung nicht wieder rückgängig werden durfte, und verwarf darum ſtrenge jene vorwitzigen Sprachreinigungsverſuche, die bei den teutoniſchen Eiferern für patriotiſch galten: das heiße unſere alte Sprache wie ein zufälliges Gebilde von heute behandeln. Ein Jahr nach dem Erſcheinen des erſten Bandes ſeiner Grammatik entdeckte Grimm das Geſetz der Lautverſchiebung und gab damit der Ety- mologie, die ſich bisher unſicher taſtend an die Aehnlichkeit des Klanges der Wörter gehalten hatte, endlich einen feſten wiſſenſchaftlichen Boden. Unterdeſſen hatte ſein raſtlos combinirender Kopf auch ſchon die uran- fängliche Verwandtſchaft aller indogermaniſchen Sprachen erkannt; ent- zückt verweilte er vor der unendlichen Fernſicht, die ſich auf dieſer Höhe aufthat. Ließ ſich das nämliche Wort im Sanskrit und in allen den jüngeren Sprachen der verwandten Völker auffinden, dann war bereits bewieſen, daß auch die Sache, die durch jenes Wort bezeichnet ward, dem räthſelhaften Urvolke der Indogermanen ſchon bekannt geweſen ſein mußte. Und ſo konnte nach und nach die geheimnißvolle Völkerwiege Indiens aus ihrem Dunkel heraustreten; es konnte erforſcht werden, welche Stufe der Geſittung die Völker Europas ſchon erreicht hatten bevor ſie ſich trennten und die Wanderung gen Weſten antraten, was ihnen gemein war von Anbeginn und was ſie ſich erſt erwarben ein jedes auf ſeinem eigenen Wege. Die hiſtoriſchen Wiſſenſchaften ſtanden mit einem male vor einer unüberſehbaren Reihe neuer Aufgaben, die das innerſte Seelen- leben aller Völker und Zeiten berührten und in den zwei Menſchenaltern ſeitdem erſt zum kleinſten Theile ihre Löſung gefunden haben. Während Jakob Grimm alſo, ein glücklicher Finder, von Entdeckung zu Entdeckung fortſchritt, gefiel ſich ſein Bruder Wilhelm im ruhigen Ge- ſtalten. Seine Freude war, die Werke unſerer alten Dichtung in ſauberen Ausgaben, mit ſinniger Erklärung dem neuen Geſchlechte darzubieten; er

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/83>, abgerufen am 28.04.2024.