Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.Savigny, Beruf unserer Zeit. setze der Rechtsbildung selber aufgefunden werden. Auf viele der schwie-rigsten Probleme der historischen Wissenschaft, die dem philosophischen Jahrhundert noch ganz unfaßbar gewesen, warf die kleine Schrift ein überraschendes Licht. Noch Niemand hatte so anschaulich gezeigt, wie die Vergangenheit fortwirkt in der Gegenwart selbst wider Wissen und Willen der Lebenden, wie Kraft und Wille des Einzelnen gebunden sind an das Maß der Begabung seines Zeitalters, wie jedes Anwachsen der Cultur nothwendig einen Verlust in sich schließt, und darum die stolze, dem Zeit- alter der Revolution so geläufige Lehre von dem ewigen Fortschritt der Menschheit nur den Werth einer unerwiesenen Behauptung besitzt. Roch Niemand hatte den Lieblingswahn der Zeit, der die Freiheit in der Staats- form suchte, so siegreich widerlegt: Freiheit und Despotismus, so führte Savigny aus, sind in jeder Staatsverfassung möglich; jene besteht überall wo die Staatsgewalt die Natur und Geschichte in den lebendigen Kräften des Volkes achtet, dieser überall wo die Regierung nach subjectiver Will- kür verfährt. Schon elf Jahre früher hatte Savigny in seiner Erstlingsschrift über Savigny, Beruf unſerer Zeit. ſetze der Rechtsbildung ſelber aufgefunden werden. Auf viele der ſchwie-rigſten Probleme der hiſtoriſchen Wiſſenſchaft, die dem philoſophiſchen Jahrhundert noch ganz unfaßbar geweſen, warf die kleine Schrift ein überraſchendes Licht. Noch Niemand hatte ſo anſchaulich gezeigt, wie die Vergangenheit fortwirkt in der Gegenwart ſelbſt wider Wiſſen und Willen der Lebenden, wie Kraft und Wille des Einzelnen gebunden ſind an das Maß der Begabung ſeines Zeitalters, wie jedes Anwachſen der Cultur nothwendig einen Verluſt in ſich ſchließt, und darum die ſtolze, dem Zeit- alter der Revolution ſo geläufige Lehre von dem ewigen Fortſchritt der Menſchheit nur den Werth einer unerwieſenen Behauptung beſitzt. Roch Niemand hatte den Lieblingswahn der Zeit, der die Freiheit in der Staats- form ſuchte, ſo ſiegreich widerlegt: Freiheit und Despotismus, ſo führte Savigny aus, ſind in jeder Staatsverfaſſung möglich; jene beſteht überall wo die Staatsgewalt die Natur und Geſchichte in den lebendigen Kräften des Volkes achtet, dieſer überall wo die Regierung nach ſubjectiver Will- kür verfährt. Schon elf Jahre früher hatte Savigny in ſeiner Erſtlingsſchrift über <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0075" n="61"/><fw place="top" type="header">Savigny, Beruf unſerer Zeit.</fw><lb/> ſetze der Rechtsbildung ſelber aufgefunden werden. Auf viele der ſchwie-<lb/> rigſten Probleme der hiſtoriſchen Wiſſenſchaft, die dem philoſophiſchen<lb/> Jahrhundert noch ganz unfaßbar geweſen, warf die kleine Schrift ein<lb/> überraſchendes Licht. Noch Niemand hatte ſo anſchaulich gezeigt, wie die<lb/> Vergangenheit fortwirkt in der Gegenwart ſelbſt wider Wiſſen und Willen<lb/> der Lebenden, wie Kraft und Wille des Einzelnen gebunden ſind an das<lb/> Maß der Begabung ſeines Zeitalters, wie jedes Anwachſen der Cultur<lb/> nothwendig einen Verluſt in ſich ſchließt, und darum die ſtolze, dem Zeit-<lb/> alter der Revolution ſo geläufige Lehre von dem ewigen Fortſchritt der<lb/> Menſchheit nur den Werth einer unerwieſenen Behauptung beſitzt. 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Mochte ſeine vornehme Haltung zuerſt Manche zurück-<lb/> ſchrecken, wer ihm näher trat fühlte ſich bald ermuthigt durch die liebe-<lb/> volle Milde ſeines Urtheils und lernte, daß in der Wiſſenſchaft auch die<lb/> beſcheidene Begabung ihr gutes Recht hat wenn ſie gewiſſenhaft in ihren<lb/> Schranken bleibt. Auf Savignys Wegen weiter ſchreitend ward die<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [61/0075]
Savigny, Beruf unſerer Zeit.
ſetze der Rechtsbildung ſelber aufgefunden werden. Auf viele der ſchwie-
rigſten Probleme der hiſtoriſchen Wiſſenſchaft, die dem philoſophiſchen
Jahrhundert noch ganz unfaßbar geweſen, warf die kleine Schrift ein
überraſchendes Licht. Noch Niemand hatte ſo anſchaulich gezeigt, wie die
Vergangenheit fortwirkt in der Gegenwart ſelbſt wider Wiſſen und Willen
der Lebenden, wie Kraft und Wille des Einzelnen gebunden ſind an das
Maß der Begabung ſeines Zeitalters, wie jedes Anwachſen der Cultur
nothwendig einen Verluſt in ſich ſchließt, und darum die ſtolze, dem Zeit-
alter der Revolution ſo geläufige Lehre von dem ewigen Fortſchritt der
Menſchheit nur den Werth einer unerwieſenen Behauptung beſitzt. Roch
Niemand hatte den Lieblingswahn der Zeit, der die Freiheit in der Staats-
form ſuchte, ſo ſiegreich widerlegt: Freiheit und Despotismus, ſo führte
Savigny aus, ſind in jeder Staatsverfaſſung möglich; jene beſteht überall
wo die Staatsgewalt die Natur und Geſchichte in den lebendigen Kräften
des Volkes achtet, dieſer überall wo die Regierung nach ſubjectiver Will-
kür verfährt.
Schon elf Jahre früher hatte Savigny in ſeiner Erſtlingsſchrift über
das Recht des Beſitzes ein Werk geſchaffen, das den beſten Leiſtungen
der großen franzöſiſchen Civiliſten des ſechzehnten Jahrhunderts gleichkam.
Nunmehr betrat er mit ſeiner „Geſchichte des römiſchen Rechts im Mit-
telalter“ ein noch völlig unbebautes Gebiet und deckte den inneren Zu-
ſammenhang des antiken und des modernen Rechts zum erſten male auf.
Eine räthſelhafte Gunſt des Schickſals, die ſich nicht mehr Zufall nennen
läßt, pflegt immer, ſobald die ſichere Ahnung einer großen neuen Erkennt-
niß in der Wiſſenſchaft erwacht iſt, den Suchenden zu Hilfe zu kommen.
So fand jetzt Niebuhr im Jahre 1816 zu Verona die Handſchrift des
Gaius; das claſſiſche Zeitalter der römiſchen Rechtswiſſenſchaft, das man
bisher faſt allein aus den dürftigen Fragmenten der Pandekten kannte,
trat mit einem male den Ueberraſchten leibhaftig vor die Augen. Die
römiſche Rechtsgeſchichte ward durch eine lange Reihe gründlicher Einzel-
forſchungen völlig neu geſtaltet, während gleichzeitig Eichhorn ſeine deutſche
Rechtsgeſchichte weiter führte, Jakob Grimm und viele andere jüngere
Talente ſich in die Quellen des germaniſchen Rechts vertieften. Die von
Savigny und Eichhorn herausgegebene Zeitſchrift für geſchichtliche Rechts-
wiſſenſchaft bildete den Sprechſaal für die ſtetig wachſende hiſtoriſche Rechts-
ſchule; Savigny aber blieb ihr anerkanntes Haupt und ihr wirkſamſter
Lehrer. Die eindringliche Kraft der akademiſchen Beredſamkeit und das
ſchöpferiſche Genie, die ſo ſelten zuſammen gehen, fanden ſich in ihm
glücklich vereinigt. Mochte ſeine vornehme Haltung zuerſt Manche zurück-
ſchrecken, wer ihm näher trat fühlte ſich bald ermuthigt durch die liebe-
volle Milde ſeines Urtheils und lernte, daß in der Wiſſenſchaft auch die
beſcheidene Begabung ihr gutes Recht hat wenn ſie gewiſſenhaft in ihren
Schranken bleibt. Auf Savignys Wegen weiter ſchreitend ward die
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