Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.II. 9. Die Karlsbader Beschlüsse. vertheidigt. Die Mehrheit hatte inzwischen gelernt, daß diese altväterischeInstitution sich mit der modernen Staatseinheit nicht vertrug; wir wollen, meinte Schott, keine Feudal-, sondern eine Repräsentativverfassung. Bei der Schlußabstimmung widersprach Niemand mehr, und Uhland fügte seinem Ja die feierlichen Worte hinzu: "das Wesentliche besteht, vor Allem jener Urfels unseres alten Rechts, der Vertrag." Eine durch F. List ent- worfene Adresse von Stuttgarter Bürgern, die sich scharf gegen das über- eilte Verfahren der Stände aussprach, ward erst nach Schluß der Be- rathungen veröffentlicht. Am 24. September unterzeichnete der König den neuen Grundvertrag; die Verfassung kam noch glücklich unter Dach, einen Augenblick bevor die Karlsbader Beschlüsse im Lande bekannt wurden. So war denn endlich verwirklicht was der schwäbische Dichter so oft Daß bei dem biedern Volk in Schwaben Das Recht besteht und der Vertrag. Die politische Brauchbarkeit der neuen Verfassung wurde freilich durch II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe. vertheidigt. Die Mehrheit hatte inzwiſchen gelernt, daß dieſe altväteriſcheInſtitution ſich mit der modernen Staatseinheit nicht vertrug; wir wollen, meinte Schott, keine Feudal-, ſondern eine Repräſentativverfaſſung. Bei der Schlußabſtimmung widerſprach Niemand mehr, und Uhland fügte ſeinem Ja die feierlichen Worte hinzu: „das Weſentliche beſteht, vor Allem jener Urfels unſeres alten Rechts, der Vertrag.“ Eine durch F. Liſt ent- worfene Adreſſe von Stuttgarter Bürgern, die ſich ſcharf gegen das über- eilte Verfahren der Stände ausſprach, ward erſt nach Schluß der Be- rathungen veröffentlicht. Am 24. September unterzeichnete der König den neuen Grundvertrag; die Verfaſſung kam noch glücklich unter Dach, einen Augenblick bevor die Karlsbader Beſchlüſſe im Lande bekannt wurden. So war denn endlich verwirklicht was der ſchwäbiſche Dichter ſo oft Daß bei dem biedern Volk in Schwaben Das Recht beſteht und der Vertrag. Die politiſche Brauchbarkeit der neuen Verfaſſung wurde freilich durch <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0562" n="548"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi> 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.</fw><lb/> vertheidigt. Die Mehrheit hatte inzwiſchen gelernt, daß dieſe altväteriſche<lb/> Inſtitution ſich mit der modernen Staatseinheit nicht vertrug; wir wollen,<lb/> meinte Schott, keine Feudal-, ſondern eine Repräſentativverfaſſung. 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So<lb/> ſollte ferner neben dem Miniſterium noch ein Geheimer Rath beſtehen, die<lb/> Staatsſchuldenkaſſe durch ſtändiſche Beamte verwaltet werden, ein ſtehen-<lb/> der Ausſchuß des Landtags in Stuttgart tagen, eine kleine ſtändiſche<lb/> Kaſſe dem Landtage, aber nur für ſeinen eigenen Aufwand, zur Verfü-<lb/> gung ſtehen — lauter Ueberbleibſel von altwürttembergiſchen Einrichtungen,<lb/> welche die moderne Verwaltung nur erſchweren konnten ohne die Macht<lb/> des Landtags zu verſtärken. Für die Ohnmacht der zweiten Kammer<lb/> hatte der ſchwäbiſche Kirchthurmsgeiſt geſorgt. Da keines der 64 Ober-<lb/> ämter auf einen eigenen Vertreter verzichten wollte, ſo ergab ſich, mit<lb/> den Vertretern der Ritterſchaft, der Geiſtlichkeit, der ſieben guten Städte,<lb/> die gewaltige Zahl von vierundneunzig Abgeordneten, deren große Mehr-<lb/> heit nothwendig aus harmloſen Naturen beſtehen mußte. König Wilhelm<lb/> durfte ſich mithin der angenehmen Hoffnung hingeben, daß er in ſeinem<lb/> ſtreng centraliſirten Staate das gewohnte ſtramm bureaukratiſche Regi-<lb/> ment auch fürderhin unbeläſtigt werde fortführen können. Die Preß-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [548/0562]
II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
vertheidigt. Die Mehrheit hatte inzwiſchen gelernt, daß dieſe altväteriſche
Inſtitution ſich mit der modernen Staatseinheit nicht vertrug; wir wollen,
meinte Schott, keine Feudal-, ſondern eine Repräſentativverfaſſung. Bei
der Schlußabſtimmung widerſprach Niemand mehr, und Uhland fügte
ſeinem Ja die feierlichen Worte hinzu: „das Weſentliche beſteht, vor Allem
jener Urfels unſeres alten Rechts, der Vertrag.“ Eine durch F. Liſt ent-
worfene Adreſſe von Stuttgarter Bürgern, die ſich ſcharf gegen das über-
eilte Verfahren der Stände ausſprach, ward erſt nach Schluß der Be-
rathungen veröffentlicht. Am 24. September unterzeichnete der König
den neuen Grundvertrag; die Verfaſſung kam noch glücklich unter Dach,
einen Augenblick bevor die Karlsbader Beſchlüſſe im Lande bekannt
wurden.
So war denn endlich verwirklicht was der ſchwäbiſche Dichter ſo oft
gefordert hatte:
Daß bei dem biedern Volk in Schwaben
Das Recht beſteht und der Vertrag.
Die politiſche Brauchbarkeit der neuen Verfaſſung wurde freilich durch
dieſe vertragsmäßige Entſtehung keineswegs erhöht. Statt eines Werkes
aus einem Guſſe hatte man ein mühſeliges Compromiß zu Stande ge-
bracht, das viele jetzt nutzloſe oder gradezu unmögliche Inſtitutionen des
altwürttembergiſchen Ständeweſens mit in die neue Zeit hinübernahm.
So ſollte die lutheriſche Kirche ihren alten reichen Kirchenkaſten wieder
erhalten. Die unterthänige Commiſſion nannte dieſe Beſtimmung „einen
der ſchönſten und größten Gedanken, die je ein Regent faßte,“ und er-
klärte: „mit einer Kritik der Vorſchläge, welche von dieſer Reſtitution ab-
mahnen, wollen wir den gegenwärtigen Augenblick nicht entweihen.“ Der
große Gedanke erwies ſich aber als gänzlich unausführbar, da die Kirchen-
güter ſeit Jahren eingezogen und in verſchiedene Hände gelangt waren. So
ſollte ferner neben dem Miniſterium noch ein Geheimer Rath beſtehen, die
Staatsſchuldenkaſſe durch ſtändiſche Beamte verwaltet werden, ein ſtehen-
der Ausſchuß des Landtags in Stuttgart tagen, eine kleine ſtändiſche
Kaſſe dem Landtage, aber nur für ſeinen eigenen Aufwand, zur Verfü-
gung ſtehen — lauter Ueberbleibſel von altwürttembergiſchen Einrichtungen,
welche die moderne Verwaltung nur erſchweren konnten ohne die Macht
des Landtags zu verſtärken. Für die Ohnmacht der zweiten Kammer
hatte der ſchwäbiſche Kirchthurmsgeiſt geſorgt. Da keines der 64 Ober-
ämter auf einen eigenen Vertreter verzichten wollte, ſo ergab ſich, mit
den Vertretern der Ritterſchaft, der Geiſtlichkeit, der ſieben guten Städte,
die gewaltige Zahl von vierundneunzig Abgeordneten, deren große Mehr-
heit nothwendig aus harmloſen Naturen beſtehen mußte. König Wilhelm
durfte ſich mithin der angenehmen Hoffnung hingeben, daß er in ſeinem
ſtreng centraliſirten Staate das gewohnte ſtramm bureaukratiſche Regi-
ment auch fürderhin unbeläſtigt werde fortführen können. Die Preß-
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