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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 9. Die Karlsbader Beschlüsse.
kann "den Corporationsgeist" -- das will sagen: den Particularismus --
nicht verleugnen. Einzelne Stellen lassen freilich noch die unfertige poli-
tische Bildung der Zeit erkennen: so der Vorschlag, die Stadtgemeinden
wieder in Corporationen zu gliedern, oder die Weissagung: bei der Regie-
rung werde immer das Princip der Verbesserung, bei den Ständen das der
Erhaltung vorherrschen! Gleichwohl enthält die Denkschrift ohne Vergleich
das Reifste und Tiefste, was in jenem Jahrzehnt über Verfassungsfragen
gedacht worden ist. Von Hardenbergs Anschauungen unterscheidet sich Hum-
boldt vornehmlich durch den Ernst des Willens; er setzte der Reform eine
feste Zeitgrenze, was der erschlaffte Staatskanzler kaum noch wagte, wollte
spätestens 1822 oder 23 die Reichsstände versammelt sehen. Dagegen erwies
er den alten Ständen mehr Rücksicht, als in Hardenbergs Neigungen lag,
blieb mit Stein in treuer Verbindung, erkannte unbefangen den Kern des
Rechts, der in der altständischen Bewegung enthalten war.

In Alledem lag doch kein Grund zu ernstem Streite. Verständigten
sich die beiden Staatsmänner, so konnte sich unter Humboldts Händen
wohl ein lebensfähiger Verfassungsentwurf gestalten; dem Befehle des
Königs, der bereits für berathende Stände entschieden, hätte der Mi-
nister unzweifelhaft gehorcht. Die Geschäfte dauernd zu leiten, vermochte
er freilich nicht, da ihm die Politik niemals das ganze Sein und Denken
ausfüllte; für die Ausarbeitung des Planes hingegen fand sich nirgends
ein gedankenreicherer Kopf, nirgends eine gewandtere Feder. Leider war,
nach Allem was geschehen, das vertrauensvolle Zusammenwirken der bei-
den Nebenbuhler rein unmöglich. Ohne den Minister einer weiteren
Mittheilung zu würdigen, arbeitete der Staatskanzler an seinen Plänen
fort und legte dem Könige am 3. Mai den ersten Entwurf vor.*) Da
Niemand von diesen geheimen Berathungen etwas ahnte, so sendeten im
Laufe des Jahres noch mehrere angesehene Patrioten ihre Verfassungs-
vorschläge ein. Staatsrath v. Rhediger in Schlesien, der einst bei Steins
Verfassungsentwürfen mitgearbeitet hatte, überreichte eine überaus doktri-
näre Denkschrift, welche, nach heftigen Ausfällen gegen das alte Stände-
wesen und die Ueberschätzung der Geschichte, das Volk in drei ganz will-
kürlich ausgeklügelte Klassen eintheilen wollte.**) Noch moderner war ein
Entwurf von Hippel. Der Verfasser des "Aufrufs an Mein Volk" hatte
an dem Sondergeiste der Polen üble Erfahrungen gemacht, darum verwarf
er alle Provinziallandtage und verlangte einen einzigen preußischen Landtag,
welcher, dem heutigen nicht unähnlich, in zwei Kammern getheilt werden
sollte. Der strenge Monarchist verstieg sich sogar bis zu der Doctrin der
reinen Parlamentsherrschaft und meinte, ohne die Bedeutung seines Vor-
schlags zu ahnen: die Nation habe dem Monarchen die Männer zu be-

*) Hardenbergs Tagebuch, 3. Mai 1819.
**) Rhediger, über die Repräsentation im preußischen Staate, 8. Jan. 1819.

II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
kann „den Corporationsgeiſt“ — das will ſagen: den Particularismus —
nicht verleugnen. Einzelne Stellen laſſen freilich noch die unfertige poli-
tiſche Bildung der Zeit erkennen: ſo der Vorſchlag, die Stadtgemeinden
wieder in Corporationen zu gliedern, oder die Weiſſagung: bei der Regie-
rung werde immer das Princip der Verbeſſerung, bei den Ständen das der
Erhaltung vorherrſchen! Gleichwohl enthält die Denkſchrift ohne Vergleich
das Reifſte und Tiefſte, was in jenem Jahrzehnt über Verfaſſungsfragen
gedacht worden iſt. Von Hardenbergs Anſchauungen unterſcheidet ſich Hum-
boldt vornehmlich durch den Ernſt des Willens; er ſetzte der Reform eine
feſte Zeitgrenze, was der erſchlaffte Staatskanzler kaum noch wagte, wollte
ſpäteſtens 1822 oder 23 die Reichsſtände verſammelt ſehen. Dagegen erwies
er den alten Ständen mehr Rückſicht, als in Hardenbergs Neigungen lag,
blieb mit Stein in treuer Verbindung, erkannte unbefangen den Kern des
Rechts, der in der altſtändiſchen Bewegung enthalten war.

In Alledem lag doch kein Grund zu ernſtem Streite. Verſtändigten
ſich die beiden Staatsmänner, ſo konnte ſich unter Humboldts Händen
wohl ein lebensfähiger Verfaſſungsentwurf geſtalten; dem Befehle des
Königs, der bereits für berathende Stände entſchieden, hätte der Mi-
niſter unzweifelhaft gehorcht. Die Geſchäfte dauernd zu leiten, vermochte
er freilich nicht, da ihm die Politik niemals das ganze Sein und Denken
ausfüllte; für die Ausarbeitung des Planes hingegen fand ſich nirgends
ein gedankenreicherer Kopf, nirgends eine gewandtere Feder. Leider war,
nach Allem was geſchehen, das vertrauensvolle Zuſammenwirken der bei-
den Nebenbuhler rein unmöglich. Ohne den Miniſter einer weiteren
Mittheilung zu würdigen, arbeitete der Staatskanzler an ſeinen Plänen
fort und legte dem Könige am 3. Mai den erſten Entwurf vor.*) Da
Niemand von dieſen geheimen Berathungen etwas ahnte, ſo ſendeten im
Laufe des Jahres noch mehrere angeſehene Patrioten ihre Verfaſſungs-
vorſchläge ein. Staatsrath v. Rhediger in Schleſien, der einſt bei Steins
Verfaſſungsentwürfen mitgearbeitet hatte, überreichte eine überaus doktri-
näre Denkſchrift, welche, nach heftigen Ausfällen gegen das alte Stände-
weſen und die Ueberſchätzung der Geſchichte, das Volk in drei ganz will-
kürlich ausgeklügelte Klaſſen eintheilen wollte.**) Noch moderner war ein
Entwurf von Hippel. Der Verfaſſer des „Aufrufs an Mein Volk“ hatte
an dem Sondergeiſte der Polen üble Erfahrungen gemacht, darum verwarf
er alle Provinziallandtage und verlangte einen einzigen preußiſchen Landtag,
welcher, dem heutigen nicht unähnlich, in zwei Kammern getheilt werden
ſollte. Der ſtrenge Monarchiſt verſtieg ſich ſogar bis zu der Doctrin der
reinen Parlamentsherrſchaft und meinte, ohne die Bedeutung ſeines Vor-
ſchlags zu ahnen: die Nation habe dem Monarchen die Männer zu be-

*) Hardenbergs Tagebuch, 3. Mai 1819.
**) Rhediger, über die Repräſentation im preußiſchen Staate, 8. Jan. 1819.
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[500/0514] II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe. kann „den Corporationsgeiſt“ — das will ſagen: den Particularismus — nicht verleugnen. Einzelne Stellen laſſen freilich noch die unfertige poli- tiſche Bildung der Zeit erkennen: ſo der Vorſchlag, die Stadtgemeinden wieder in Corporationen zu gliedern, oder die Weiſſagung: bei der Regie- rung werde immer das Princip der Verbeſſerung, bei den Ständen das der Erhaltung vorherrſchen! Gleichwohl enthält die Denkſchrift ohne Vergleich das Reifſte und Tiefſte, was in jenem Jahrzehnt über Verfaſſungsfragen gedacht worden iſt. Von Hardenbergs Anſchauungen unterſcheidet ſich Hum- boldt vornehmlich durch den Ernſt des Willens; er ſetzte der Reform eine feſte Zeitgrenze, was der erſchlaffte Staatskanzler kaum noch wagte, wollte ſpäteſtens 1822 oder 23 die Reichsſtände verſammelt ſehen. Dagegen erwies er den alten Ständen mehr Rückſicht, als in Hardenbergs Neigungen lag, blieb mit Stein in treuer Verbindung, erkannte unbefangen den Kern des Rechts, der in der altſtändiſchen Bewegung enthalten war. In Alledem lag doch kein Grund zu ernſtem Streite. Verſtändigten ſich die beiden Staatsmänner, ſo konnte ſich unter Humboldts Händen wohl ein lebensfähiger Verfaſſungsentwurf geſtalten; dem Befehle des Königs, der bereits für berathende Stände entſchieden, hätte der Mi- niſter unzweifelhaft gehorcht. Die Geſchäfte dauernd zu leiten, vermochte er freilich nicht, da ihm die Politik niemals das ganze Sein und Denken ausfüllte; für die Ausarbeitung des Planes hingegen fand ſich nirgends ein gedankenreicherer Kopf, nirgends eine gewandtere Feder. Leider war, nach Allem was geſchehen, das vertrauensvolle Zuſammenwirken der bei- den Nebenbuhler rein unmöglich. Ohne den Miniſter einer weiteren Mittheilung zu würdigen, arbeitete der Staatskanzler an ſeinen Plänen fort und legte dem Könige am 3. Mai den erſten Entwurf vor. *) Da Niemand von dieſen geheimen Berathungen etwas ahnte, ſo ſendeten im Laufe des Jahres noch mehrere angeſehene Patrioten ihre Verfaſſungs- vorſchläge ein. Staatsrath v. Rhediger in Schleſien, der einſt bei Steins Verfaſſungsentwürfen mitgearbeitet hatte, überreichte eine überaus doktri- näre Denkſchrift, welche, nach heftigen Ausfällen gegen das alte Stände- weſen und die Ueberſchätzung der Geſchichte, das Volk in drei ganz will- kürlich ausgeklügelte Klaſſen eintheilen wollte. **) Noch moderner war ein Entwurf von Hippel. Der Verfaſſer des „Aufrufs an Mein Volk“ hatte an dem Sondergeiſte der Polen üble Erfahrungen gemacht, darum verwarf er alle Provinziallandtage und verlangte einen einzigen preußiſchen Landtag, welcher, dem heutigen nicht unähnlich, in zwei Kammern getheilt werden ſollte. Der ſtrenge Monarchiſt verſtieg ſich ſogar bis zu der Doctrin der reinen Parlamentsherrſchaft und meinte, ohne die Bedeutung ſeines Vor- ſchlags zu ahnen: die Nation habe dem Monarchen die Männer zu be- *) Hardenbergs Tagebuch, 3. Mai 1819. **) Rhediger, über die Repräſentation im preußiſchen Staate, 8. Jan. 1819.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 500. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/514>, abgerufen am 09.05.2024.