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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Humboldts Denkschrift über die Verfassung.
die nämliche Ansicht hegten. Noch in Frankfurt (4. Febr.) entwarf Hum-
boldt für den Freiherrn vom Stein eine große Denkschrift über den Ver-
fassungsplan, welche mit den Gedanken des Staatskanzler in allem Wesent-
lichen übereinstimmte. Wie hatte sich doch Humboldts reicher Geist empor-
gearbeitet aus dem socialen Idealismus seiner Jugend! Noch immer
bekämpft er die fureur de gouverner, doch nicht mehr den Staat will er
beschränken, sondern die Macht des Beamtenthums. Dem Bürger weist
er nicht mehr die Aufgabe zu, die freie Geselligkeit den Eingriffen der
Staatsgewalt gänzlich zu entziehen, sondern den sittlichen Beruf, selbst-
thätig Theil zu nehmen an der Verwaltung; nur dann gelange die sitt-
liche Ausbildung des Mannes zur Vollendung, nur dann gewinne der
Staat lebendigen Zusammenhang mit dem Volksgeiste und in den Tagen
der Gefahr die Kraft, sich auf sittliche Mächte zu stützen. Allein die Er-
kenntniß dieser inneren Nothwendigkeit, nicht irgend eine äußere Rücksicht
auf königliche Verheißungen könne das Wagniß der Beschränkung der
monarchischen Gewalt rechtfertigen. So hatte auch dieser Kantianer sich
erfüllt mit jenen fruchtbaren Ideen historischer Staatsanschauung, welche
der Kampf gegen das napoleonische Weltreich erzeugte. Er wußte auch die
Gegenwart mit historischem Sinn zu erfassen, in den Erscheinungen des
Augenblicks das Lebendige zu scheiden von dem Todten. Niemand ver-
stand wie er die Weisheit der Hellenen, die den Staatsmann den prak-
tischen Historiker nennt. Wie alle freien Köpfe aus dem Kreise Steins
will er das Parlament aufrichten auf der Selbstverwaltung der Gemein-
den, Kreise und Provinzen. Wie sie verlangt er die Gliederung in drei
Stände, obschon das übermächtige Anwachsen der Mittelklassen, die Aus-
gleichung der alten Standesunterschiede seinem scharfen Blicke nicht ent-
geht. Wie sie will er den Reichsständen die Gesetzgebung, den Provinzial-
ständen auch Verwaltungsaufgaben zuweisen.

Nach Humboldts Ansicht ist "gar nicht die Rede davon, etwas Neues
willkürlich einzuführen, sondern nur das Wiederaufleben des blos zufällig
und widerrechtlich Unterdrückten möglich zu machen." Er weiß, daß alle
dauerhaften Verfassungen in ihren Anfängen etwas Unförmliches haben,
und will darum die Rechte der alten Stände, auch wo sie das Ebenmaß
des neuen Baues stören, behutsam schonen. Aber er sieht auch, daß die
altständischen Territorien schon um ihrer Kleinheit willen in dem Groß-
staate sich nicht mehr behaupten können, und verlangt darum Provinzial-
stände für die neuen Oberpräsidialbezirke. Provinzialstände ohne Reichs-
stände erscheinen ihm als eine Gefahr für die Einheit des Staats wie für
die Rechte der Stände; denn den Provinzialständen, sagt er als ein Seher,
kann nur eine berathende Stimme eingeräumt werden, einer wirklichen
Standschaft gebührt das Recht des Beschließens. Die Einheit der Mon-
archie steht ihm so hoch, daß er für alle ständischen Körper unmittelbare
Wahlen verlangt; ein aus den Provinzialständen hervorgehender Reichstag

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Humboldts Denkſchrift über die Verfaſſung.
die nämliche Anſicht hegten. Noch in Frankfurt (4. Febr.) entwarf Hum-
boldt für den Freiherrn vom Stein eine große Denkſchrift über den Ver-
faſſungsplan, welche mit den Gedanken des Staatskanzler in allem Weſent-
lichen übereinſtimmte. Wie hatte ſich doch Humboldts reicher Geiſt empor-
gearbeitet aus dem ſocialen Idealismus ſeiner Jugend! Noch immer
bekämpft er die fureur de gouverner, doch nicht mehr den Staat will er
beſchränken, ſondern die Macht des Beamtenthums. Dem Bürger weiſt
er nicht mehr die Aufgabe zu, die freie Geſelligkeit den Eingriffen der
Staatsgewalt gänzlich zu entziehen, ſondern den ſittlichen Beruf, ſelbſt-
thätig Theil zu nehmen an der Verwaltung; nur dann gelange die ſitt-
liche Ausbildung des Mannes zur Vollendung, nur dann gewinne der
Staat lebendigen Zuſammenhang mit dem Volksgeiſte und in den Tagen
der Gefahr die Kraft, ſich auf ſittliche Mächte zu ſtützen. Allein die Er-
kenntniß dieſer inneren Nothwendigkeit, nicht irgend eine äußere Rückſicht
auf königliche Verheißungen könne das Wagniß der Beſchränkung der
monarchiſchen Gewalt rechtfertigen. So hatte auch dieſer Kantianer ſich
erfüllt mit jenen fruchtbaren Ideen hiſtoriſcher Staatsanſchauung, welche
der Kampf gegen das napoleoniſche Weltreich erzeugte. Er wußte auch die
Gegenwart mit hiſtoriſchem Sinn zu erfaſſen, in den Erſcheinungen des
Augenblicks das Lebendige zu ſcheiden von dem Todten. Niemand ver-
ſtand wie er die Weisheit der Hellenen, die den Staatsmann den prak-
tiſchen Hiſtoriker nennt. Wie alle freien Köpfe aus dem Kreiſe Steins
will er das Parlament aufrichten auf der Selbſtverwaltung der Gemein-
den, Kreiſe und Provinzen. Wie ſie verlangt er die Gliederung in drei
Stände, obſchon das übermächtige Anwachſen der Mittelklaſſen, die Aus-
gleichung der alten Standesunterſchiede ſeinem ſcharfen Blicke nicht ent-
geht. Wie ſie will er den Reichsſtänden die Geſetzgebung, den Provinzial-
ſtänden auch Verwaltungsaufgaben zuweiſen.

Nach Humboldts Anſicht iſt „gar nicht die Rede davon, etwas Neues
willkürlich einzuführen, ſondern nur das Wiederaufleben des blos zufällig
und widerrechtlich Unterdrückten möglich zu machen.“ Er weiß, daß alle
dauerhaften Verfaſſungen in ihren Anfängen etwas Unförmliches haben,
und will darum die Rechte der alten Stände, auch wo ſie das Ebenmaß
des neuen Baues ſtören, behutſam ſchonen. Aber er ſieht auch, daß die
altſtändiſchen Territorien ſchon um ihrer Kleinheit willen in dem Groß-
ſtaate ſich nicht mehr behaupten können, und verlangt darum Provinzial-
ſtände für die neuen Oberpräſidialbezirke. Provinzialſtände ohne Reichs-
ſtände erſcheinen ihm als eine Gefahr für die Einheit des Staats wie für
die Rechte der Stände; denn den Provinzialſtänden, ſagt er als ein Seher,
kann nur eine berathende Stimme eingeräumt werden, einer wirklichen
Standſchaft gebührt das Recht des Beſchließens. Die Einheit der Mon-
archie ſteht ihm ſo hoch, daß er für alle ſtändiſchen Körper unmittelbare
Wahlen verlangt; ein aus den Provinzialſtänden hervorgehender Reichstag

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[499/0513] Humboldts Denkſchrift über die Verfaſſung. die nämliche Anſicht hegten. Noch in Frankfurt (4. Febr.) entwarf Hum- boldt für den Freiherrn vom Stein eine große Denkſchrift über den Ver- faſſungsplan, welche mit den Gedanken des Staatskanzler in allem Weſent- lichen übereinſtimmte. Wie hatte ſich doch Humboldts reicher Geiſt empor- gearbeitet aus dem ſocialen Idealismus ſeiner Jugend! Noch immer bekämpft er die fureur de gouverner, doch nicht mehr den Staat will er beſchränken, ſondern die Macht des Beamtenthums. Dem Bürger weiſt er nicht mehr die Aufgabe zu, die freie Geſelligkeit den Eingriffen der Staatsgewalt gänzlich zu entziehen, ſondern den ſittlichen Beruf, ſelbſt- thätig Theil zu nehmen an der Verwaltung; nur dann gelange die ſitt- liche Ausbildung des Mannes zur Vollendung, nur dann gewinne der Staat lebendigen Zuſammenhang mit dem Volksgeiſte und in den Tagen der Gefahr die Kraft, ſich auf ſittliche Mächte zu ſtützen. Allein die Er- kenntniß dieſer inneren Nothwendigkeit, nicht irgend eine äußere Rückſicht auf königliche Verheißungen könne das Wagniß der Beſchränkung der monarchiſchen Gewalt rechtfertigen. So hatte auch dieſer Kantianer ſich erfüllt mit jenen fruchtbaren Ideen hiſtoriſcher Staatsanſchauung, welche der Kampf gegen das napoleoniſche Weltreich erzeugte. Er wußte auch die Gegenwart mit hiſtoriſchem Sinn zu erfaſſen, in den Erſcheinungen des Augenblicks das Lebendige zu ſcheiden von dem Todten. Niemand ver- ſtand wie er die Weisheit der Hellenen, die den Staatsmann den prak- tiſchen Hiſtoriker nennt. Wie alle freien Köpfe aus dem Kreiſe Steins will er das Parlament aufrichten auf der Selbſtverwaltung der Gemein- den, Kreiſe und Provinzen. Wie ſie verlangt er die Gliederung in drei Stände, obſchon das übermächtige Anwachſen der Mittelklaſſen, die Aus- gleichung der alten Standesunterſchiede ſeinem ſcharfen Blicke nicht ent- geht. Wie ſie will er den Reichsſtänden die Geſetzgebung, den Provinzial- ſtänden auch Verwaltungsaufgaben zuweiſen. Nach Humboldts Anſicht iſt „gar nicht die Rede davon, etwas Neues willkürlich einzuführen, ſondern nur das Wiederaufleben des blos zufällig und widerrechtlich Unterdrückten möglich zu machen.“ Er weiß, daß alle dauerhaften Verfaſſungen in ihren Anfängen etwas Unförmliches haben, und will darum die Rechte der alten Stände, auch wo ſie das Ebenmaß des neuen Baues ſtören, behutſam ſchonen. Aber er ſieht auch, daß die altſtändiſchen Territorien ſchon um ihrer Kleinheit willen in dem Groß- ſtaate ſich nicht mehr behaupten können, und verlangt darum Provinzial- ſtände für die neuen Oberpräſidialbezirke. Provinzialſtände ohne Reichs- ſtände erſcheinen ihm als eine Gefahr für die Einheit des Staats wie für die Rechte der Stände; denn den Provinzialſtänden, ſagt er als ein Seher, kann nur eine berathende Stimme eingeräumt werden, einer wirklichen Standſchaft gebührt das Recht des Beſchließens. Die Einheit der Mon- archie ſteht ihm ſo hoch, daß er für alle ſtändiſchen Körper unmittelbare Wahlen verlangt; ein aus den Provinzialſtänden hervorgehender Reichstag 32*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 499. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/513>, abgerufen am 22.11.2024.