Talent, bewährte sich in Kunst und Wissenschaft als ein feiner Kenner. Aber von dem derben Ehrgeiz und der rastlosen Thätigkeit des geborenen Staatsmannes besaß er wenig.
Mit ihm begann eine neue Generation der preußischen Diplomatie. An der Stelle jener wetterfesten, arbeitsharten Politiker, welche einst mit Leib und Seele dem großen Kurfürsten und dem großen Könige gedient hat- ten, erschienen jetzt in müder Friedenszeit immer häufiger geistreiche, liebens- würdige literarische Dilettanten, denen der Staat nicht mehr Eines und Alles war. Schon beim Antritt seines neuen Amtes fühlte sich Graf Bernstorff müde und abgespannt, obgleich er das fünfzigste Jahr noch nicht erreicht hatte, und bald nachher ward er von der altadlichen Stan- deskrankheit, dem Podagra, so anhaltend heimgesucht, daß er nur noch selten einen ganz gesunden Tag verlebte. Von den inneren Zuständen Preußens kannte er vorläufig nur, was ein fremder Diplomat zu be- obachten vermag, und zu seinem Unheil war er schon seit Langem ge- wöhnt, sich vornehmlich von Ancillon über die deutsche Politik belehren zu lassen. Der räthselhafte Heiligenschein, der diesen gelehrten Hofmann umschwebte, blendete den neuen Minister noch gänzlich, und der badische Gesandte General Stockhorn war sicherlich auf der rechten Fährte, wenn er seinem Hofe meldete, daß Ancillon und Wittgenstein gemeinsam die Berufung Bernstorffs veranlaßt hätten. Der Briefwechsel zwischen Bern- storff und Ancillon ist noch großentheils erhalten. Er zeigt deutlich, wie der neue Minister noch über ein Jahr lang den Lehren seines schreib- seligen Mentors mit gläubiger Andacht lauschte. Erst als es zu spät war, erst gegen das Ende des Jahres 1819 hatte sich Bernstorff in den deutschen Dingen zurechtgefunden und mit eigenen Augen zu sehen gelernt; seit- dem entfernte er sich Schritt für Schritt von den reaktionären Doctrinen des Meisters und bewies, daß er nach Temperament und Gesinnung zu den gemäßigten Conservativen gehörte. Aber während jener kritischen andert- halb Jahre, welche den Umschwung der Bundespolitik herbeiführten, blieb Bernstorff ein Genosse Ancillons.
Seine Berufung war ein Sieg der reaktionären Partei und förderte, ohne daß er es selber ahnte, die Absichten derer, welche die constitutio- nellen Pläne des Staatskanzlers insgeheim zu vereiteln trachteten. Vorder- hand gerieth die Verfassungsarbeit gänzlich ins Stocken. Hardenberg unter- nahm im Juli auf dem neuen Dampfschiff "der Kurier" von Humphreys eine Fahrt von Potsdam nach Hamburg, die als unerhörtes Wagniß be- wundert wurde, und begab sich von da nach dem Rheine, wo er wochen- lang mit den Angelegenheiten der Provinz und diplomatischen Verhand- lungen beschäftigt war. Die Ungeduld der Verfassungspartei wuchs von Tag zu Tag. In leidenschaftlichem Zorne schrieb Boyen an Schön: "Diese auf Thatsachen ruhende Liebe des Volks zu seinem Könige, Alles das was seit Jahrhunderten ehrwürdige Denker für den Zweck der Mensch-
II. 8. Der Aachener Congreß.
Talent, bewährte ſich in Kunſt und Wiſſenſchaft als ein feiner Kenner. Aber von dem derben Ehrgeiz und der raſtloſen Thätigkeit des geborenen Staatsmannes beſaß er wenig.
Mit ihm begann eine neue Generation der preußiſchen Diplomatie. An der Stelle jener wetterfeſten, arbeitsharten Politiker, welche einſt mit Leib und Seele dem großen Kurfürſten und dem großen Könige gedient hat- ten, erſchienen jetzt in müder Friedenszeit immer häufiger geiſtreiche, liebens- würdige literariſche Dilettanten, denen der Staat nicht mehr Eines und Alles war. Schon beim Antritt ſeines neuen Amtes fühlte ſich Graf Bernſtorff müde und abgeſpannt, obgleich er das fünfzigſte Jahr noch nicht erreicht hatte, und bald nachher ward er von der altadlichen Stan- deskrankheit, dem Podagra, ſo anhaltend heimgeſucht, daß er nur noch ſelten einen ganz geſunden Tag verlebte. Von den inneren Zuſtänden Preußens kannte er vorläufig nur, was ein fremder Diplomat zu be- obachten vermag, und zu ſeinem Unheil war er ſchon ſeit Langem ge- wöhnt, ſich vornehmlich von Ancillon über die deutſche Politik belehren zu laſſen. Der räthſelhafte Heiligenſchein, der dieſen gelehrten Hofmann umſchwebte, blendete den neuen Miniſter noch gänzlich, und der badiſche Geſandte General Stockhorn war ſicherlich auf der rechten Fährte, wenn er ſeinem Hofe meldete, daß Ancillon und Wittgenſtein gemeinſam die Berufung Bernſtorffs veranlaßt hätten. Der Briefwechſel zwiſchen Bern- ſtorff und Ancillon iſt noch großentheils erhalten. Er zeigt deutlich, wie der neue Miniſter noch über ein Jahr lang den Lehren ſeines ſchreib- ſeligen Mentors mit gläubiger Andacht lauſchte. Erſt als es zu ſpät war, erſt gegen das Ende des Jahres 1819 hatte ſich Bernſtorff in den deutſchen Dingen zurechtgefunden und mit eigenen Augen zu ſehen gelernt; ſeit- dem entfernte er ſich Schritt für Schritt von den reaktionären Doctrinen des Meiſters und bewies, daß er nach Temperament und Geſinnung zu den gemäßigten Conſervativen gehörte. Aber während jener kritiſchen andert- halb Jahre, welche den Umſchwung der Bundespolitik herbeiführten, blieb Bernſtorff ein Genoſſe Ancillons.
Seine Berufung war ein Sieg der reaktionären Partei und förderte, ohne daß er es ſelber ahnte, die Abſichten derer, welche die conſtitutio- nellen Pläne des Staatskanzlers insgeheim zu vereiteln trachteten. Vorder- hand gerieth die Verfaſſungsarbeit gänzlich ins Stocken. Hardenberg unter- nahm im Juli auf dem neuen Dampfſchiff „der Kurier“ von Humphreys eine Fahrt von Potsdam nach Hamburg, die als unerhörtes Wagniß be- wundert wurde, und begab ſich von da nach dem Rheine, wo er wochen- lang mit den Angelegenheiten der Provinz und diplomatiſchen Verhand- lungen beſchäftigt war. Die Ungeduld der Verfaſſungspartei wuchs von Tag zu Tag. In leidenſchaftlichem Zorne ſchrieb Boyen an Schön: „Dieſe auf Thatſachen ruhende Liebe des Volks zu ſeinem Könige, Alles das was ſeit Jahrhunderten ehrwürdige Denker für den Zweck der Menſch-
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Talent, bewährte ſich in Kunſt und Wiſſenſchaft als ein feiner Kenner.
Aber von dem derben Ehrgeiz und der raſtloſen Thätigkeit des geborenen
Staatsmannes beſaß er wenig.
Mit ihm begann eine neue Generation der preußiſchen Diplomatie.
An der Stelle jener wetterfeſten, arbeitsharten Politiker, welche einſt mit
Leib und Seele dem großen Kurfürſten und dem großen Könige gedient hat-
ten, erſchienen jetzt in müder Friedenszeit immer häufiger geiſtreiche, liebens-
würdige literariſche Dilettanten, denen der Staat nicht mehr Eines und
Alles war. Schon beim Antritt ſeines neuen Amtes fühlte ſich Graf
Bernſtorff müde und abgeſpannt, obgleich er das fünfzigſte Jahr noch
nicht erreicht hatte, und bald nachher ward er von der altadlichen Stan-
deskrankheit, dem Podagra, ſo anhaltend heimgeſucht, daß er nur noch
ſelten einen ganz geſunden Tag verlebte. Von den inneren Zuſtänden
Preußens kannte er vorläufig nur, was ein fremder Diplomat zu be-
obachten vermag, und zu ſeinem Unheil war er ſchon ſeit Langem ge-
wöhnt, ſich vornehmlich von Ancillon über die deutſche Politik belehren
zu laſſen. Der räthſelhafte Heiligenſchein, der dieſen gelehrten Hofmann
umſchwebte, blendete den neuen Miniſter noch gänzlich, und der badiſche
Geſandte General Stockhorn war ſicherlich auf der rechten Fährte, wenn
er ſeinem Hofe meldete, daß Ancillon und Wittgenſtein gemeinſam die
Berufung Bernſtorffs veranlaßt hätten. Der Briefwechſel zwiſchen Bern-
ſtorff und Ancillon iſt noch großentheils erhalten. Er zeigt deutlich, wie
der neue Miniſter noch über ein Jahr lang den Lehren ſeines ſchreib-
ſeligen Mentors mit gläubiger Andacht lauſchte. Erſt als es zu ſpät war,
erſt gegen das Ende des Jahres 1819 hatte ſich Bernſtorff in den deutſchen
Dingen zurechtgefunden und mit eigenen Augen zu ſehen gelernt; ſeit-
dem entfernte er ſich Schritt für Schritt von den reaktionären Doctrinen
des Meiſters und bewies, daß er nach Temperament und Geſinnung zu
den gemäßigten Conſervativen gehörte. Aber während jener kritiſchen andert-
halb Jahre, welche den Umſchwung der Bundespolitik herbeiführten, blieb
Bernſtorff ein Genoſſe Ancillons.
Seine Berufung war ein Sieg der reaktionären Partei und förderte,
ohne daß er es ſelber ahnte, die Abſichten derer, welche die conſtitutio-
nellen Pläne des Staatskanzlers insgeheim zu vereiteln trachteten. Vorder-
hand gerieth die Verfaſſungsarbeit gänzlich ins Stocken. Hardenberg unter-
nahm im Juli auf dem neuen Dampfſchiff „der Kurier“ von Humphreys
eine Fahrt von Potsdam nach Hamburg, die als unerhörtes Wagniß be-
wundert wurde, und begab ſich von da nach dem Rheine, wo er wochen-
lang mit den Angelegenheiten der Provinz und diplomatiſchen Verhand-
lungen beſchäftigt war. Die Ungeduld der Verfaſſungspartei wuchs von
Tag zu Tag. In leidenſchaftlichem Zorne ſchrieb Boyen an Schön: „Dieſe
auf Thatſachen ruhende Liebe des Volks zu ſeinem Könige, Alles das
was ſeit Jahrhunderten ehrwürdige Denker für den Zweck der Menſch-
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 460. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/474>, abgerufen am 22.11.2024.
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