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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Vertagung der Verfassung.
Aber auch diesmal gelangte man zu keiner Entscheidung. Während der
ehrlich constitutionelle Marschall dringend rieth, die unzufriedene Ritter-
schaft durch die Bildung einer ersten Kammer zu versöhnen, sprachen sich
die bonapartistischen Beamten, die geheimen Gegner der Verfassung, ent-
schieden für das Einkammersystem aus, weil sie den Adel als den ge-
borenen Feind des grünen Tisches beargwöhnten, und der doctrinäre
Adelshaß des preußischen Geschäftsträgers arbeitete ihnen vielgeschäftig in
die Hände. Gänzlich unberufen, ohne in Berlin auch nur anzufragen,
ertheilte Varnhagen dem Karlsruher Hofe seine Rathschläge, die allesammt
mit dem unfehlbaren Vernunftrechte seines Freundes Rotteck merkwürdig
übereinstimmten. "Eine Adelskammer wird nur allzu leicht dem Throne
auf Kosten des Volks gefährlich. Wer führte in Württemberg zuerst
eine wahrhaft aufrührerische Sprache?" Will man durchaus eine erste
Kammer, so berufe man Männer, die durch ihr Alter oder ihr Amt aus-
gezeichnet sind. Diese Sätze, so schloß er mit der ganzen Selbstgefällig-
keit des jungen Liberalismus, sind "triviale Wahrheiten, von denen die
Nachwelt nicht wird begreifen können, wie so nicht Alles darin überein-
stimmte."*)

Ueber diesen und anderen Streitigkeiten verging wieder eine geraume
Zeit, bis es den Gegnern der Reform endlich gelang den unentschlossenen
Fürsten zu einem neuen Aufschube zu bereden. Am 29. Juli, gerade in
dem Augenblicke da Jedermann die versprochene Einberufung des Land-
tags erwartete, wurde das Land durch ein Rescript überrascht, das die
Verkündigung der Constitution für jetzt vertagte; erst müsse der Bundes-
tag die leitenden Grundsätze für die deutschen Landesverfassungen aufstellen.
Und dies aus dem Munde desselben Fürsten, der sich mit den Verfassungs-
plänen nur darum befaßt hatte, weil er seine Souveränität gegen die
Eingriffe des Bundes sichern wollte! Allgemein war die Enttäuschung,
die Entrüstung. Die Thorheit der unbedachten Versprechungen bestrafte
sich hier, wo so viel Grund zum Klagen vorlag, noch härter als in
Preußen. Eine giftige Schmähschrift "Gemälde des Großherzogthums
Baden" verhöhnte den schlemmenden Minister Hacke, der das ganze Land
in Spanferkel und Spargel verwandeln wolle. Dazu die Noth des Hunger-
jahres, der wachsende Steuerdruck, und im Oberlande lauter Unwille, als
plötzlich bekannt wurde, daß die Regierung aus Rücksichten der Sparsam-
keit die Freiburger Universität mit der Heidelberger zu vereinigen gedenke.
Alle Breisgauer verwünschten diesen Plan als einen Eingriff in ihr altes
Landesrecht; Rotteck nahm sich seiner Landsleute kräftig an, er wußte
wohl, daß seine josephinische Gesinnung in der protestantischen Luft der
Pfalz auf die Dauer nicht gedeihen konnte. Diesem erbitterten Wider-
spruche fühlte sich die Regierung nicht gewachsen; sie gab den unglücklichen

*) Varnhagen an Berstett, 8. Mai 1816.

Vertagung der Verfaſſung.
Aber auch diesmal gelangte man zu keiner Entſcheidung. Während der
ehrlich conſtitutionelle Marſchall dringend rieth, die unzufriedene Ritter-
ſchaft durch die Bildung einer erſten Kammer zu verſöhnen, ſprachen ſich
die bonapartiſtiſchen Beamten, die geheimen Gegner der Verfaſſung, ent-
ſchieden für das Einkammerſyſtem aus, weil ſie den Adel als den ge-
borenen Feind des grünen Tiſches beargwöhnten, und der doctrinäre
Adelshaß des preußiſchen Geſchäftsträgers arbeitete ihnen vielgeſchäftig in
die Hände. Gänzlich unberufen, ohne in Berlin auch nur anzufragen,
ertheilte Varnhagen dem Karlsruher Hofe ſeine Rathſchläge, die alleſammt
mit dem unfehlbaren Vernunftrechte ſeines Freundes Rotteck merkwürdig
übereinſtimmten. „Eine Adelskammer wird nur allzu leicht dem Throne
auf Koſten des Volks gefährlich. Wer führte in Württemberg zuerſt
eine wahrhaft aufrühreriſche Sprache?“ Will man durchaus eine erſte
Kammer, ſo berufe man Männer, die durch ihr Alter oder ihr Amt aus-
gezeichnet ſind. Dieſe Sätze, ſo ſchloß er mit der ganzen Selbſtgefällig-
keit des jungen Liberalismus, ſind „triviale Wahrheiten, von denen die
Nachwelt nicht wird begreifen können, wie ſo nicht Alles darin überein-
ſtimmte.“*)

Ueber dieſen und anderen Streitigkeiten verging wieder eine geraume
Zeit, bis es den Gegnern der Reform endlich gelang den unentſchloſſenen
Fürſten zu einem neuen Aufſchube zu bereden. Am 29. Juli, gerade in
dem Augenblicke da Jedermann die verſprochene Einberufung des Land-
tags erwartete, wurde das Land durch ein Reſcript überraſcht, das die
Verkündigung der Conſtitution für jetzt vertagte; erſt müſſe der Bundes-
tag die leitenden Grundſätze für die deutſchen Landesverfaſſungen aufſtellen.
Und dies aus dem Munde deſſelben Fürſten, der ſich mit den Verfaſſungs-
plänen nur darum befaßt hatte, weil er ſeine Souveränität gegen die
Eingriffe des Bundes ſichern wollte! Allgemein war die Enttäuſchung,
die Entrüſtung. Die Thorheit der unbedachten Verſprechungen beſtrafte
ſich hier, wo ſo viel Grund zum Klagen vorlag, noch härter als in
Preußen. Eine giftige Schmähſchrift „Gemälde des Großherzogthums
Baden“ verhöhnte den ſchlemmenden Miniſter Hacke, der das ganze Land
in Spanferkel und Spargel verwandeln wolle. Dazu die Noth des Hunger-
jahres, der wachſende Steuerdruck, und im Oberlande lauter Unwille, als
plötzlich bekannt wurde, daß die Regierung aus Rückſichten der Sparſam-
keit die Freiburger Univerſität mit der Heidelberger zu vereinigen gedenke.
Alle Breisgauer verwünſchten dieſen Plan als einen Eingriff in ihr altes
Landesrecht; Rotteck nahm ſich ſeiner Landsleute kräftig an, er wußte
wohl, daß ſeine joſephiniſche Geſinnung in der proteſtantiſchen Luft der
Pfalz auf die Dauer nicht gedeihen konnte. Dieſem erbitterten Wider-
ſpruche fühlte ſich die Regierung nicht gewachſen; ſie gab den unglücklichen

*) Varnhagen an Berſtett, 8. Mai 1816.
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[363/0377] Vertagung der Verfaſſung. Aber auch diesmal gelangte man zu keiner Entſcheidung. Während der ehrlich conſtitutionelle Marſchall dringend rieth, die unzufriedene Ritter- ſchaft durch die Bildung einer erſten Kammer zu verſöhnen, ſprachen ſich die bonapartiſtiſchen Beamten, die geheimen Gegner der Verfaſſung, ent- ſchieden für das Einkammerſyſtem aus, weil ſie den Adel als den ge- borenen Feind des grünen Tiſches beargwöhnten, und der doctrinäre Adelshaß des preußiſchen Geſchäftsträgers arbeitete ihnen vielgeſchäftig in die Hände. Gänzlich unberufen, ohne in Berlin auch nur anzufragen, ertheilte Varnhagen dem Karlsruher Hofe ſeine Rathſchläge, die alleſammt mit dem unfehlbaren Vernunftrechte ſeines Freundes Rotteck merkwürdig übereinſtimmten. „Eine Adelskammer wird nur allzu leicht dem Throne auf Koſten des Volks gefährlich. Wer führte in Württemberg zuerſt eine wahrhaft aufrühreriſche Sprache?“ Will man durchaus eine erſte Kammer, ſo berufe man Männer, die durch ihr Alter oder ihr Amt aus- gezeichnet ſind. Dieſe Sätze, ſo ſchloß er mit der ganzen Selbſtgefällig- keit des jungen Liberalismus, ſind „triviale Wahrheiten, von denen die Nachwelt nicht wird begreifen können, wie ſo nicht Alles darin überein- ſtimmte.“ *) Ueber dieſen und anderen Streitigkeiten verging wieder eine geraume Zeit, bis es den Gegnern der Reform endlich gelang den unentſchloſſenen Fürſten zu einem neuen Aufſchube zu bereden. Am 29. Juli, gerade in dem Augenblicke da Jedermann die verſprochene Einberufung des Land- tags erwartete, wurde das Land durch ein Reſcript überraſcht, das die Verkündigung der Conſtitution für jetzt vertagte; erſt müſſe der Bundes- tag die leitenden Grundſätze für die deutſchen Landesverfaſſungen aufſtellen. Und dies aus dem Munde deſſelben Fürſten, der ſich mit den Verfaſſungs- plänen nur darum befaßt hatte, weil er ſeine Souveränität gegen die Eingriffe des Bundes ſichern wollte! Allgemein war die Enttäuſchung, die Entrüſtung. Die Thorheit der unbedachten Verſprechungen beſtrafte ſich hier, wo ſo viel Grund zum Klagen vorlag, noch härter als in Preußen. Eine giftige Schmähſchrift „Gemälde des Großherzogthums Baden“ verhöhnte den ſchlemmenden Miniſter Hacke, der das ganze Land in Spanferkel und Spargel verwandeln wolle. Dazu die Noth des Hunger- jahres, der wachſende Steuerdruck, und im Oberlande lauter Unwille, als plötzlich bekannt wurde, daß die Regierung aus Rückſichten der Sparſam- keit die Freiburger Univerſität mit der Heidelberger zu vereinigen gedenke. Alle Breisgauer verwünſchten dieſen Plan als einen Eingriff in ihr altes Landesrecht; Rotteck nahm ſich ſeiner Landsleute kräftig an, er wußte wohl, daß ſeine joſephiniſche Geſinnung in der proteſtantiſchen Luft der Pfalz auf die Dauer nicht gedeihen konnte. Dieſem erbitterten Wider- ſpruche fühlte ſich die Regierung nicht gewachſen; ſie gab den unglücklichen *) Varnhagen an Berſtett, 8. Mai 1816.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 363. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/377>, abgerufen am 22.11.2024.