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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Eröffnung des Landtags.
Volk habe seine Vertreter nur in der Voraussetzung gewählt, daß keine
andere Basis als die von den Voreltern ererbte und von allen Regenten
beschworene Constitution Württembergs den Verhandlungen zu Grunde
gelegt würde. Einstimmig, in leidenschaftlicher Erregung genehmigte der
Landtag die Adresse. Die neue Verfassung blieb unbeachtet auf dem Tische
des Hauses liegen, sie ward in wenigen Augenblicken ein werthloses Stück
Papier.

Das schroffe Auftreten der Stände gab das Signal für den Losbruch
der Volksleidenschaften. Der ständische Trotz der guten alten Zeit, die
radikalen Stimmungen der neunziger Jahre, der verhaltene Ingrimm der
rheinbündischen Tage und die neuen Freiheitswünsche, welche der Kampf
gegen Napoleon erregt hatte, brausten durcheinander. Wie viel näher als die
nebelhaften Fragen der deutschen Politik lagen doch diesem Geschlechte die
handgreiflichen Nöthe der Heimath! Die Petition an den Bundestag um
Erfüllung des Art. 13 fand in Schwaben kaum vereinzelte Unterzeichner;
der Stuttgarter Landtag aber ward mit Bittschriften, Beschwerden und Zu-
stimmungserklärungen überschüttet. Eine Unzahl streitbarer Flugschriften
trat für die Stände in die Schranken, manche mit jakobinischer Wildheit.
Eine "Appellation an die hohen Befreier Deutschlands" trug auf dem
Titel die drohende Bemerkung "Imprimatur kraft der Censurfreiheit der
württembergischen Landschaft" und stellte die Frage: "Was kostet diese
Krone?" Die Antwort lautete: "Einen himmelschreienden Eidbruch, viele
tausende erzwungener Meineide, Gewaltthaten ohne Zahl, Erpressungen
der Willkür und des Uebermuths, und dazu in den Kauf das Menschen-
blut von 30--40,000 aus der hoffnungsvollen Jugend der Landeskinder!
Das Blut so vieler tausend Geopferter walle, sprudle, glühe um den
Stuhl des Despoten!" Eine zweite "Appellation" verlangte "eine Eidver-
brüderung aller rechtlichen Männer für Recht und nichts als Recht aber
auch für altes gutes Recht, mit der Losung: Gott und unsere Rechte!
Rechtlich frei, so rechtlich treu!" Also flog der heilige, deutschen Herzen
so unwiderstehliche Name des Rechtes in hundertfachem Widerhall hin
und her; mit einigen sophistischen Scheingründen halfen sich die Aufge-
regten hinweg über die unbestreitbare Thatsache, daß jenes alte Recht in
der größeren Hälfte des Landes niemals bestanden hatte. Begeistert nahm
die gesammte deutsche Presse Partei für den Landtag, weil er die beiden hei-
ligsten Empfindungen der Zeit, die treue Liebe zum heimathlichen Brauche
und die unbestimmte Freiheitsehnsucht zugleich vertrat. Nur die Mün-
chener Allemannia verfocht wie immer die Sache des rheinbündischen
Absolutismus.

Auf die Adresse der Stände folgten scharfe Rechtsverwahrungen
der Mediatisirten, der katholischen und lutherischen Prälaten. Sogar
die Agnaten des königlichen Hauses protestirten gegen das neue harte
Hausgesetz, an ihrer Spitze Herzog Paul, ein wüster Mensch von un-

Eröffnung des Landtags.
Volk habe ſeine Vertreter nur in der Vorausſetzung gewählt, daß keine
andere Baſis als die von den Voreltern ererbte und von allen Regenten
beſchworene Conſtitution Württembergs den Verhandlungen zu Grunde
gelegt würde. Einſtimmig, in leidenſchaftlicher Erregung genehmigte der
Landtag die Adreſſe. Die neue Verfaſſung blieb unbeachtet auf dem Tiſche
des Hauſes liegen, ſie ward in wenigen Augenblicken ein werthloſes Stück
Papier.

Das ſchroffe Auftreten der Stände gab das Signal für den Losbruch
der Volksleidenſchaften. Der ſtändiſche Trotz der guten alten Zeit, die
radikalen Stimmungen der neunziger Jahre, der verhaltene Ingrimm der
rheinbündiſchen Tage und die neuen Freiheitswünſche, welche der Kampf
gegen Napoleon erregt hatte, brauſten durcheinander. Wie viel näher als die
nebelhaften Fragen der deutſchen Politik lagen doch dieſem Geſchlechte die
handgreiflichen Nöthe der Heimath! Die Petition an den Bundestag um
Erfüllung des Art. 13 fand in Schwaben kaum vereinzelte Unterzeichner;
der Stuttgarter Landtag aber ward mit Bittſchriften, Beſchwerden und Zu-
ſtimmungserklärungen überſchüttet. Eine Unzahl ſtreitbarer Flugſchriften
trat für die Stände in die Schranken, manche mit jakobiniſcher Wildheit.
Eine „Appellation an die hohen Befreier Deutſchlands“ trug auf dem
Titel die drohende Bemerkung „Imprimatur kraft der Cenſurfreiheit der
württembergiſchen Landſchaft“ und ſtellte die Frage: „Was koſtet dieſe
Krone?“ Die Antwort lautete: „Einen himmelſchreienden Eidbruch, viele
tauſende erzwungener Meineide, Gewaltthaten ohne Zahl, Erpreſſungen
der Willkür und des Uebermuths, und dazu in den Kauf das Menſchen-
blut von 30—40,000 aus der hoffnungsvollen Jugend der Landeskinder!
Das Blut ſo vieler tauſend Geopferter walle, ſprudle, glühe um den
Stuhl des Despoten!“ Eine zweite „Appellation“ verlangte „eine Eidver-
brüderung aller rechtlichen Männer für Recht und nichts als Recht aber
auch für altes gutes Recht, mit der Loſung: Gott und unſere Rechte!
Rechtlich frei, ſo rechtlich treu!“ Alſo flog der heilige, deutſchen Herzen
ſo unwiderſtehliche Name des Rechtes in hundertfachem Widerhall hin
und her; mit einigen ſophiſtiſchen Scheingründen halfen ſich die Aufge-
regten hinweg über die unbeſtreitbare Thatſache, daß jenes alte Recht in
der größeren Hälfte des Landes niemals beſtanden hatte. Begeiſtert nahm
die geſammte deutſche Preſſe Partei für den Landtag, weil er die beiden hei-
ligſten Empfindungen der Zeit, die treue Liebe zum heimathlichen Brauche
und die unbeſtimmte Freiheitsehnſucht zugleich vertrat. Nur die Mün-
chener Allemannia verfocht wie immer die Sache des rheinbündiſchen
Abſolutismus.

Auf die Adreſſe der Stände folgten ſcharfe Rechtsverwahrungen
der Mediatiſirten, der katholiſchen und lutheriſchen Prälaten. Sogar
die Agnaten des königlichen Hauſes proteſtirten gegen das neue harte
Hausgeſetz, an ihrer Spitze Herzog Paul, ein wüſter Menſch von un-

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[309/0323] Eröffnung des Landtags. Volk habe ſeine Vertreter nur in der Vorausſetzung gewählt, daß keine andere Baſis als die von den Voreltern ererbte und von allen Regenten beſchworene Conſtitution Württembergs den Verhandlungen zu Grunde gelegt würde. Einſtimmig, in leidenſchaftlicher Erregung genehmigte der Landtag die Adreſſe. Die neue Verfaſſung blieb unbeachtet auf dem Tiſche des Hauſes liegen, ſie ward in wenigen Augenblicken ein werthloſes Stück Papier. Das ſchroffe Auftreten der Stände gab das Signal für den Losbruch der Volksleidenſchaften. Der ſtändiſche Trotz der guten alten Zeit, die radikalen Stimmungen der neunziger Jahre, der verhaltene Ingrimm der rheinbündiſchen Tage und die neuen Freiheitswünſche, welche der Kampf gegen Napoleon erregt hatte, brauſten durcheinander. Wie viel näher als die nebelhaften Fragen der deutſchen Politik lagen doch dieſem Geſchlechte die handgreiflichen Nöthe der Heimath! Die Petition an den Bundestag um Erfüllung des Art. 13 fand in Schwaben kaum vereinzelte Unterzeichner; der Stuttgarter Landtag aber ward mit Bittſchriften, Beſchwerden und Zu- ſtimmungserklärungen überſchüttet. Eine Unzahl ſtreitbarer Flugſchriften trat für die Stände in die Schranken, manche mit jakobiniſcher Wildheit. Eine „Appellation an die hohen Befreier Deutſchlands“ trug auf dem Titel die drohende Bemerkung „Imprimatur kraft der Cenſurfreiheit der württembergiſchen Landſchaft“ und ſtellte die Frage: „Was koſtet dieſe Krone?“ Die Antwort lautete: „Einen himmelſchreienden Eidbruch, viele tauſende erzwungener Meineide, Gewaltthaten ohne Zahl, Erpreſſungen der Willkür und des Uebermuths, und dazu in den Kauf das Menſchen- blut von 30—40,000 aus der hoffnungsvollen Jugend der Landeskinder! Das Blut ſo vieler tauſend Geopferter walle, ſprudle, glühe um den Stuhl des Despoten!“ Eine zweite „Appellation“ verlangte „eine Eidver- brüderung aller rechtlichen Männer für Recht und nichts als Recht aber auch für altes gutes Recht, mit der Loſung: Gott und unſere Rechte! Rechtlich frei, ſo rechtlich treu!“ Alſo flog der heilige, deutſchen Herzen ſo unwiderſtehliche Name des Rechtes in hundertfachem Widerhall hin und her; mit einigen ſophiſtiſchen Scheingründen halfen ſich die Aufge- regten hinweg über die unbeſtreitbare Thatſache, daß jenes alte Recht in der größeren Hälfte des Landes niemals beſtanden hatte. Begeiſtert nahm die geſammte deutſche Preſſe Partei für den Landtag, weil er die beiden hei- ligſten Empfindungen der Zeit, die treue Liebe zum heimathlichen Brauche und die unbeſtimmte Freiheitsehnſucht zugleich vertrat. Nur die Mün- chener Allemannia verfocht wie immer die Sache des rheinbündiſchen Abſolutismus. Auf die Adreſſe der Stände folgten ſcharfe Rechtsverwahrungen der Mediatiſirten, der katholiſchen und lutheriſchen Prälaten. Sogar die Agnaten des königlichen Hauſes proteſtirten gegen das neue harte Hausgeſetz, an ihrer Spitze Herzog Paul, ein wüſter Menſch von un-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/323>, abgerufen am 22.11.2024.