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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Linie und Landwehr.
Heeres standen wieder vor der nämlichen Aufgabe, welche einst Carnot in
seiner Weise gelöst hatte als er aus den weißen Linienregimentern der
Bourbonen und den blauen Nationalgarden der Republik seine neuen
Halbbrigaden zusammenschmolz.

Bei diesen Berathungen ergab sich bald eine Meinungsverschieden-
heit zwischen dem König und dem Kriegsminister. Boyen überschätzte doch
die Kriegstüchtigkeit seiner Landwehr, obschon er natürlich die volksthüm-
lichen Fabeln nicht glaubte. Er urtheilte nach seinen Erfahrungen beim
Bülow'schen Corps; hier war die Landwehr immer gut beisammen ge-
blieben, da sie erst unter Bernadottes schlaffer Führung, dann auf dem
bequemen holländischen Feldzuge nur selten zu Gewaltmärschen und außer-
ordentlichen Strapazen gezwungen wurde. Dem Könige dagegen stand
noch in frischer Erinnerung, wie haltlos die Landwehr des Kleist'schen
Corps während der furchtbaren Regentage nach der Dresdner Schlacht
sich gezeigt; er wußte auch, daß im Feldzuge von 1815 drei Viertel der
Versprengten der Landwehr angehört hatten. Um die Wiederkehr solchen
Unheils zu verhüten, wollte der König die Landwehr stets mit der Linie
vereinigt ihre Uebungen abhalten lassen, je eine Brigade der Linie und
der Landwehr zu einer Division verbinden, zahlreiche Offiziere der Linie
zur Landwehr abcommandiren und die höheren Stellen regelmäßig nur
Linienoffizieren anvertrauen, während Boyen die vollständige Trennung
der beiden Offiziercorps beizubehalten rieth, damit Reibungen zwischen
Militär und Civil verhütet würden und der eigenthümliche Geist der Land-
wehr ungestört bliebe.

Mittlerweile wagte Herzog Karl von Mecklenburg den ersten offenen
Angriff gegen die Grundlagen des neuen Heerwesens. Er überreichte um
Neujahr 1818 seinem königlichen Schwager eine lange Denkschrift, welche
ohne eigene Vorschläge aufzustellen mit düsteren Farben die schweren den
Thron bedrohenden Gefahren schilderte, die Zügellosigkeit der Presse, den
Uebermuth der Studenten und vor Allem die Boyen'sche Heeresverfassung:
sie drücke den Aufrührern die Waffen in die Hände; selbst der Landwehr-
zeughäuser war nicht vergessen, die so leicht einem meuternden Haufen
zur Beute fallen könnten.*) Die reactionäre Partei wagte sich endlich
mit ihren Herzenswünschen heraus. Auch Knesebeck stimmte dem Herzog
bei, und sogar dem tapferen Prinzen August, der einst unter den Ersten
den Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht vertheidigt hatte, erschienen
jetzt die unleugbaren Mängel der Landwehrordnung so bedenklich, daß er
die Umkehr zu dem alten Beurlaubungssysteme empfahl. Mit dem ganzen
Unwillen seines ehrlichen Herzens wendete sich Witzleben gegen die Männer,
"welche den Regenten vom Volke, das Haupt vom Rumpfe zu trennen

*) Der wesentliche Inhalt dieser Denkschrift erhellt aus Witzlebens Entgegnungsschrift
vom 25. Januar 1818 (bei Dorow, Witzleben, S. 93). Die Person ihres Verfassers
ergiebt sich aus einer Bemerkung in Witzlebens Tagebuch, Mai 1819.

Linie und Landwehr.
Heeres ſtanden wieder vor der nämlichen Aufgabe, welche einſt Carnot in
ſeiner Weiſe gelöſt hatte als er aus den weißen Linienregimentern der
Bourbonen und den blauen Nationalgarden der Republik ſeine neuen
Halbbrigaden zuſammenſchmolz.

Bei dieſen Berathungen ergab ſich bald eine Meinungsverſchieden-
heit zwiſchen dem König und dem Kriegsminiſter. Boyen überſchätzte doch
die Kriegstüchtigkeit ſeiner Landwehr, obſchon er natürlich die volksthüm-
lichen Fabeln nicht glaubte. Er urtheilte nach ſeinen Erfahrungen beim
Bülow’ſchen Corps; hier war die Landwehr immer gut beiſammen ge-
blieben, da ſie erſt unter Bernadottes ſchlaffer Führung, dann auf dem
bequemen holländiſchen Feldzuge nur ſelten zu Gewaltmärſchen und außer-
ordentlichen Strapazen gezwungen wurde. Dem Könige dagegen ſtand
noch in friſcher Erinnerung, wie haltlos die Landwehr des Kleiſt’ſchen
Corps während der furchtbaren Regentage nach der Dresdner Schlacht
ſich gezeigt; er wußte auch, daß im Feldzuge von 1815 drei Viertel der
Verſprengten der Landwehr angehört hatten. Um die Wiederkehr ſolchen
Unheils zu verhüten, wollte der König die Landwehr ſtets mit der Linie
vereinigt ihre Uebungen abhalten laſſen, je eine Brigade der Linie und
der Landwehr zu einer Diviſion verbinden, zahlreiche Offiziere der Linie
zur Landwehr abcommandiren und die höheren Stellen regelmäßig nur
Linienoffizieren anvertrauen, während Boyen die vollſtändige Trennung
der beiden Offiziercorps beizubehalten rieth, damit Reibungen zwiſchen
Militär und Civil verhütet würden und der eigenthümliche Geiſt der Land-
wehr ungeſtört bliebe.

Mittlerweile wagte Herzog Karl von Mecklenburg den erſten offenen
Angriff gegen die Grundlagen des neuen Heerweſens. Er überreichte um
Neujahr 1818 ſeinem königlichen Schwager eine lange Denkſchrift, welche
ohne eigene Vorſchläge aufzuſtellen mit düſteren Farben die ſchweren den
Thron bedrohenden Gefahren ſchilderte, die Zügelloſigkeit der Preſſe, den
Uebermuth der Studenten und vor Allem die Boyen’ſche Heeresverfaſſung:
ſie drücke den Aufrührern die Waffen in die Hände; ſelbſt der Landwehr-
zeughäuſer war nicht vergeſſen, die ſo leicht einem meuternden Haufen
zur Beute fallen könnten.*) Die reactionäre Partei wagte ſich endlich
mit ihren Herzenswünſchen heraus. Auch Kneſebeck ſtimmte dem Herzog
bei, und ſogar dem tapferen Prinzen Auguſt, der einſt unter den Erſten
den Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht vertheidigt hatte, erſchienen
jetzt die unleugbaren Mängel der Landwehrordnung ſo bedenklich, daß er
die Umkehr zu dem alten Beurlaubungsſyſteme empfahl. Mit dem ganzen
Unwillen ſeines ehrlichen Herzens wendete ſich Witzleben gegen die Männer,
„welche den Regenten vom Volke, das Haupt vom Rumpfe zu trennen

*) Der weſentliche Inhalt dieſer Denkſchrift erhellt aus Witzlebens Entgegnungsſchrift
vom 25. Januar 1818 (bei Dorow, Witzleben, S. 93). Die Perſon ihres Verfaſſers
ergiebt ſich aus einer Bemerkung in Witzlebens Tagebuch, Mai 1819.
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[229/0243] Linie und Landwehr. Heeres ſtanden wieder vor der nämlichen Aufgabe, welche einſt Carnot in ſeiner Weiſe gelöſt hatte als er aus den weißen Linienregimentern der Bourbonen und den blauen Nationalgarden der Republik ſeine neuen Halbbrigaden zuſammenſchmolz. Bei dieſen Berathungen ergab ſich bald eine Meinungsverſchieden- heit zwiſchen dem König und dem Kriegsminiſter. Boyen überſchätzte doch die Kriegstüchtigkeit ſeiner Landwehr, obſchon er natürlich die volksthüm- lichen Fabeln nicht glaubte. Er urtheilte nach ſeinen Erfahrungen beim Bülow’ſchen Corps; hier war die Landwehr immer gut beiſammen ge- blieben, da ſie erſt unter Bernadottes ſchlaffer Führung, dann auf dem bequemen holländiſchen Feldzuge nur ſelten zu Gewaltmärſchen und außer- ordentlichen Strapazen gezwungen wurde. Dem Könige dagegen ſtand noch in friſcher Erinnerung, wie haltlos die Landwehr des Kleiſt’ſchen Corps während der furchtbaren Regentage nach der Dresdner Schlacht ſich gezeigt; er wußte auch, daß im Feldzuge von 1815 drei Viertel der Verſprengten der Landwehr angehört hatten. Um die Wiederkehr ſolchen Unheils zu verhüten, wollte der König die Landwehr ſtets mit der Linie vereinigt ihre Uebungen abhalten laſſen, je eine Brigade der Linie und der Landwehr zu einer Diviſion verbinden, zahlreiche Offiziere der Linie zur Landwehr abcommandiren und die höheren Stellen regelmäßig nur Linienoffizieren anvertrauen, während Boyen die vollſtändige Trennung der beiden Offiziercorps beizubehalten rieth, damit Reibungen zwiſchen Militär und Civil verhütet würden und der eigenthümliche Geiſt der Land- wehr ungeſtört bliebe. Mittlerweile wagte Herzog Karl von Mecklenburg den erſten offenen Angriff gegen die Grundlagen des neuen Heerweſens. Er überreichte um Neujahr 1818 ſeinem königlichen Schwager eine lange Denkſchrift, welche ohne eigene Vorſchläge aufzuſtellen mit düſteren Farben die ſchweren den Thron bedrohenden Gefahren ſchilderte, die Zügelloſigkeit der Preſſe, den Uebermuth der Studenten und vor Allem die Boyen’ſche Heeresverfaſſung: ſie drücke den Aufrührern die Waffen in die Hände; ſelbſt der Landwehr- zeughäuſer war nicht vergeſſen, die ſo leicht einem meuternden Haufen zur Beute fallen könnten. *) Die reactionäre Partei wagte ſich endlich mit ihren Herzenswünſchen heraus. Auch Kneſebeck ſtimmte dem Herzog bei, und ſogar dem tapferen Prinzen Auguſt, der einſt unter den Erſten den Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht vertheidigt hatte, erſchienen jetzt die unleugbaren Mängel der Landwehrordnung ſo bedenklich, daß er die Umkehr zu dem alten Beurlaubungsſyſteme empfahl. Mit dem ganzen Unwillen ſeines ehrlichen Herzens wendete ſich Witzleben gegen die Männer, „welche den Regenten vom Volke, das Haupt vom Rumpfe zu trennen *) Der weſentliche Inhalt dieſer Denkſchrift erhellt aus Witzlebens Entgegnungsſchrift vom 25. Januar 1818 (bei Dorow, Witzleben, S. 93). Die Perſon ihres Verfaſſers ergiebt ſich aus einer Bemerkung in Witzlebens Tagebuch, Mai 1819.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/243>, abgerufen am 06.05.2024.