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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 5. Die Wiederherstellung des preußischen Staates.
Lobsprüchen zu überhäufen, die von der strengen Zucht der Linie seltsam
abstachen. Im Volke hatten sich die alten Märchen von den Landwehr-
schlachten des Befreiungskrieges allmählich fest eingenistet; die Landwehr
galt als das eigentliche Volksheer, als die feste Säule der preußischen
Macht; alle Welt strömte in festlichem Jubel zusammen wenn sie ihre
Uebungen hielt, und die Bureaukratie theilte diese Vorliebe, da ein großer
Theil der Landwehroffiziere aus dem Beamtenthum hervorging.

Dem sicheren Soldatenblicke des Königs entging gleichwohl nicht, wie
viel dieser volksthümlichen Truppe noch zur vollen Kriegstüchtigkeit fehlte;
selbst General Kleist und andere Freunde der Landwehr konnten dem Kriegs-
herrn nicht verhehlen, daß die Reiterei wenig genügte und auch das Fuß-
volk bei größeren Uebungen nur unter der Leitung abcommandirter Linien-
offiziere Tüchtiges leistete.*) Und doch mußte diese Reservearmee, wegen
der Kleinheit des Linienheeres, beim Ausbruch eines Krieges sofort gegen
den Feind geführt werden. Was im Sommer 1813 nur die äußerste
Noth erzwungen hatte, sollte jetzt die Regel bilden. Trat die Mobilmachung
ein, so ward die Feldarmee sofort auf 298,000 Mann verstärkt, wovon
die größere Hälfte (sieben Jahrgänge unter zwölf) aus Landwehren ersten
Aufgebotes bestand; selbst wenn nur eine diplomatisch-militärische Drohung
beabsichtigt war, sah sich der Staat gezwungen sogleich alle Wehrpflichtigen
bis zum zweiunddreißigsten Lebensjahre hinauf unter die Fahnen zu rufen,
tausende von Familien ihrer Ernährer zu berauben, das gesammte bürger-
liche Leben schwer zu schädigen. Zwar mußte, bei dem schwerfälligen
Verkehre jener Zeit, der größte Theil des Heeres volle fünf Wochen auf
dem Marsche verbringen bevor er den Feind erreichen konnte; aber genügte
diese kurze Frist um die mangelhafte Ausbildung der Landwehrrekruten
zu ergänzen? Und wie viel ungünstiger hatte sich doch die militärische
Lage des Staatsgebietes gestaltet; der Staat war nicht mehr durch seine
alten Vorlande, Polen und das Rheingebiet, gegen den ersten Ansturm
der Feinde gedeckt, er grenzte jetzt unmittelbar an drei Großmächte. Grundes
genug zu schweren Bedenken. Unablässig, in tiefer Besorgniß, suchte der
König nach der rechten Antwort auf alle die militärischen, politischen und
volkswirthschaftlichen Fragen, welche das große Problem der allgemeinen
Wehrpflicht umfaßte, und besprach sich darüber mit dem getreuen Witz-
leben. An dem häßlichsten Mangel des neuen Systems, an der Unmög-
lichkeit, die gesammte Jugend durch die Schule des Heeres gehen zu lassen,
ließ sich leider für jetzt nichts ändern; eine so beträchtliche Vermehrung
der Linie konnte weder der Staatshaushalt noch der Volkswohlstand er-
tragen. Aber gab es kein Mittel um die Landwehr schon im Frieden so
fest mit der Linie zu verbinden, daß die Feldarmee nicht mehr in zwei
ganz ungleichartige Hälften zerfiel? Die Organisatoren des preußischen

*) Kleists Bericht an den König über die Landwehrübungen in Sachsen, 24. Nov. 1817.

II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
Lobſprüchen zu überhäufen, die von der ſtrengen Zucht der Linie ſeltſam
abſtachen. Im Volke hatten ſich die alten Märchen von den Landwehr-
ſchlachten des Befreiungskrieges allmählich feſt eingeniſtet; die Landwehr
galt als das eigentliche Volksheer, als die feſte Säule der preußiſchen
Macht; alle Welt ſtrömte in feſtlichem Jubel zuſammen wenn ſie ihre
Uebungen hielt, und die Bureaukratie theilte dieſe Vorliebe, da ein großer
Theil der Landwehroffiziere aus dem Beamtenthum hervorging.

Dem ſicheren Soldatenblicke des Königs entging gleichwohl nicht, wie
viel dieſer volksthümlichen Truppe noch zur vollen Kriegstüchtigkeit fehlte;
ſelbſt General Kleiſt und andere Freunde der Landwehr konnten dem Kriegs-
herrn nicht verhehlen, daß die Reiterei wenig genügte und auch das Fuß-
volk bei größeren Uebungen nur unter der Leitung abcommandirter Linien-
offiziere Tüchtiges leiſtete.*) Und doch mußte dieſe Reſervearmee, wegen
der Kleinheit des Linienheeres, beim Ausbruch eines Krieges ſofort gegen
den Feind geführt werden. Was im Sommer 1813 nur die äußerſte
Noth erzwungen hatte, ſollte jetzt die Regel bilden. Trat die Mobilmachung
ein, ſo ward die Feldarmee ſofort auf 298,000 Mann verſtärkt, wovon
die größere Hälfte (ſieben Jahrgänge unter zwölf) aus Landwehren erſten
Aufgebotes beſtand; ſelbſt wenn nur eine diplomatiſch-militäriſche Drohung
beabſichtigt war, ſah ſich der Staat gezwungen ſogleich alle Wehrpflichtigen
bis zum zweiunddreißigſten Lebensjahre hinauf unter die Fahnen zu rufen,
tauſende von Familien ihrer Ernährer zu berauben, das geſammte bürger-
liche Leben ſchwer zu ſchädigen. Zwar mußte, bei dem ſchwerfälligen
Verkehre jener Zeit, der größte Theil des Heeres volle fünf Wochen auf
dem Marſche verbringen bevor er den Feind erreichen konnte; aber genügte
dieſe kurze Friſt um die mangelhafte Ausbildung der Landwehrrekruten
zu ergänzen? Und wie viel ungünſtiger hatte ſich doch die militäriſche
Lage des Staatsgebietes geſtaltet; der Staat war nicht mehr durch ſeine
alten Vorlande, Polen und das Rheingebiet, gegen den erſten Anſturm
der Feinde gedeckt, er grenzte jetzt unmittelbar an drei Großmächte. Grundes
genug zu ſchweren Bedenken. Unabläſſig, in tiefer Beſorgniß, ſuchte der
König nach der rechten Antwort auf alle die militäriſchen, politiſchen und
volkswirthſchaftlichen Fragen, welche das große Problem der allgemeinen
Wehrpflicht umfaßte, und beſprach ſich darüber mit dem getreuen Witz-
leben. An dem häßlichſten Mangel des neuen Syſtems, an der Unmög-
lichkeit, die geſammte Jugend durch die Schule des Heeres gehen zu laſſen,
ließ ſich leider für jetzt nichts ändern; eine ſo beträchtliche Vermehrung
der Linie konnte weder der Staatshaushalt noch der Volkswohlſtand er-
tragen. Aber gab es kein Mittel um die Landwehr ſchon im Frieden ſo
feſt mit der Linie zu verbinden, daß die Feldarmee nicht mehr in zwei
ganz ungleichartige Hälften zerfiel? Die Organiſatoren des preußiſchen

*) Kleiſts Bericht an den König über die Landwehrübungen in Sachſen, 24. Nov. 1817.
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[228/0242] II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates. Lobſprüchen zu überhäufen, die von der ſtrengen Zucht der Linie ſeltſam abſtachen. Im Volke hatten ſich die alten Märchen von den Landwehr- ſchlachten des Befreiungskrieges allmählich feſt eingeniſtet; die Landwehr galt als das eigentliche Volksheer, als die feſte Säule der preußiſchen Macht; alle Welt ſtrömte in feſtlichem Jubel zuſammen wenn ſie ihre Uebungen hielt, und die Bureaukratie theilte dieſe Vorliebe, da ein großer Theil der Landwehroffiziere aus dem Beamtenthum hervorging. Dem ſicheren Soldatenblicke des Königs entging gleichwohl nicht, wie viel dieſer volksthümlichen Truppe noch zur vollen Kriegstüchtigkeit fehlte; ſelbſt General Kleiſt und andere Freunde der Landwehr konnten dem Kriegs- herrn nicht verhehlen, daß die Reiterei wenig genügte und auch das Fuß- volk bei größeren Uebungen nur unter der Leitung abcommandirter Linien- offiziere Tüchtiges leiſtete. *) Und doch mußte dieſe Reſervearmee, wegen der Kleinheit des Linienheeres, beim Ausbruch eines Krieges ſofort gegen den Feind geführt werden. Was im Sommer 1813 nur die äußerſte Noth erzwungen hatte, ſollte jetzt die Regel bilden. Trat die Mobilmachung ein, ſo ward die Feldarmee ſofort auf 298,000 Mann verſtärkt, wovon die größere Hälfte (ſieben Jahrgänge unter zwölf) aus Landwehren erſten Aufgebotes beſtand; ſelbſt wenn nur eine diplomatiſch-militäriſche Drohung beabſichtigt war, ſah ſich der Staat gezwungen ſogleich alle Wehrpflichtigen bis zum zweiunddreißigſten Lebensjahre hinauf unter die Fahnen zu rufen, tauſende von Familien ihrer Ernährer zu berauben, das geſammte bürger- liche Leben ſchwer zu ſchädigen. Zwar mußte, bei dem ſchwerfälligen Verkehre jener Zeit, der größte Theil des Heeres volle fünf Wochen auf dem Marſche verbringen bevor er den Feind erreichen konnte; aber genügte dieſe kurze Friſt um die mangelhafte Ausbildung der Landwehrrekruten zu ergänzen? Und wie viel ungünſtiger hatte ſich doch die militäriſche Lage des Staatsgebietes geſtaltet; der Staat war nicht mehr durch ſeine alten Vorlande, Polen und das Rheingebiet, gegen den erſten Anſturm der Feinde gedeckt, er grenzte jetzt unmittelbar an drei Großmächte. Grundes genug zu ſchweren Bedenken. Unabläſſig, in tiefer Beſorgniß, ſuchte der König nach der rechten Antwort auf alle die militäriſchen, politiſchen und volkswirthſchaftlichen Fragen, welche das große Problem der allgemeinen Wehrpflicht umfaßte, und beſprach ſich darüber mit dem getreuen Witz- leben. An dem häßlichſten Mangel des neuen Syſtems, an der Unmög- lichkeit, die geſammte Jugend durch die Schule des Heeres gehen zu laſſen, ließ ſich leider für jetzt nichts ändern; eine ſo beträchtliche Vermehrung der Linie konnte weder der Staatshaushalt noch der Volkswohlſtand er- tragen. Aber gab es kein Mittel um die Landwehr ſchon im Frieden ſo feſt mit der Linie zu verbinden, daß die Feldarmee nicht mehr in zwei ganz ungleichartige Hälften zerfiel? Die Organiſatoren des preußiſchen *) Kleiſts Bericht an den König über die Landwehrübungen in Sachſen, 24. Nov. 1817.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/242>, abgerufen am 25.11.2024.