Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.Die Landwehr-Ordnung. 1815 sagte noch bescheidener: "an den mäßigen Umfang des stehenden Heeresschließt sich künftig die Landwehr." Die Friedensstärke des Heeres ward dem- nach vorläufig auf kaum ein Procent der Bevölkerung festgestellt; sie betrug, mit Einschluß des Armeecorps in Frankreich, 115,000 Mann, nicht mehr als im Jahre 1806. Allerdings erhielt die eingestellte Mannschaft jetzt in dreijährigem ununterbrochenem Dienste eine weit sorgfältigere Schulung als einst in den letzten Zeiten der alten Heeresverfassung, wo die Beur- laubungen so sehr überhand nahmen, daß die Mehrzahl der Soldaten trotz der zwanzigjährigen Dienstpflicht nur etwa 22 Monate unter den Fahnen blieb. Auch die Vereinigung des Heeres in den Festungen und größeren Städten kam der Ausbildung der Truppen zu statten und blieb aufrecht, obwohl die verlassenen kleinen Garnisonen den Thron mit Bitten bestürmten. Aber für die militärische Erziehung der gesammten wehr- fähigen Jugend reichte diese schwache Friedensarmee mit ihren 38 (später 44) Infanterie-Regimentern nicht entfernt aus. Sie konnte ihrer Auf- gabe um so weniger genügen, da die Bevölkerung sehr schnell zunahm, wie dies bei kräftigen Nationen nach dem Abschluß verheerender Kriege regelmäßig geschieht. Ueberdies bestand noch ein volles Drittel des stehenden Heeres aus Capitulanten, die freiwillig über drei Jahre hinaus dienten; die alten Gewohnheiten des Berufssoldatenthums wirkten noch nach, und in der erwerblosen Zeit erschien der Militärdienst Vielen als eine leidliche Versorgung. Ein sehr großer Theil der Wehrfähigen mußte also zurück- gestellt werden, wobei denn anfangs manche erbitternde Willkür mit unter- lief: hier wurden die Ueberzähligen durch eine gutmüthige Ersatzcommission ganz von der Dienstpflicht entbunden, dort wählte ein Offizier, dem die altpreußische Vorliebe für die langen Kerle noch in den Gliedern lag, die Mannschaften nach der Größe aus. Endlich führte man das Loosen ein und ließ die Freigeloosten als Landwehrrekruten drei Monate lang durch abcommandirte Offiziere der Linie nothdürftig einüben, um sie dann der Landwehr zuzuweisen. Die Landwehr bestand mithin zum Theil aus alten Soldaten, zum 15*
Die Landwehr-Ordnung. 1815 ſagte noch beſcheidener: „an den mäßigen Umfang des ſtehenden Heeresſchließt ſich künftig die Landwehr.“ Die Friedensſtärke des Heeres ward dem- nach vorläufig auf kaum ein Procent der Bevölkerung feſtgeſtellt; ſie betrug, mit Einſchluß des Armeecorps in Frankreich, 115,000 Mann, nicht mehr als im Jahre 1806. Allerdings erhielt die eingeſtellte Mannſchaft jetzt in dreijährigem ununterbrochenem Dienſte eine weit ſorgfältigere Schulung als einſt in den letzten Zeiten der alten Heeresverfaſſung, wo die Beur- laubungen ſo ſehr überhand nahmen, daß die Mehrzahl der Soldaten trotz der zwanzigjährigen Dienſtpflicht nur etwa 22 Monate unter den Fahnen blieb. Auch die Vereinigung des Heeres in den Feſtungen und größeren Städten kam der Ausbildung der Truppen zu ſtatten und blieb aufrecht, obwohl die verlaſſenen kleinen Garniſonen den Thron mit Bitten beſtürmten. Aber für die militäriſche Erziehung der geſammten wehr- fähigen Jugend reichte dieſe ſchwache Friedensarmee mit ihren 38 (ſpäter 44) Infanterie-Regimentern nicht entfernt aus. Sie konnte ihrer Auf- gabe um ſo weniger genügen, da die Bevölkerung ſehr ſchnell zunahm, wie dies bei kräftigen Nationen nach dem Abſchluß verheerender Kriege regelmäßig geſchieht. Ueberdies beſtand noch ein volles Drittel des ſtehenden Heeres aus Capitulanten, die freiwillig über drei Jahre hinaus dienten; die alten Gewohnheiten des Berufsſoldatenthums wirkten noch nach, und in der erwerbloſen Zeit erſchien der Militärdienſt Vielen als eine leidliche Verſorgung. Ein ſehr großer Theil der Wehrfähigen mußte alſo zurück- geſtellt werden, wobei denn anfangs manche erbitternde Willkür mit unter- lief: hier wurden die Ueberzähligen durch eine gutmüthige Erſatzcommiſſion ganz von der Dienſtpflicht entbunden, dort wählte ein Offizier, dem die altpreußiſche Vorliebe für die langen Kerle noch in den Gliedern lag, die Mannſchaften nach der Größe aus. Endlich führte man das Looſen ein und ließ die Freigelooſten als Landwehrrekruten drei Monate lang durch abcommandirte Offiziere der Linie nothdürftig einüben, um ſie dann der Landwehr zuzuweiſen. Die Landwehr beſtand mithin zum Theil aus alten Soldaten, zum 15*
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Die Landwehr-Ordnung.
1815 ſagte noch beſcheidener: „an den mäßigen Umfang des ſtehenden Heeres
ſchließt ſich künftig die Landwehr.“ Die Friedensſtärke des Heeres ward dem-
nach vorläufig auf kaum ein Procent der Bevölkerung feſtgeſtellt; ſie betrug,
mit Einſchluß des Armeecorps in Frankreich, 115,000 Mann, nicht mehr
als im Jahre 1806. Allerdings erhielt die eingeſtellte Mannſchaft jetzt
in dreijährigem ununterbrochenem Dienſte eine weit ſorgfältigere Schulung
als einſt in den letzten Zeiten der alten Heeresverfaſſung, wo die Beur-
laubungen ſo ſehr überhand nahmen, daß die Mehrzahl der Soldaten
trotz der zwanzigjährigen Dienſtpflicht nur etwa 22 Monate unter den
Fahnen blieb. Auch die Vereinigung des Heeres in den Feſtungen und
größeren Städten kam der Ausbildung der Truppen zu ſtatten und blieb
aufrecht, obwohl die verlaſſenen kleinen Garniſonen den Thron mit Bitten
beſtürmten. Aber für die militäriſche Erziehung der geſammten wehr-
fähigen Jugend reichte dieſe ſchwache Friedensarmee mit ihren 38 (ſpäter
44) Infanterie-Regimentern nicht entfernt aus. Sie konnte ihrer Auf-
gabe um ſo weniger genügen, da die Bevölkerung ſehr ſchnell zunahm,
wie dies bei kräftigen Nationen nach dem Abſchluß verheerender Kriege
regelmäßig geſchieht. Ueberdies beſtand noch ein volles Drittel des ſtehenden
Heeres aus Capitulanten, die freiwillig über drei Jahre hinaus dienten;
die alten Gewohnheiten des Berufsſoldatenthums wirkten noch nach, und
in der erwerbloſen Zeit erſchien der Militärdienſt Vielen als eine leidliche
Verſorgung. Ein ſehr großer Theil der Wehrfähigen mußte alſo zurück-
geſtellt werden, wobei denn anfangs manche erbitternde Willkür mit unter-
lief: hier wurden die Ueberzähligen durch eine gutmüthige Erſatzcommiſſion
ganz von der Dienſtpflicht entbunden, dort wählte ein Offizier, dem die
altpreußiſche Vorliebe für die langen Kerle noch in den Gliedern lag, die
Mannſchaften nach der Größe aus. Endlich führte man das Looſen ein
und ließ die Freigelooſten als Landwehrrekruten drei Monate lang durch
abcommandirte Offiziere der Linie nothdürftig einüben, um ſie dann der
Landwehr zuzuweiſen.
Die Landwehr beſtand mithin zum Theil aus alten Soldaten, zum
Theil aus wenig geübten Krümpern, und ihr Offiziercorps, das noch ganz
ſelbſtändig neben der Linie ſtand, verſchlechterte ſich von Jahr zu Jahr:
die Kriegskundigen ſchieden allmählich aus, die jungen Freiwilligen aber,
welche nunmehr nach einjährigem Dienſte und einigen kurzen Uebungen
in die Offiziersſtellen einrückten, zeigten ſich zuweilen noch unerfahrener
als die Mannſchaft ſelbſt. Das einzige verbindende Glied zwiſchen der Linie
und der Landwehr bildeten die den commandirenden Generalen der Linie
untergeordneten Landwehrinſpecteure, je einer in jedem Regierungsbezirk.
Der König that das Seine um das militäriſche Selbſtgefühl der Land-
wehr zu heben; er verlieh ihr Fahnen, bildete eine Gardelandwehr, er-
nannte die königlichen Prinzen zu Chefs der Gardelandwehr-Schwadronen.
Die Generale gewöhnten ſich die Landwehr nach den Uebungen mit reichen
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Zitationshilfe: | Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/241>, abgerufen am 16.02.2025. |