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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 5. Die Wiederherstellung des preußischen Staates.
die Erkenntnisse nicht geheim; dem alten deutschen Satze "und wo Ge-
richte ist da sollen di bestin sin" werde in Preußen, wo man die Richter so
sorgfältig wähle, vollständiger genügt als in Frankreich; in jeder Thatfrage
sei zugleich eine Rechtsfrage enthalten, die nur der Rechtsgelehrte ganz
verstehe; nimmermehr dürfe dem Richter gestattet werden, die Gesetze will-
kürlich abzuschwächen falls sie der Meinung des Volks zu widersprechen
schienen; und wie könne der Staat auf das Recht verzichten, einen Ange-
klagten bei unvollständigem Beweise mit außerordentlichen Strafen zu be-
legen?*) Alle die berechtigten und unberechtigten technischen Bedenken
gegen das Schwurgericht, welche in der alten, an bestimmte Beweisregeln
gewöhnten Juristenschule vorherrschten, stellte der Minister sorgfältig zu-
sammen. Politische Besorgnisse hegte er nicht; denn noch war die Jury
nicht in das Programm der liberalen Partei aufgenommen.

Beyme aber trat auf die Seite der Commission und gewann die Zu-
stimmung des Königs. Das französische Recht blieb auf dem linken Rhein-
ufer und in Berg vorläufig bestehen, und am 21. Juni 1819 ward in Berlin
ein Kassationshof für die rheinischen Lande unter Sethes Vorsitz gebildet. An
die Spitze des Appellhofes zu Köln trat der als Richter wie als Gelehrter
gleich ausgezeichnete Daniels. Jedermann am Rhein wußte von dem geist-
reichen Manne mit dem Sokrateskopfe, von seinem ungeheuren Gedächtniß
und seinem ulpianischen Scharfsinn zu erzählen. In ihm verkörperte sich
jene eigenthümliche Vermittlerrolle zwischen deutscher und französischer Bil-
dung, welche die Rheinländer damals noch für sich in Anspruch nahmen. Die
Franzosen selbst bewunderten ihn als den gründlichsten Kenner ihrer Gesetz-
bücher, und doch blieb er ein deutscher Jurist, denn wer sich in dem Laby-
rinthe des alten kurkölnischen Rechts zurechtfinden wollte, griff zu Daniels'
vergilbten Collegienheften. Unter seiner Leitung wuchs allmählich der moderne
rheinische Juristenstand heran, reich an Talenten, stolz auf sein heimisches
Recht und auf die Kunst der forensischen Beredsamkeit, die hier allein eine
Bühne fand, aber auch sehr empfänglich für die formale Staatsweisheit
der Franzosen, ohne Sinn für die berechtigte Eigenart des deutschen Nord-
ostens -- eine ganz neue Kraft im preußischen Staatsleben, deren Macht
mit den Jahren stieg seit der Liberalismus anfing die Schwurgerichte als
ein Palladium der Volksfreiheit zu feiern. --

Ueber allen den anderen drängenden Sorgen der preußischen Politik
stand die Frage, ob das vermessene Wagniß einer hochbegeisterten kriege-
rischen Zeit, das Wehrgesetz von 1814, jetzt in den Tagen der Abspannung
und der Armuth die Probe bestehen würde. Die große Mehrzahl der Gene-
rale hielt an den Gedanken Scharnhorsts und Boyens unerschütterlich fest.
Gneisenau vornehmlich ward nicht müde die Landwehr als die "Heil-Anstalt"

*) Kircheisen, Votum betr. die Organisation der Justiz in den Rheinprovinzen,
Juli 1818.

II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
die Erkenntniſſe nicht geheim; dem alten deutſchen Satze „und wo Ge-
richte iſt da ſollen di beſtin ſin“ werde in Preußen, wo man die Richter ſo
ſorgfältig wähle, vollſtändiger genügt als in Frankreich; in jeder Thatfrage
ſei zugleich eine Rechtsfrage enthalten, die nur der Rechtsgelehrte ganz
verſtehe; nimmermehr dürfe dem Richter geſtattet werden, die Geſetze will-
kürlich abzuſchwächen falls ſie der Meinung des Volks zu widerſprechen
ſchienen; und wie könne der Staat auf das Recht verzichten, einen Ange-
klagten bei unvollſtändigem Beweiſe mit außerordentlichen Strafen zu be-
legen?*) Alle die berechtigten und unberechtigten techniſchen Bedenken
gegen das Schwurgericht, welche in der alten, an beſtimmte Beweisregeln
gewöhnten Juriſtenſchule vorherrſchten, ſtellte der Miniſter ſorgfältig zu-
ſammen. Politiſche Beſorgniſſe hegte er nicht; denn noch war die Jury
nicht in das Programm der liberalen Partei aufgenommen.

Beyme aber trat auf die Seite der Commiſſion und gewann die Zu-
ſtimmung des Königs. Das franzöſiſche Recht blieb auf dem linken Rhein-
ufer und in Berg vorläufig beſtehen, und am 21. Juni 1819 ward in Berlin
ein Kaſſationshof für die rheiniſchen Lande unter Sethes Vorſitz gebildet. An
die Spitze des Appellhofes zu Köln trat der als Richter wie als Gelehrter
gleich ausgezeichnete Daniels. Jedermann am Rhein wußte von dem geiſt-
reichen Manne mit dem Sokrateskopfe, von ſeinem ungeheuren Gedächtniß
und ſeinem ulpianiſchen Scharfſinn zu erzählen. In ihm verkörperte ſich
jene eigenthümliche Vermittlerrolle zwiſchen deutſcher und franzöſiſcher Bil-
dung, welche die Rheinländer damals noch für ſich in Anſpruch nahmen. Die
Franzoſen ſelbſt bewunderten ihn als den gründlichſten Kenner ihrer Geſetz-
bücher, und doch blieb er ein deutſcher Juriſt, denn wer ſich in dem Laby-
rinthe des alten kurkölniſchen Rechts zurechtfinden wollte, griff zu Daniels’
vergilbten Collegienheften. Unter ſeiner Leitung wuchs allmählich der moderne
rheiniſche Juriſtenſtand heran, reich an Talenten, ſtolz auf ſein heimiſches
Recht und auf die Kunſt der forenſiſchen Beredſamkeit, die hier allein eine
Bühne fand, aber auch ſehr empfänglich für die formale Staatsweisheit
der Franzoſen, ohne Sinn für die berechtigte Eigenart des deutſchen Nord-
oſtens — eine ganz neue Kraft im preußiſchen Staatsleben, deren Macht
mit den Jahren ſtieg ſeit der Liberalismus anfing die Schwurgerichte als
ein Palladium der Volksfreiheit zu feiern. —

Ueber allen den anderen drängenden Sorgen der preußiſchen Politik
ſtand die Frage, ob das vermeſſene Wagniß einer hochbegeiſterten kriege-
riſchen Zeit, das Wehrgeſetz von 1814, jetzt in den Tagen der Abſpannung
und der Armuth die Probe beſtehen würde. Die große Mehrzahl der Gene-
rale hielt an den Gedanken Scharnhorſts und Boyens unerſchütterlich feſt.
Gneiſenau vornehmlich ward nicht müde die Landwehr als die „Heil-Anſtalt“

*) Kircheiſen, Votum betr. die Organiſation der Juſtiz in den Rheinprovinzen,
Juli 1818.
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[224/0238] II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates. die Erkenntniſſe nicht geheim; dem alten deutſchen Satze „und wo Ge- richte iſt da ſollen di beſtin ſin“ werde in Preußen, wo man die Richter ſo ſorgfältig wähle, vollſtändiger genügt als in Frankreich; in jeder Thatfrage ſei zugleich eine Rechtsfrage enthalten, die nur der Rechtsgelehrte ganz verſtehe; nimmermehr dürfe dem Richter geſtattet werden, die Geſetze will- kürlich abzuſchwächen falls ſie der Meinung des Volks zu widerſprechen ſchienen; und wie könne der Staat auf das Recht verzichten, einen Ange- klagten bei unvollſtändigem Beweiſe mit außerordentlichen Strafen zu be- legen? *) Alle die berechtigten und unberechtigten techniſchen Bedenken gegen das Schwurgericht, welche in der alten, an beſtimmte Beweisregeln gewöhnten Juriſtenſchule vorherrſchten, ſtellte der Miniſter ſorgfältig zu- ſammen. Politiſche Beſorgniſſe hegte er nicht; denn noch war die Jury nicht in das Programm der liberalen Partei aufgenommen. Beyme aber trat auf die Seite der Commiſſion und gewann die Zu- ſtimmung des Königs. Das franzöſiſche Recht blieb auf dem linken Rhein- ufer und in Berg vorläufig beſtehen, und am 21. Juni 1819 ward in Berlin ein Kaſſationshof für die rheiniſchen Lande unter Sethes Vorſitz gebildet. An die Spitze des Appellhofes zu Köln trat der als Richter wie als Gelehrter gleich ausgezeichnete Daniels. Jedermann am Rhein wußte von dem geiſt- reichen Manne mit dem Sokrateskopfe, von ſeinem ungeheuren Gedächtniß und ſeinem ulpianiſchen Scharfſinn zu erzählen. In ihm verkörperte ſich jene eigenthümliche Vermittlerrolle zwiſchen deutſcher und franzöſiſcher Bil- dung, welche die Rheinländer damals noch für ſich in Anſpruch nahmen. Die Franzoſen ſelbſt bewunderten ihn als den gründlichſten Kenner ihrer Geſetz- bücher, und doch blieb er ein deutſcher Juriſt, denn wer ſich in dem Laby- rinthe des alten kurkölniſchen Rechts zurechtfinden wollte, griff zu Daniels’ vergilbten Collegienheften. Unter ſeiner Leitung wuchs allmählich der moderne rheiniſche Juriſtenſtand heran, reich an Talenten, ſtolz auf ſein heimiſches Recht und auf die Kunſt der forenſiſchen Beredſamkeit, die hier allein eine Bühne fand, aber auch ſehr empfänglich für die formale Staatsweisheit der Franzoſen, ohne Sinn für die berechtigte Eigenart des deutſchen Nord- oſtens — eine ganz neue Kraft im preußiſchen Staatsleben, deren Macht mit den Jahren ſtieg ſeit der Liberalismus anfing die Schwurgerichte als ein Palladium der Volksfreiheit zu feiern. — Ueber allen den anderen drängenden Sorgen der preußiſchen Politik ſtand die Frage, ob das vermeſſene Wagniß einer hochbegeiſterten kriege- riſchen Zeit, das Wehrgeſetz von 1814, jetzt in den Tagen der Abſpannung und der Armuth die Probe beſtehen würde. Die große Mehrzahl der Gene- rale hielt an den Gedanken Scharnhorſts und Boyens unerſchütterlich feſt. Gneiſenau vornehmlich ward nicht müde die Landwehr als die „Heil-Anſtalt“ *) Kircheiſen, Votum betr. die Organiſation der Juſtiz in den Rheinprovinzen, Juli 1818.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/238>, abgerufen am 06.05.2024.