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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Das rheinische Recht.
rechtigte Eigenthümlichkeit der Heimath zu verherrlichen; der Code war
das rheinische Recht und darum schon vortrefflich, wenn er nur nicht die
Proceßkosten gar zu hoch berechnet hätte. Sprach Einer vom preußischen
Rechte, so dachte das Volk sogleich an jene ungeheuerliche Gerichtsver-
fassung, welche einst in Kurköln und Kurtrier bestanden hatte; nimmermehr
durfte das Rheinland in dies Chaos zurücksinken. Vor Allem die Oeffent-
lichkeit des Verfahrens erschien als ein Bollwerk der Landesfreiheit; denn
in dem rastlosen Wechsel seiner politischen Schicksale hatte dies Volk längst
gelernt, jeder Regierung, weil sie regierte, zu mißtrauen. Als nun die
Krone, wie einst vor der Veröffentlichung des Allgemeinen Landrechts, alle
Sachverständigen zur Einreichung von Gutachten auffordern ließ, da sprach
sich die große Mehrheit für die Erhaltung der Codes aus. Die Stadträthe
von Köln, Trier, Koblenz, Cleve wendeten sich unmittelbar an den König,
und auch der Oberpräsident Solms-Laubach, ein Gegner der französischen
Gesetzgebung, erklärte nachdrücklich, bei solcher Stimmung der Provinz sei
zum Mindesten die Beseitigung des öffentlichen Verfahrens unmöglich.*)
Sethe selbst wünschte zwar lebhaft die Rechtseinheit für den gesammten
Staat; doch er sah auch, wie fern dies Ziel noch lag, und erkannte die
großen Vorzüge des neufranzösischen Rechts willig an. Hervorgegangen
aus der Verschmelzung des römischen Rechts mit den großentheils ger-
manischen Coutumes konnte der Code Napoleon auf deutschem Boden
nicht schlechthin als fremdes Recht betrachtet werden, da das römische Recht
auch bei uns längst heimisch war; seine Bestimmtheit und Kürze, seine
Schärfe und folgerichtige Klarheit hielten den Vergleich mit der casuistischen
Weitschweifigkeit des Preußischen Landrechts wahrlich aus, und wo war in
diesen ganz bürgerlichen rheinischen Landen noch ein Boden für die Patri-
monialgerichte oder für das strenge Ständerecht der fridericianischen Gesetz-
gebung?

Nach zweijähriger Berathung legte die Commission dem Monarchen
die "Resultate" ihrer Verhandlungen vor: sie empfahl, das rheinische Recht
vorläufig, bis zur Revision der preußischen Gesetzbücher, aufrechtzuerhalten
und schilderte in einem ausführlichen Gutachten, wie das Schwurgericht
die Rechtsidee im Volke lebendig erhalte, das Gesetz beliebt mache, die
Beamtenwillkür beschränke, die Einseitigkeit der juristischen Fachbildung durch
die freie Welt- und Menschenkenntniß der Laien ergänze. Minister Kirch-
eisen, der in den Gedanken des altländischen Richterstandes lebte und webte,
ward durch diese Denkschrift lebhaft beunruhigt. Er befürchtete vornehmlich,
daß in den alten Provinzen das Vertrauen des Volks zu den Gerichten
sinken würde wenn die Schwurgerichte am Rhein fortbestünden, und wies in
einer Entgegnungsschrift die "gehässige" Unterscheidung von öffentlichem und
geheimem Verfahren entrüstet zurück: auch in den alten Provinzen blieben

*) Solms-Laubach, Darstellung der Zustände in Jülich-Cleve-Berg, 18. Aug. 1819.

Das rheiniſche Recht.
rechtigte Eigenthümlichkeit der Heimath zu verherrlichen; der Code war
das rheiniſche Recht und darum ſchon vortrefflich, wenn er nur nicht die
Proceßkoſten gar zu hoch berechnet hätte. Sprach Einer vom preußiſchen
Rechte, ſo dachte das Volk ſogleich an jene ungeheuerliche Gerichtsver-
faſſung, welche einſt in Kurköln und Kurtrier beſtanden hatte; nimmermehr
durfte das Rheinland in dies Chaos zurückſinken. Vor Allem die Oeffent-
lichkeit des Verfahrens erſchien als ein Bollwerk der Landesfreiheit; denn
in dem raſtloſen Wechſel ſeiner politiſchen Schickſale hatte dies Volk längſt
gelernt, jeder Regierung, weil ſie regierte, zu mißtrauen. Als nun die
Krone, wie einſt vor der Veröffentlichung des Allgemeinen Landrechts, alle
Sachverſtändigen zur Einreichung von Gutachten auffordern ließ, da ſprach
ſich die große Mehrheit für die Erhaltung der Codes aus. Die Stadträthe
von Köln, Trier, Koblenz, Cleve wendeten ſich unmittelbar an den König,
und auch der Oberpräſident Solms-Laubach, ein Gegner der franzöſiſchen
Geſetzgebung, erklärte nachdrücklich, bei ſolcher Stimmung der Provinz ſei
zum Mindeſten die Beſeitigung des öffentlichen Verfahrens unmöglich.*)
Sethe ſelbſt wünſchte zwar lebhaft die Rechtseinheit für den geſammten
Staat; doch er ſah auch, wie fern dies Ziel noch lag, und erkannte die
großen Vorzüge des neufranzöſiſchen Rechts willig an. Hervorgegangen
aus der Verſchmelzung des römiſchen Rechts mit den großentheils ger-
maniſchen Coutumes konnte der Code Napoleon auf deutſchem Boden
nicht ſchlechthin als fremdes Recht betrachtet werden, da das römiſche Recht
auch bei uns längſt heimiſch war; ſeine Beſtimmtheit und Kürze, ſeine
Schärfe und folgerichtige Klarheit hielten den Vergleich mit der caſuiſtiſchen
Weitſchweifigkeit des Preußiſchen Landrechts wahrlich aus, und wo war in
dieſen ganz bürgerlichen rheiniſchen Landen noch ein Boden für die Patri-
monialgerichte oder für das ſtrenge Ständerecht der fridericianiſchen Geſetz-
gebung?

Nach zweijähriger Berathung legte die Commiſſion dem Monarchen
die „Reſultate“ ihrer Verhandlungen vor: ſie empfahl, das rheiniſche Recht
vorläufig, bis zur Reviſion der preußiſchen Geſetzbücher, aufrechtzuerhalten
und ſchilderte in einem ausführlichen Gutachten, wie das Schwurgericht
die Rechtsidee im Volke lebendig erhalte, das Geſetz beliebt mache, die
Beamtenwillkür beſchränke, die Einſeitigkeit der juriſtiſchen Fachbildung durch
die freie Welt- und Menſchenkenntniß der Laien ergänze. Miniſter Kirch-
eiſen, der in den Gedanken des altländiſchen Richterſtandes lebte und webte,
ward durch dieſe Denkſchrift lebhaft beunruhigt. Er befürchtete vornehmlich,
daß in den alten Provinzen das Vertrauen des Volks zu den Gerichten
ſinken würde wenn die Schwurgerichte am Rhein fortbeſtünden, und wies in
einer Entgegnungsſchrift die „gehäſſige“ Unterſcheidung von öffentlichem und
geheimem Verfahren entrüſtet zurück: auch in den alten Provinzen blieben

*) Solms-Laubach, Darſtellung der Zuſtände in Jülich-Cleve-Berg, 18. Aug. 1819.
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[223/0237] Das rheiniſche Recht. rechtigte Eigenthümlichkeit der Heimath zu verherrlichen; der Code war das rheiniſche Recht und darum ſchon vortrefflich, wenn er nur nicht die Proceßkoſten gar zu hoch berechnet hätte. Sprach Einer vom preußiſchen Rechte, ſo dachte das Volk ſogleich an jene ungeheuerliche Gerichtsver- faſſung, welche einſt in Kurköln und Kurtrier beſtanden hatte; nimmermehr durfte das Rheinland in dies Chaos zurückſinken. Vor Allem die Oeffent- lichkeit des Verfahrens erſchien als ein Bollwerk der Landesfreiheit; denn in dem raſtloſen Wechſel ſeiner politiſchen Schickſale hatte dies Volk längſt gelernt, jeder Regierung, weil ſie regierte, zu mißtrauen. Als nun die Krone, wie einſt vor der Veröffentlichung des Allgemeinen Landrechts, alle Sachverſtändigen zur Einreichung von Gutachten auffordern ließ, da ſprach ſich die große Mehrheit für die Erhaltung der Codes aus. Die Stadträthe von Köln, Trier, Koblenz, Cleve wendeten ſich unmittelbar an den König, und auch der Oberpräſident Solms-Laubach, ein Gegner der franzöſiſchen Geſetzgebung, erklärte nachdrücklich, bei ſolcher Stimmung der Provinz ſei zum Mindeſten die Beſeitigung des öffentlichen Verfahrens unmöglich. *) Sethe ſelbſt wünſchte zwar lebhaft die Rechtseinheit für den geſammten Staat; doch er ſah auch, wie fern dies Ziel noch lag, und erkannte die großen Vorzüge des neufranzöſiſchen Rechts willig an. Hervorgegangen aus der Verſchmelzung des römiſchen Rechts mit den großentheils ger- maniſchen Coutumes konnte der Code Napoleon auf deutſchem Boden nicht ſchlechthin als fremdes Recht betrachtet werden, da das römiſche Recht auch bei uns längſt heimiſch war; ſeine Beſtimmtheit und Kürze, ſeine Schärfe und folgerichtige Klarheit hielten den Vergleich mit der caſuiſtiſchen Weitſchweifigkeit des Preußiſchen Landrechts wahrlich aus, und wo war in dieſen ganz bürgerlichen rheiniſchen Landen noch ein Boden für die Patri- monialgerichte oder für das ſtrenge Ständerecht der fridericianiſchen Geſetz- gebung? Nach zweijähriger Berathung legte die Commiſſion dem Monarchen die „Reſultate“ ihrer Verhandlungen vor: ſie empfahl, das rheiniſche Recht vorläufig, bis zur Reviſion der preußiſchen Geſetzbücher, aufrechtzuerhalten und ſchilderte in einem ausführlichen Gutachten, wie das Schwurgericht die Rechtsidee im Volke lebendig erhalte, das Geſetz beliebt mache, die Beamtenwillkür beſchränke, die Einſeitigkeit der juriſtiſchen Fachbildung durch die freie Welt- und Menſchenkenntniß der Laien ergänze. Miniſter Kirch- eiſen, der in den Gedanken des altländiſchen Richterſtandes lebte und webte, ward durch dieſe Denkſchrift lebhaft beunruhigt. Er befürchtete vornehmlich, daß in den alten Provinzen das Vertrauen des Volks zu den Gerichten ſinken würde wenn die Schwurgerichte am Rhein fortbeſtünden, und wies in einer Entgegnungsſchrift die „gehäſſige“ Unterſcheidung von öffentlichem und geheimem Verfahren entrüſtet zurück: auch in den alten Provinzen blieben *) Solms-Laubach, Darſtellung der Zuſtände in Jülich-Cleve-Berg, 18. Aug. 1819.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/237>, abgerufen am 22.11.2024.