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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Heerwesen.
zu rühmen, die allein den Staat inmitten überlegener Nachbarn aufrecht
halten könne; keine andere Macht vermöge sich diesen Vorzug Preußens
anzueignen, weil keine ein so treues, so opferwilliges und gebildetes Volk
besitze. Die fremden Gesandten dagegen äußerten allesammt ihre Be-
denken gegen die neue Wehrverfassung -- die einen, weil sie den demo-
kratischen Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht und die unberechenbare
Kraft dieses Volksheeres insgeheim fürchteten, die anderen, weil sie die
kühne Neuerung wirklich für einen idealistischen Traum hielten. Denn
noch hatten Scharnhorsts Ideen nirgends im Auslande Anklang gefunden.
Die alten Berufssoldaten Frankreichs sahen, uneingedenk der empfangenen
Schläge, das preußische "Kinderheer" über die Achsel an; und Czar Alex-
ander sprach in gutem Glauben, wenn er immer wieder die preußischen
Generale warnte: mit solchen Halbsoldaten lasse sich weder ein Krieg
führen noch ein Aufstand niederschlagen.

Sogar die hohen Beamten waren durch jene beredte Denkschrift Boyens
noch keineswegs ganz gewonnen. Während Bülow und Beyme offen die
Rückkehr zu dem alten Heerwesen verlangten, ergingen sich Andere, ohne
Unterschied der Partei, in naiven Vorschlägen zur Erleichterung der höheren
Stände. Schuckmann hielt für unzweifelhaft, daß ein gebildeter junger
Mann in höchstens sechs Wochen zum brauchbaren Infanteristen erzogen
werden könne, Solms-Laubach rieth, die akademische Jugend von Bonn und
Düsseldorf nur zu einigen Sonntagsübungen einzuberufen. Schön blickte mit
philosophischem Hochmuth auf die Paradekünste der Kriegshandwerker nieder;
er wollte alle Offiziere der Landwehr bis zum Obersten hinauf durch die
Kreisstände wählen lassen und meinte, drei Tage Uebungen im Jahre ge-
nügten vollauf zur Schulung eines Freiwilligen.*) So tief war jene Ge-
ringschätzung der streng militärischen Ausbildung, die aus Rottecks Schriften
sprach, bis in die Kreise der Staatsmänner hineingedrungen. Unter den
namhaften Publicisten Preußens fand sich kaum einer, der ein Verständniß
zeigte für die Voraussetzungen eines kriegstüchtigen Heerwesens. Selbst
der verständige rheinische Patriot Benzenberg schrieb seinem Gönner
Gneisenau kurzab, bei Belle Alliance habe das Volk gelernt, wie unnöthig
die Quälerei des Drillplatzes sei. Arndt wollte sich in Friedenszeiten wo-
möglich mit einem stehenden Generalstabe begnügen; das Uebrige werde die
Landwehr thun. Der nicht minder patriotische Verfasser der vielgelesenen
Schrift "Preußen über Alles wenn es will" (1817) hielt ebenfalls das
stehende Heer für überflüssig und dachte mit einer von den Gemeinden
unterhaltenen Landwehr auszukommen. Auch die Particularisten, die für
die Quotisirung der Steuern schwärmten, suchten das Volksheer für ihre
Zwecke auszubeuten und empfahlen die Bildung von zehn selbständigen

*) Eingaben an Hardenberg: von Schuckmann 11. Juli 1817, von Schön 21. Juni,
von Solms-Laubach 21. Sept. 1818. Schön an General Borstell 29. Juni 1818.
Treitschke, Deutsche Geschichte. II. 15

Heerweſen.
zu rühmen, die allein den Staat inmitten überlegener Nachbarn aufrecht
halten könne; keine andere Macht vermöge ſich dieſen Vorzug Preußens
anzueignen, weil keine ein ſo treues, ſo opferwilliges und gebildetes Volk
beſitze. Die fremden Geſandten dagegen äußerten alleſammt ihre Be-
denken gegen die neue Wehrverfaſſung — die einen, weil ſie den demo-
kratiſchen Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht und die unberechenbare
Kraft dieſes Volksheeres insgeheim fürchteten, die anderen, weil ſie die
kühne Neuerung wirklich für einen idealiſtiſchen Traum hielten. Denn
noch hatten Scharnhorſts Ideen nirgends im Auslande Anklang gefunden.
Die alten Berufsſoldaten Frankreichs ſahen, uneingedenk der empfangenen
Schläge, das preußiſche „Kinderheer“ über die Achſel an; und Czar Alex-
ander ſprach in gutem Glauben, wenn er immer wieder die preußiſchen
Generale warnte: mit ſolchen Halbſoldaten laſſe ſich weder ein Krieg
führen noch ein Aufſtand niederſchlagen.

Sogar die hohen Beamten waren durch jene beredte Denkſchrift Boyens
noch keineswegs ganz gewonnen. Während Bülow und Beyme offen die
Rückkehr zu dem alten Heerweſen verlangten, ergingen ſich Andere, ohne
Unterſchied der Partei, in naiven Vorſchlägen zur Erleichterung der höheren
Stände. Schuckmann hielt für unzweifelhaft, daß ein gebildeter junger
Mann in höchſtens ſechs Wochen zum brauchbaren Infanteriſten erzogen
werden könne, Solms-Laubach rieth, die akademiſche Jugend von Bonn und
Düſſeldorf nur zu einigen Sonntagsübungen einzuberufen. Schön blickte mit
philoſophiſchem Hochmuth auf die Paradekünſte der Kriegshandwerker nieder;
er wollte alle Offiziere der Landwehr bis zum Oberſten hinauf durch die
Kreisſtände wählen laſſen und meinte, drei Tage Uebungen im Jahre ge-
nügten vollauf zur Schulung eines Freiwilligen.*) So tief war jene Ge-
ringſchätzung der ſtreng militäriſchen Ausbildung, die aus Rottecks Schriften
ſprach, bis in die Kreiſe der Staatsmänner hineingedrungen. Unter den
namhaften Publiciſten Preußens fand ſich kaum einer, der ein Verſtändniß
zeigte für die Vorausſetzungen eines kriegstüchtigen Heerweſens. Selbſt
der verſtändige rheiniſche Patriot Benzenberg ſchrieb ſeinem Gönner
Gneiſenau kurzab, bei Belle Alliance habe das Volk gelernt, wie unnöthig
die Quälerei des Drillplatzes ſei. Arndt wollte ſich in Friedenszeiten wo-
möglich mit einem ſtehenden Generalſtabe begnügen; das Uebrige werde die
Landwehr thun. Der nicht minder patriotiſche Verfaſſer der vielgeleſenen
Schrift „Preußen über Alles wenn es will“ (1817) hielt ebenfalls das
ſtehende Heer für überflüſſig und dachte mit einer von den Gemeinden
unterhaltenen Landwehr auszukommen. Auch die Particulariſten, die für
die Quotiſirung der Steuern ſchwärmten, ſuchten das Volksheer für ihre
Zwecke auszubeuten und empfahlen die Bildung von zehn ſelbſtändigen

*) Eingaben an Hardenberg: von Schuckmann 11. Juli 1817, von Schön 21. Juni,
von Solms-Laubach 21. Sept. 1818. Schön an General Borſtell 29. Juni 1818.
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 15
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[225/0239] Heerweſen. zu rühmen, die allein den Staat inmitten überlegener Nachbarn aufrecht halten könne; keine andere Macht vermöge ſich dieſen Vorzug Preußens anzueignen, weil keine ein ſo treues, ſo opferwilliges und gebildetes Volk beſitze. Die fremden Geſandten dagegen äußerten alleſammt ihre Be- denken gegen die neue Wehrverfaſſung — die einen, weil ſie den demo- kratiſchen Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht und die unberechenbare Kraft dieſes Volksheeres insgeheim fürchteten, die anderen, weil ſie die kühne Neuerung wirklich für einen idealiſtiſchen Traum hielten. Denn noch hatten Scharnhorſts Ideen nirgends im Auslande Anklang gefunden. Die alten Berufsſoldaten Frankreichs ſahen, uneingedenk der empfangenen Schläge, das preußiſche „Kinderheer“ über die Achſel an; und Czar Alex- ander ſprach in gutem Glauben, wenn er immer wieder die preußiſchen Generale warnte: mit ſolchen Halbſoldaten laſſe ſich weder ein Krieg führen noch ein Aufſtand niederſchlagen. Sogar die hohen Beamten waren durch jene beredte Denkſchrift Boyens noch keineswegs ganz gewonnen. Während Bülow und Beyme offen die Rückkehr zu dem alten Heerweſen verlangten, ergingen ſich Andere, ohne Unterſchied der Partei, in naiven Vorſchlägen zur Erleichterung der höheren Stände. Schuckmann hielt für unzweifelhaft, daß ein gebildeter junger Mann in höchſtens ſechs Wochen zum brauchbaren Infanteriſten erzogen werden könne, Solms-Laubach rieth, die akademiſche Jugend von Bonn und Düſſeldorf nur zu einigen Sonntagsübungen einzuberufen. Schön blickte mit philoſophiſchem Hochmuth auf die Paradekünſte der Kriegshandwerker nieder; er wollte alle Offiziere der Landwehr bis zum Oberſten hinauf durch die Kreisſtände wählen laſſen und meinte, drei Tage Uebungen im Jahre ge- nügten vollauf zur Schulung eines Freiwilligen. *) So tief war jene Ge- ringſchätzung der ſtreng militäriſchen Ausbildung, die aus Rottecks Schriften ſprach, bis in die Kreiſe der Staatsmänner hineingedrungen. Unter den namhaften Publiciſten Preußens fand ſich kaum einer, der ein Verſtändniß zeigte für die Vorausſetzungen eines kriegstüchtigen Heerweſens. Selbſt der verſtändige rheiniſche Patriot Benzenberg ſchrieb ſeinem Gönner Gneiſenau kurzab, bei Belle Alliance habe das Volk gelernt, wie unnöthig die Quälerei des Drillplatzes ſei. Arndt wollte ſich in Friedenszeiten wo- möglich mit einem ſtehenden Generalſtabe begnügen; das Uebrige werde die Landwehr thun. Der nicht minder patriotiſche Verfaſſer der vielgeleſenen Schrift „Preußen über Alles wenn es will“ (1817) hielt ebenfalls das ſtehende Heer für überflüſſig und dachte mit einer von den Gemeinden unterhaltenen Landwehr auszukommen. Auch die Particulariſten, die für die Quotiſirung der Steuern ſchwärmten, ſuchten das Volksheer für ihre Zwecke auszubeuten und empfahlen die Bildung von zehn ſelbſtändigen *) Eingaben an Hardenberg: von Schuckmann 11. Juli 1817, von Schön 21. Juni, von Solms-Laubach 21. Sept. 1818. Schön an General Borſtell 29. Juni 1818. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 15

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/239>, abgerufen am 05.05.2024.