Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.II. 4. Die Eröffnung des Deutschen Bundestages. selbst in England, der festen Burg der Gegenrevolution, der Gedanke derParlamentsreform wieder erwachte, wie der feurige Demagog Cobbet seine Zweipfennig-Register unter die Massen warf und die lange verwahrlosten niederen Klassen an ihre Menschenrechte erinnerte. Um die Fragen der Verfassung und Verwaltung hatte sich der Meister der Diplomatie bisher ebenso wenig gekümmert wie um die großen Culturzwecke des Völkerlebens, deren Förderung der echte Staatsmann als seine höchste Aufgabe betrachtet; selbst dem inneren Leben seines Oesterreichs stand er so fern, daß er sein Urtheil über den Charakter dieser Monarchie in der Phrase zusammenfaßte: sie trage, ohne ein Foederativstaat zu sein, doch die Vortheile wie die Nach- theile der Foederativgestaltungen. Jedes schöpferischen Gedankens baar lebte seine Politik aus der Hand in den Mund; sie meinte genug zu thun, wenn sie sich bereit hielt jederzeit mit dem Löscheimer herbeizueilen sobald irgendwo die Flammen der Revolution aus dem Boden aufschlugen; sie schwor auf den Gedanken der Stabilität so unbedingt wie der junge Libe- ralismus auf die Abstraktionen seines Vernunftrechts, und der Feind der Doktrinäre verfiel schließlich selbst in einen Doktrinarismus, der noch um Vieles unfruchtbarer war als die Lehren Rottecks. Je klarer jedes neue Jahr bewies, daß die lebendigen Kräfte der Geschichte vor den Schranken der Wiener Verträge nicht stillstehen konnten, um so krampfhafter ward die Furcht des Ruheseligen vor der Revolution, bis endlich fast in allen seinen Sendschreiben das sorgfältig ausgemalte Schreckbild des drohenden allgemeinen Weltbrandes wie die fixe Idee eines Geisteskranken wieder- kehrte. Nur an einer Stelle seines Machtgebietes hatte Oesterreich nicht alle *) Krusemarks Bericht 10. April 1816.
II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages. ſelbſt in England, der feſten Burg der Gegenrevolution, der Gedanke derParlamentsreform wieder erwachte, wie der feurige Demagog Cobbet ſeine Zweipfennig-Regiſter unter die Maſſen warf und die lange verwahrloſten niederen Klaſſen an ihre Menſchenrechte erinnerte. Um die Fragen der Verfaſſung und Verwaltung hatte ſich der Meiſter der Diplomatie bisher ebenſo wenig gekümmert wie um die großen Culturzwecke des Völkerlebens, deren Förderung der echte Staatsmann als ſeine höchſte Aufgabe betrachtet; ſelbſt dem inneren Leben ſeines Oeſterreichs ſtand er ſo fern, daß er ſein Urtheil über den Charakter dieſer Monarchie in der Phraſe zuſammenfaßte: ſie trage, ohne ein Foederativſtaat zu ſein, doch die Vortheile wie die Nach- theile der Foederativgeſtaltungen. Jedes ſchöpferiſchen Gedankens baar lebte ſeine Politik aus der Hand in den Mund; ſie meinte genug zu thun, wenn ſie ſich bereit hielt jederzeit mit dem Löſcheimer herbeizueilen ſobald irgendwo die Flammen der Revolution aus dem Boden aufſchlugen; ſie ſchwor auf den Gedanken der Stabilität ſo unbedingt wie der junge Libe- ralismus auf die Abſtraktionen ſeines Vernunftrechts, und der Feind der Doktrinäre verfiel ſchließlich ſelbſt in einen Doktrinarismus, der noch um Vieles unfruchtbarer war als die Lehren Rottecks. Je klarer jedes neue Jahr bewies, daß die lebendigen Kräfte der Geſchichte vor den Schranken der Wiener Verträge nicht ſtillſtehen konnten, um ſo krampfhafter ward die Furcht des Ruheſeligen vor der Revolution, bis endlich faſt in allen ſeinen Sendſchreiben das ſorgfältig ausgemalte Schreckbild des drohenden allgemeinen Weltbrandes wie die fixe Idee eines Geiſteskranken wieder- kehrte. Nur an einer Stelle ſeines Machtgebietes hatte Oeſterreich nicht alle *) Kruſemarks Bericht 10. April 1816.
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II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
ſelbſt in England, der feſten Burg der Gegenrevolution, der Gedanke der
Parlamentsreform wieder erwachte, wie der feurige Demagog Cobbet ſeine
Zweipfennig-Regiſter unter die Maſſen warf und die lange verwahrloſten
niederen Klaſſen an ihre Menſchenrechte erinnerte. Um die Fragen der
Verfaſſung und Verwaltung hatte ſich der Meiſter der Diplomatie bisher
ebenſo wenig gekümmert wie um die großen Culturzwecke des Völkerlebens,
deren Förderung der echte Staatsmann als ſeine höchſte Aufgabe betrachtet;
ſelbſt dem inneren Leben ſeines Oeſterreichs ſtand er ſo fern, daß er ſein
Urtheil über den Charakter dieſer Monarchie in der Phraſe zuſammenfaßte:
ſie trage, ohne ein Foederativſtaat zu ſein, doch die Vortheile wie die Nach-
theile der Foederativgeſtaltungen. Jedes ſchöpferiſchen Gedankens baar
lebte ſeine Politik aus der Hand in den Mund; ſie meinte genug zu thun,
wenn ſie ſich bereit hielt jederzeit mit dem Löſcheimer herbeizueilen ſobald
irgendwo die Flammen der Revolution aus dem Boden aufſchlugen; ſie
ſchwor auf den Gedanken der Stabilität ſo unbedingt wie der junge Libe-
ralismus auf die Abſtraktionen ſeines Vernunftrechts, und der Feind der
Doktrinäre verfiel ſchließlich ſelbſt in einen Doktrinarismus, der noch um
Vieles unfruchtbarer war als die Lehren Rottecks. Je klarer jedes neue
Jahr bewies, daß die lebendigen Kräfte der Geſchichte vor den Schranken
der Wiener Verträge nicht ſtillſtehen konnten, um ſo krampfhafter ward
die Furcht des Ruheſeligen vor der Revolution, bis endlich faſt in allen
ſeinen Sendſchreiben das ſorgfältig ausgemalte Schreckbild des drohenden
allgemeinen Weltbrandes wie die fixe Idee eines Geiſteskranken wieder-
kehrte.
Nur an einer Stelle ſeines Machtgebietes hatte Oeſterreich nicht alle
ſeine Abſichten erreicht: der Plan des italieniſchen Bundes war in Wien
an dem Widerſpruche Piemonts geſcheitert. Um den Turiner Hof doch
noch für dieſen Gedanken zu gewinnen, erhob die Hofburg jetzt Anſprüche
auf das weſtliche Ufer des Langenſees und die wichtige Simplonſtraße; doch
da Rußland und Preußen ſich der bedrängten Piemonteſen annahmen, *)
ſo ließ Metternich ſeine Abſicht vorläufig fallen und begnügte ſich mit der
thatſächlichen Beherrſchung Italiens, die einſtweilen leidlich geſichert ſchien.
Wohl war der Jubel, welcher einſt die einziehenden Oeſterreicher in der
Lombardei begrüßt hatte, längſt verrauſcht; das Volk murrte über die rück-
ſichtsloſe Abſetzung ſo vieler alter Beamten, über die harte, der Landesart
völlig unkundige Verwaltung, über die ſchlechten Künſte der geheimen Polizei
und die Roheit des bastone tedesco. Als Kaiſer Franz im Februar 1816
ſeine Huldigungsreiſe durch das neue lombardiſch-venetianiſche Königreich
antrat, wurde er überall mit unverhohlener Kälte empfangen; ſelbſt der
preußiſche Geſandte, General v. Kruſemark, ein warmer Freund Oeſter-
reichs, mußte ſeinem Könige berichten: die k. k. Beamten und Offiziere ſeien
*) Kruſemarks Bericht 10. April 1816.
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