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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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II. 2. Belle Alliance.
Zustand der Eroberung vorhanden sei; wie Frankreich büßen müsse, was
Frankreich verschuldet; wie den Verbündeten zwar das Recht der eigenen
Sicherung zustehe aber nicht unzweifelhaft das Recht der Einmischung
in Frankreichs innere Angelegenheiten; möge man den Franzosen sogleich
nehmen, was zur militärischen Deckung ihrer Nachbarn unentbehrlich sei,
dann aber dem Lande alsbald seine Unabhängigkeit zurückgeben, denn
Preußen wisse aus eigener Erfahrung, daß nichts ein Volk tiefer erbittere
als die Anwesenheit fremder Truppen in Friedenszeiten; wolle Europa
die Franzosen unter seine Vormundschaft nehmen, so werde die Revolution
niemals endigen. Gleichzeitig begründete Hardenberg nochmals seine
Forderungen in einer ausführlichen Denkschrift (vom 4. August), erwies,
wie Frankreich schon seit Ludwig XIV. seine natürlichen Vertheidigungs-
linien überschritten habe und eben durch den Besitz dieser Außenposten
zu immer neuen Eroberungskriegen verlockt worden sei. Auch Knesebeck
schloß sich an, diesmal ganz nüchtern und ohne doctrinäre Wunderlich-
keiten; er hob hervor, daß selbst ein Friedensschluß von übertriebener Milde
keine Sicherheit gebe für die Dauer der bourbonischen Herrschaft, denn
niemals würde das französische Volk die Niederlage in Brabant verzeihen.

Mittlerweile kam, auf Hardenbergs Einladung, auch Stein nach
Paris. Der Freiherr verlebte unterwegs einige Tage am Rhein mit
Goethe gemeinsam, und der treue Arndt beobachtete mit stiller Rüh-
rung, wie die beiden besten Söhne des Vaterlands einander so freundlich
forschend mit ihren großen braunen Augen ansahen, Jeder bemüht die
räthselhafte Eigenart des Anderen behutsam zu schonen. In Paris
bot Stein alle seine Beredsamkeit bei dem Czaren auf, widerlegte in
einer bündigen Denkschrift (vom 18. August) die russische Behauptung,
daß Frankreich der Verbündete seiner Besieger sei: ist Frankreich unser
Freund, warum halten wir dann das Land besetzt und schreiben Liefe-
rungen aus? Er schloß mahnend: "England und Rußland sollen nicht
glauben, es sei ihr Vortheil Deutschland beständig in einem Zustande
von Aufregung und Leiden zu belassen." Aber was wog jetzt Steins
Wort neben den Thränen und Gebeten der Frau von Krüdener und der
Frau von Lezay-Marnesia? Die Blitze seiner Rede drangen nicht mehr
durch den dicken Nebel der Weihrauchswolken, welche den Czaren im Hotel
Montchenu umgaben. Und wenn Stein nichts mehr galt, was vermoch-
ten vollends die Vertreter der Mächte zweiten Ranges? Die Badener
traten sehr bescheiden auf, schilderten in beweglichen Eingaben den unhalt-
baren Zustand an ihrer Rheingrenze -- wie soeben erst die Franzosen
von Straßburg aus versucht hätten eine Brücke auf das deutsche Ufer
zu schlagen -- verlangten zum Mindesten das alleinige Eigenthum an der
Kehler Brücke und die Schleifung der Straßburger Festungswerke*).

*) Hacke an Hardenberg 19. Aug.; Hacke und Berstett an Hardenberg 21. Oct. 1815.

II. 2. Belle Alliance.
Zuſtand der Eroberung vorhanden ſei; wie Frankreich büßen müſſe, was
Frankreich verſchuldet; wie den Verbündeten zwar das Recht der eigenen
Sicherung zuſtehe aber nicht unzweifelhaft das Recht der Einmiſchung
in Frankreichs innere Angelegenheiten; möge man den Franzoſen ſogleich
nehmen, was zur militäriſchen Deckung ihrer Nachbarn unentbehrlich ſei,
dann aber dem Lande alsbald ſeine Unabhängigkeit zurückgeben, denn
Preußen wiſſe aus eigener Erfahrung, daß nichts ein Volk tiefer erbittere
als die Anweſenheit fremder Truppen in Friedenszeiten; wolle Europa
die Franzoſen unter ſeine Vormundſchaft nehmen, ſo werde die Revolution
niemals endigen. Gleichzeitig begründete Hardenberg nochmals ſeine
Forderungen in einer ausführlichen Denkſchrift (vom 4. Auguſt), erwies,
wie Frankreich ſchon ſeit Ludwig XIV. ſeine natürlichen Vertheidigungs-
linien überſchritten habe und eben durch den Beſitz dieſer Außenpoſten
zu immer neuen Eroberungskriegen verlockt worden ſei. Auch Kneſebeck
ſchloß ſich an, diesmal ganz nüchtern und ohne doctrinäre Wunderlich-
keiten; er hob hervor, daß ſelbſt ein Friedensſchluß von übertriebener Milde
keine Sicherheit gebe für die Dauer der bourboniſchen Herrſchaft, denn
niemals würde das franzöſiſche Volk die Niederlage in Brabant verzeihen.

Mittlerweile kam, auf Hardenbergs Einladung, auch Stein nach
Paris. Der Freiherr verlebte unterwegs einige Tage am Rhein mit
Goethe gemeinſam, und der treue Arndt beobachtete mit ſtiller Rüh-
rung, wie die beiden beſten Söhne des Vaterlands einander ſo freundlich
forſchend mit ihren großen braunen Augen anſahen, Jeder bemüht die
räthſelhafte Eigenart des Anderen behutſam zu ſchonen. In Paris
bot Stein alle ſeine Beredſamkeit bei dem Czaren auf, widerlegte in
einer bündigen Denkſchrift (vom 18. Auguſt) die ruſſiſche Behauptung,
daß Frankreich der Verbündete ſeiner Beſieger ſei: iſt Frankreich unſer
Freund, warum halten wir dann das Land beſetzt und ſchreiben Liefe-
rungen aus? Er ſchloß mahnend: „England und Rußland ſollen nicht
glauben, es ſei ihr Vortheil Deutſchland beſtändig in einem Zuſtande
von Aufregung und Leiden zu belaſſen.“ Aber was wog jetzt Steins
Wort neben den Thränen und Gebeten der Frau von Krüdener und der
Frau von Lezay-Marneſia? Die Blitze ſeiner Rede drangen nicht mehr
durch den dicken Nebel der Weihrauchswolken, welche den Czaren im Hotel
Montchenu umgaben. Und wenn Stein nichts mehr galt, was vermoch-
ten vollends die Vertreter der Mächte zweiten Ranges? Die Badener
traten ſehr beſcheiden auf, ſchilderten in beweglichen Eingaben den unhalt-
baren Zuſtand an ihrer Rheingrenze — wie ſoeben erſt die Franzoſen
von Straßburg aus verſucht hätten eine Brücke auf das deutſche Ufer
zu ſchlagen — verlangten zum Mindeſten das alleinige Eigenthum an der
Kehler Brücke und die Schleifung der Straßburger Feſtungswerke*).

*) Hacke an Hardenberg 19. Aug.; Hacke und Berſtett an Hardenberg 21. Oct. 1815.
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[774/0790] II. 2. Belle Alliance. Zuſtand der Eroberung vorhanden ſei; wie Frankreich büßen müſſe, was Frankreich verſchuldet; wie den Verbündeten zwar das Recht der eigenen Sicherung zuſtehe aber nicht unzweifelhaft das Recht der Einmiſchung in Frankreichs innere Angelegenheiten; möge man den Franzoſen ſogleich nehmen, was zur militäriſchen Deckung ihrer Nachbarn unentbehrlich ſei, dann aber dem Lande alsbald ſeine Unabhängigkeit zurückgeben, denn Preußen wiſſe aus eigener Erfahrung, daß nichts ein Volk tiefer erbittere als die Anweſenheit fremder Truppen in Friedenszeiten; wolle Europa die Franzoſen unter ſeine Vormundſchaft nehmen, ſo werde die Revolution niemals endigen. Gleichzeitig begründete Hardenberg nochmals ſeine Forderungen in einer ausführlichen Denkſchrift (vom 4. Auguſt), erwies, wie Frankreich ſchon ſeit Ludwig XIV. ſeine natürlichen Vertheidigungs- linien überſchritten habe und eben durch den Beſitz dieſer Außenpoſten zu immer neuen Eroberungskriegen verlockt worden ſei. Auch Kneſebeck ſchloß ſich an, diesmal ganz nüchtern und ohne doctrinäre Wunderlich- keiten; er hob hervor, daß ſelbſt ein Friedensſchluß von übertriebener Milde keine Sicherheit gebe für die Dauer der bourboniſchen Herrſchaft, denn niemals würde das franzöſiſche Volk die Niederlage in Brabant verzeihen. Mittlerweile kam, auf Hardenbergs Einladung, auch Stein nach Paris. Der Freiherr verlebte unterwegs einige Tage am Rhein mit Goethe gemeinſam, und der treue Arndt beobachtete mit ſtiller Rüh- rung, wie die beiden beſten Söhne des Vaterlands einander ſo freundlich forſchend mit ihren großen braunen Augen anſahen, Jeder bemüht die räthſelhafte Eigenart des Anderen behutſam zu ſchonen. In Paris bot Stein alle ſeine Beredſamkeit bei dem Czaren auf, widerlegte in einer bündigen Denkſchrift (vom 18. Auguſt) die ruſſiſche Behauptung, daß Frankreich der Verbündete ſeiner Beſieger ſei: iſt Frankreich unſer Freund, warum halten wir dann das Land beſetzt und ſchreiben Liefe- rungen aus? Er ſchloß mahnend: „England und Rußland ſollen nicht glauben, es ſei ihr Vortheil Deutſchland beſtändig in einem Zuſtande von Aufregung und Leiden zu belaſſen.“ Aber was wog jetzt Steins Wort neben den Thränen und Gebeten der Frau von Krüdener und der Frau von Lezay-Marneſia? Die Blitze ſeiner Rede drangen nicht mehr durch den dicken Nebel der Weihrauchswolken, welche den Czaren im Hotel Montchenu umgaben. Und wenn Stein nichts mehr galt, was vermoch- ten vollends die Vertreter der Mächte zweiten Ranges? Die Badener traten ſehr beſcheiden auf, ſchilderten in beweglichen Eingaben den unhalt- baren Zuſtand an ihrer Rheingrenze — wie ſoeben erſt die Franzoſen von Straßburg aus verſucht hätten eine Brücke auf das deutſche Ufer zu ſchlagen — verlangten zum Mindeſten das alleinige Eigenthum an der Kehler Brücke und die Schleifung der Straßburger Feſtungswerke *). *) Hacke an Hardenberg 19. Aug.; Hacke und Berſtett an Hardenberg 21. Oct. 1815.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 774. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/790>, abgerufen am 25.11.2024.