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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Die Entscheidung bei Plancenoit.
drei Colonnen im Sturmschritt auf Plancenoit vor. In und neben dem
Dorfe hielten jene zwölf frischen Bataillone der Kaisergarde; und sie
fochten mit dem höchsten Muthe, denn Alle fühlten, daß hier die Ent-
scheidung des ganzen Krieges lag. Die anstürmenden Preußen sahen
sich im freien Felde den Kugeln den Vertheidiger, die in den Häusern
und hinter den hohen Mauern des Kirchhofs verdeckt standen, schutzlos
preisgegeben. Dieser letzte Kampf ward fast der blutigste dieses wilden
Zeitalters; das Corps Bülows verlor in viertehalb Stunden 6353 Mann,
mehr als ein Fünftel seines Bestandes, nach Verhältniß ebenso viel wie
die englische Armee während des ganzen Schlachttages. Der erste und
der zweite Sturm ward abgeschlagen; da führte Gneisenau selbst die
schlesischen und pommerschen Regimenter zum dritten male vorwärts,
und jetzt gegen 8 Uhr drangen sie ein. Noch ein letzter wüthender
Widerstand in der Dorfgasse, dann entwich die Garde in wilder Flucht;
ihr nach Major Keller mit den Füsilieren des 15. Regiments, dann die
anderen Bataillone. Auf der ganzen Linie erklang in langgezogenen Tönen
das schöne Signal der preußischen Flügelhörner: Avanciren! Zu gleicher
Zeit ward weiter nördlich das Corps Lobaus von Bülows Truppen in
der Front, von Zietens Reitern in der Flanke gepackt und völlig zer-
sprengt. Die beiden Heertheile der Preußen vereinigten sich hier; der
furchtbare Ring, der den rechten Flügel der Franzosen auf drei Seiten
umklammern sollte, war geschlossen. Von Norden drängten die Engländer,
von Osten und Süden die Preußen heran. Den Truppen Zietens wies
Grolman die Richtung nach der Höhe hinter dem Centrum der Franzosen,
nach dem Pachthof La Belle Alliance, der mit seinen weißen Mauern
weithin erkennbar wie ein Leuchtthurm über dem tiefen Gelände empor-
ragte. Dorthin nahmen auch die Sieger von Plancenoit ihren Weg.

Ueber 40,000 Preußen hatten noch am Gefechte theilgenommen, und
jetzt da die Arbeit fast gethan war kam auch das Armeecorps Pirchs von
den Höhen hinter Plancenoit herab. Napoleon war während dieser letzten
Stunde nach La Haye Sainte vorgeeilt um die Division Quiot noch
einmal zum Angriff auf Mont St. Jean vorzutreiben. Sobald er zu
seiner Linken die Niederlage Neys und gleichzeitig den Zusammenbruch
des gesammten rechten Flügels bemerkte, sagte er wie vernichtet: "es ist
zu Ende, retten wir uns!" Er eilte an der Landstraße zurück, nicht ohne
schwere Gefahr, denn schon ward die Straße zugleich von den Engländern
und von Zietens Batterien mit einem heftigen Kreuzfeuer bestrichen.

Schweigsam, unbeweglich, mit wunderbarer Selbstbeherrschung sah
Wellington auf die ungeheuere Verwirrung. Sein Heer war nicht nur
völlig ermattet, sondern auch in seiner taktischen Gliederung ganz gebrochen;
der lange Kampf hatte alle Truppentheile wirr durcheinander geschüttelt,
aus den Trümmern der beiden prächtigen Reiterbrigaden Ponsonby und
Somerset stellte man soeben zwei Schwadronen zusammen. Keine Mög-

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Die Entſcheidung bei Plancenoit.
drei Colonnen im Sturmſchritt auf Plancenoit vor. In und neben dem
Dorfe hielten jene zwölf friſchen Bataillone der Kaiſergarde; und ſie
fochten mit dem höchſten Muthe, denn Alle fühlten, daß hier die Ent-
ſcheidung des ganzen Krieges lag. Die anſtürmenden Preußen ſahen
ſich im freien Felde den Kugeln den Vertheidiger, die in den Häuſern
und hinter den hohen Mauern des Kirchhofs verdeckt ſtanden, ſchutzlos
preisgegeben. Dieſer letzte Kampf ward faſt der blutigſte dieſes wilden
Zeitalters; das Corps Bülows verlor in viertehalb Stunden 6353 Mann,
mehr als ein Fünftel ſeines Beſtandes, nach Verhältniß ebenſo viel wie
die engliſche Armee während des ganzen Schlachttages. Der erſte und
der zweite Sturm ward abgeſchlagen; da führte Gneiſenau ſelbſt die
ſchleſiſchen und pommerſchen Regimenter zum dritten male vorwärts,
und jetzt gegen 8 Uhr drangen ſie ein. Noch ein letzter wüthender
Widerſtand in der Dorfgaſſe, dann entwich die Garde in wilder Flucht;
ihr nach Major Keller mit den Füſilieren des 15. Regiments, dann die
anderen Bataillone. Auf der ganzen Linie erklang in langgezogenen Tönen
das ſchöne Signal der preußiſchen Flügelhörner: Avanciren! Zu gleicher
Zeit ward weiter nördlich das Corps Lobaus von Bülows Truppen in
der Front, von Zietens Reitern in der Flanke gepackt und völlig zer-
ſprengt. Die beiden Heertheile der Preußen vereinigten ſich hier; der
furchtbare Ring, der den rechten Flügel der Franzoſen auf drei Seiten
umklammern ſollte, war geſchloſſen. Von Norden drängten die Engländer,
von Oſten und Süden die Preußen heran. Den Truppen Zietens wies
Grolman die Richtung nach der Höhe hinter dem Centrum der Franzoſen,
nach dem Pachthof La Belle Alliance, der mit ſeinen weißen Mauern
weithin erkennbar wie ein Leuchtthurm über dem tiefen Gelände empor-
ragte. Dorthin nahmen auch die Sieger von Plancenoit ihren Weg.

Ueber 40,000 Preußen hatten noch am Gefechte theilgenommen, und
jetzt da die Arbeit faſt gethan war kam auch das Armeecorps Pirchs von
den Höhen hinter Plancenoit herab. Napoleon war während dieſer letzten
Stunde nach La Haye Sainte vorgeeilt um die Diviſion Quiot noch
einmal zum Angriff auf Mont St. Jean vorzutreiben. Sobald er zu
ſeiner Linken die Niederlage Neys und gleichzeitig den Zuſammenbruch
des geſammten rechten Flügels bemerkte, ſagte er wie vernichtet: „es iſt
zu Ende, retten wir uns!“ Er eilte an der Landſtraße zurück, nicht ohne
ſchwere Gefahr, denn ſchon ward die Straße zugleich von den Engländern
und von Zietens Batterien mit einem heftigen Kreuzfeuer beſtrichen.

Schweigſam, unbeweglich, mit wunderbarer Selbſtbeherrſchung ſah
Wellington auf die ungeheuere Verwirrung. Sein Heer war nicht nur
völlig ermattet, ſondern auch in ſeiner taktiſchen Gliederung ganz gebrochen;
der lange Kampf hatte alle Truppentheile wirr durcheinander geſchüttelt,
aus den Trümmern der beiden prächtigen Reiterbrigaden Ponſonby und
Somerſet ſtellte man ſoeben zwei Schwadronen zuſammen. Keine Mög-

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[755/0771] Die Entſcheidung bei Plancenoit. drei Colonnen im Sturmſchritt auf Plancenoit vor. In und neben dem Dorfe hielten jene zwölf friſchen Bataillone der Kaiſergarde; und ſie fochten mit dem höchſten Muthe, denn Alle fühlten, daß hier die Ent- ſcheidung des ganzen Krieges lag. Die anſtürmenden Preußen ſahen ſich im freien Felde den Kugeln den Vertheidiger, die in den Häuſern und hinter den hohen Mauern des Kirchhofs verdeckt ſtanden, ſchutzlos preisgegeben. Dieſer letzte Kampf ward faſt der blutigſte dieſes wilden Zeitalters; das Corps Bülows verlor in viertehalb Stunden 6353 Mann, mehr als ein Fünftel ſeines Beſtandes, nach Verhältniß ebenſo viel wie die engliſche Armee während des ganzen Schlachttages. Der erſte und der zweite Sturm ward abgeſchlagen; da führte Gneiſenau ſelbſt die ſchleſiſchen und pommerſchen Regimenter zum dritten male vorwärts, und jetzt gegen 8 Uhr drangen ſie ein. Noch ein letzter wüthender Widerſtand in der Dorfgaſſe, dann entwich die Garde in wilder Flucht; ihr nach Major Keller mit den Füſilieren des 15. Regiments, dann die anderen Bataillone. Auf der ganzen Linie erklang in langgezogenen Tönen das ſchöne Signal der preußiſchen Flügelhörner: Avanciren! Zu gleicher Zeit ward weiter nördlich das Corps Lobaus von Bülows Truppen in der Front, von Zietens Reitern in der Flanke gepackt und völlig zer- ſprengt. Die beiden Heertheile der Preußen vereinigten ſich hier; der furchtbare Ring, der den rechten Flügel der Franzoſen auf drei Seiten umklammern ſollte, war geſchloſſen. Von Norden drängten die Engländer, von Oſten und Süden die Preußen heran. Den Truppen Zietens wies Grolman die Richtung nach der Höhe hinter dem Centrum der Franzoſen, nach dem Pachthof La Belle Alliance, der mit ſeinen weißen Mauern weithin erkennbar wie ein Leuchtthurm über dem tiefen Gelände empor- ragte. Dorthin nahmen auch die Sieger von Plancenoit ihren Weg. Ueber 40,000 Preußen hatten noch am Gefechte theilgenommen, und jetzt da die Arbeit faſt gethan war kam auch das Armeecorps Pirchs von den Höhen hinter Plancenoit herab. Napoleon war während dieſer letzten Stunde nach La Haye Sainte vorgeeilt um die Diviſion Quiot noch einmal zum Angriff auf Mont St. Jean vorzutreiben. Sobald er zu ſeiner Linken die Niederlage Neys und gleichzeitig den Zuſammenbruch des geſammten rechten Flügels bemerkte, ſagte er wie vernichtet: „es iſt zu Ende, retten wir uns!“ Er eilte an der Landſtraße zurück, nicht ohne ſchwere Gefahr, denn ſchon ward die Straße zugleich von den Engländern und von Zietens Batterien mit einem heftigen Kreuzfeuer beſtrichen. Schweigſam, unbeweglich, mit wunderbarer Selbſtbeherrſchung ſah Wellington auf die ungeheuere Verwirrung. Sein Heer war nicht nur völlig ermattet, ſondern auch in ſeiner taktiſchen Gliederung ganz gebrochen; der lange Kampf hatte alle Truppentheile wirr durcheinander geſchüttelt, aus den Trümmern der beiden prächtigen Reiterbrigaden Ponſonby und Somerſet ſtellte man ſoeben zwei Schwadronen zuſammen. Keine Mög- 48*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 755. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/771>, abgerufen am 23.11.2024.