Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

II. 2. Belle Alliance.
lichkeit, mit solchen Truppen noch ein nachhaltiges Gefecht zu bestehen.
Der Herzog wußte wohl, daß allein das Erscheinen der Preußen ihn vor
einer unzweifelhaften Niederlage bewahrt hatte; seine wiederholten dringen-
den Bitten an Blücher lassen darüber keinen Zweifel. Doch er war
dem militärischen Ehrgefühle seiner Tapferen eine letzte Genugthuung
schuldig; auch sah er mit staatsmännischer Feinheit voraus, wie viel ge-
wichtiger Englands Wort bei den Friedensverhandlungen in die Wag-
schale fallen mußte, wenn man sich so anstellte, als hätten die britischen
Waffen die Schlacht im Wesentlichen allein entschieden. Darum ließ er,
sobald er den rechten Flügel der Franzosen dem preußischen Angriffe er-
liegen sah, alle irgend verwendbaren Trümmer seines Heeres noch eine
Strecke weit vorrücken. Auf diesem letzten Vormarsch trieb der hanno-
versche Oberst Halkett die beiden einzigen Vierecke der Kaisergarde, die noch
zusammenhielten, vor sich her und nahm ihren General Cambronne mit
eigenen Händen gefangen. Aber die Kraft der Ermüdeten versagte bald,
sie gelangten nicht über Belle Alliance hinaus. Wellington überließ, nach-
dem er den Schein gerettet, die weitere Verfolgung ausschließlich den
Preußen, die ohnehin dem Feinde am Nächsten waren.

Die Geschlagenen ergriff ein wahnsinniger Schrecken. Kein Befehl fand
mehr Gehör, Jeder dachte nur noch an sein armes Leben. Fußvolk und
Reiter wirr durch einander, flohen die aufgelösten Massen auf und neben
der Landstraße südwärts; die Troßknechte zerhieben die Stränge und
sprengten hinweg, so daß die 240 Kanonen allesammt bis auf etwa 27
in die Hände der Sieger fielen. Selbst der Ruf L'Empereur! der sonst
augenblicklich jeden Weg dem kaiserlichen Wagen geöffnet hatte, verlor
heute seinen Zauber; der kranke Napoleon mußte zu Pferde davonjagen,
obgleich er sich kaum im Sattel halten konnte. Nur um die Fahnen
schaarten sich immer noch einige Getreue; ihrer vier waren in der Schlacht
verloren gegangen, die übrigen wurden allesammt gerettet. Niemals
in aller Geschichte war ein tapferes Heer so plötzlich aus allen Fugen
gewichen. Nach der übermenschlichen Anstrengung des Tages brach alle
Kraft des Leibes und des Willens mit einem Schlage zusammen; das
Dunkel der Nacht, die Uebermacht der Sieger, der umfassende Angriff
und die rastlose Verfolgung steigerten die Verwirrung. Entscheidend blieb
doch, daß diesem Heere bei all seinem stürmischen Muthe die sittliche
Größe fehlte. Was hielt diese Meuterer zusammen? Allein der Glaube
an ihren Helden. Nun dessen Glücksstern verbleichte, waren sie nichts
mehr als eine zuchtlose Bande.

Die Sonne war schon hinter dicken Wolken versunken, als die beiden
Feldherren vor dem Hofe von Belle Alliance mit einander zusammen
trafen; sie umarmten sich herzlich, der bedachtsame Vierziger und der
feurige Greis. Nahebei hielt Gneisenau. Endlich doch ein ganzer und
voller Sieg, wie er ihn so oft vergeblich von Schwarzenberg gefordert;

II. 2. Belle Alliance.
lichkeit, mit ſolchen Truppen noch ein nachhaltiges Gefecht zu beſtehen.
Der Herzog wußte wohl, daß allein das Erſcheinen der Preußen ihn vor
einer unzweifelhaften Niederlage bewahrt hatte; ſeine wiederholten dringen-
den Bitten an Blücher laſſen darüber keinen Zweifel. Doch er war
dem militäriſchen Ehrgefühle ſeiner Tapferen eine letzte Genugthuung
ſchuldig; auch ſah er mit ſtaatsmänniſcher Feinheit voraus, wie viel ge-
wichtiger Englands Wort bei den Friedensverhandlungen in die Wag-
ſchale fallen mußte, wenn man ſich ſo anſtellte, als hätten die britiſchen
Waffen die Schlacht im Weſentlichen allein entſchieden. Darum ließ er,
ſobald er den rechten Flügel der Franzoſen dem preußiſchen Angriffe er-
liegen ſah, alle irgend verwendbaren Trümmer ſeines Heeres noch eine
Strecke weit vorrücken. Auf dieſem letzten Vormarſch trieb der hanno-
verſche Oberſt Halkett die beiden einzigen Vierecke der Kaiſergarde, die noch
zuſammenhielten, vor ſich her und nahm ihren General Cambronne mit
eigenen Händen gefangen. Aber die Kraft der Ermüdeten verſagte bald,
ſie gelangten nicht über Belle Alliance hinaus. Wellington überließ, nach-
dem er den Schein gerettet, die weitere Verfolgung ausſchließlich den
Preußen, die ohnehin dem Feinde am Nächſten waren.

Die Geſchlagenen ergriff ein wahnſinniger Schrecken. Kein Befehl fand
mehr Gehör, Jeder dachte nur noch an ſein armes Leben. Fußvolk und
Reiter wirr durch einander, flohen die aufgelöſten Maſſen auf und neben
der Landſtraße ſüdwärts; die Troßknechte zerhieben die Stränge und
ſprengten hinweg, ſo daß die 240 Kanonen alleſammt bis auf etwa 27
in die Hände der Sieger fielen. Selbſt der Ruf L’Empereur! der ſonſt
augenblicklich jeden Weg dem kaiſerlichen Wagen geöffnet hatte, verlor
heute ſeinen Zauber; der kranke Napoleon mußte zu Pferde davonjagen,
obgleich er ſich kaum im Sattel halten konnte. Nur um die Fahnen
ſchaarten ſich immer noch einige Getreue; ihrer vier waren in der Schlacht
verloren gegangen, die übrigen wurden alleſammt gerettet. Niemals
in aller Geſchichte war ein tapferes Heer ſo plötzlich aus allen Fugen
gewichen. Nach der übermenſchlichen Anſtrengung des Tages brach alle
Kraft des Leibes und des Willens mit einem Schlage zuſammen; das
Dunkel der Nacht, die Uebermacht der Sieger, der umfaſſende Angriff
und die raſtloſe Verfolgung ſteigerten die Verwirrung. Entſcheidend blieb
doch, daß dieſem Heere bei all ſeinem ſtürmiſchen Muthe die ſittliche
Größe fehlte. Was hielt dieſe Meuterer zuſammen? Allein der Glaube
an ihren Helden. Nun deſſen Glücksſtern verbleichte, waren ſie nichts
mehr als eine zuchtloſe Bande.

Die Sonne war ſchon hinter dicken Wolken verſunken, als die beiden
Feldherren vor dem Hofe von Belle Alliance mit einander zuſammen
trafen; ſie umarmten ſich herzlich, der bedachtſame Vierziger und der
feurige Greis. Nahebei hielt Gneiſenau. Endlich doch ein ganzer und
voller Sieg, wie er ihn ſo oft vergeblich von Schwarzenberg gefordert;

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0772" n="756"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi> 2. Belle Alliance.</fw><lb/>
lichkeit, mit &#x017F;olchen Truppen noch ein nachhaltiges Gefecht zu be&#x017F;tehen.<lb/>
Der Herzog wußte wohl, daß allein das Er&#x017F;cheinen der Preußen ihn vor<lb/>
einer unzweifelhaften Niederlage bewahrt hatte; &#x017F;eine wiederholten dringen-<lb/>
den Bitten an Blücher la&#x017F;&#x017F;en darüber keinen Zweifel. Doch er war<lb/>
dem militäri&#x017F;chen Ehrgefühle &#x017F;einer Tapferen eine letzte Genugthuung<lb/>
&#x017F;chuldig; auch &#x017F;ah er mit &#x017F;taatsmänni&#x017F;cher Feinheit voraus, wie viel ge-<lb/>
wichtiger Englands Wort bei den Friedensverhandlungen in die Wag-<lb/>
&#x017F;chale fallen mußte, wenn man &#x017F;ich &#x017F;o an&#x017F;tellte, als hätten die briti&#x017F;chen<lb/>
Waffen die Schlacht im We&#x017F;entlichen allein ent&#x017F;chieden. Darum ließ er,<lb/>
&#x017F;obald er den rechten Flügel der Franzo&#x017F;en dem preußi&#x017F;chen Angriffe er-<lb/>
liegen &#x017F;ah, alle irgend verwendbaren Trümmer &#x017F;eines Heeres noch eine<lb/>
Strecke weit vorrücken. Auf die&#x017F;em letzten Vormar&#x017F;ch trieb der hanno-<lb/>
ver&#x017F;che Ober&#x017F;t Halkett die beiden einzigen Vierecke der Kai&#x017F;ergarde, die noch<lb/>
zu&#x017F;ammenhielten, vor &#x017F;ich her und nahm ihren General Cambronne mit<lb/>
eigenen Händen gefangen. Aber die Kraft der Ermüdeten ver&#x017F;agte bald,<lb/>
&#x017F;ie gelangten nicht über Belle Alliance hinaus. Wellington überließ, nach-<lb/>
dem er den Schein gerettet, die weitere Verfolgung aus&#x017F;chließlich den<lb/>
Preußen, die ohnehin dem Feinde am Näch&#x017F;ten waren.</p><lb/>
            <p>Die Ge&#x017F;chlagenen ergriff ein wahn&#x017F;inniger Schrecken. Kein Befehl fand<lb/>
mehr Gehör, Jeder dachte nur noch an &#x017F;ein armes Leben. Fußvolk und<lb/>
Reiter wirr durch einander, flohen die aufgelö&#x017F;ten Ma&#x017F;&#x017F;en auf und neben<lb/>
der Land&#x017F;traße &#x017F;üdwärts; die Troßknechte zerhieben die Stränge und<lb/>
&#x017F;prengten hinweg, &#x017F;o daß die 240 Kanonen alle&#x017F;ammt bis auf etwa 27<lb/>
in die Hände der Sieger fielen. Selb&#x017F;t der Ruf <hi rendition="#aq">L&#x2019;Empereur!</hi> der &#x017F;on&#x017F;t<lb/>
augenblicklich jeden Weg dem kai&#x017F;erlichen Wagen geöffnet hatte, verlor<lb/>
heute &#x017F;einen Zauber; der kranke Napoleon mußte zu Pferde davonjagen,<lb/>
obgleich er &#x017F;ich kaum im Sattel halten konnte. Nur um die Fahnen<lb/>
&#x017F;chaarten &#x017F;ich immer noch einige Getreue; ihrer vier waren in der Schlacht<lb/>
verloren gegangen, die übrigen wurden alle&#x017F;ammt gerettet. Niemals<lb/>
in aller Ge&#x017F;chichte war ein tapferes Heer &#x017F;o plötzlich aus allen Fugen<lb/>
gewichen. Nach der übermen&#x017F;chlichen An&#x017F;trengung des Tages brach alle<lb/>
Kraft des Leibes und des Willens mit einem Schlage zu&#x017F;ammen; das<lb/>
Dunkel der Nacht, die Uebermacht der Sieger, der umfa&#x017F;&#x017F;ende Angriff<lb/>
und die ra&#x017F;tlo&#x017F;e Verfolgung &#x017F;teigerten die Verwirrung. Ent&#x017F;cheidend blieb<lb/>
doch, daß die&#x017F;em Heere bei all &#x017F;einem &#x017F;türmi&#x017F;chen Muthe die &#x017F;ittliche<lb/>
Größe fehlte. Was hielt die&#x017F;e Meuterer zu&#x017F;ammen? Allein der Glaube<lb/>
an ihren Helden. Nun de&#x017F;&#x017F;en Glücks&#x017F;tern verbleichte, waren &#x017F;ie nichts<lb/>
mehr als eine zuchtlo&#x017F;e Bande.</p><lb/>
            <p>Die Sonne war &#x017F;chon hinter dicken Wolken ver&#x017F;unken, als die beiden<lb/>
Feldherren vor dem Hofe von Belle Alliance mit einander zu&#x017F;ammen<lb/>
trafen; &#x017F;ie umarmten &#x017F;ich herzlich, der bedacht&#x017F;ame Vierziger und der<lb/>
feurige Greis. Nahebei hielt Gnei&#x017F;enau. Endlich doch ein ganzer und<lb/>
voller Sieg, wie er ihn &#x017F;o oft vergeblich von Schwarzenberg gefordert;<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[756/0772] II. 2. Belle Alliance. lichkeit, mit ſolchen Truppen noch ein nachhaltiges Gefecht zu beſtehen. Der Herzog wußte wohl, daß allein das Erſcheinen der Preußen ihn vor einer unzweifelhaften Niederlage bewahrt hatte; ſeine wiederholten dringen- den Bitten an Blücher laſſen darüber keinen Zweifel. Doch er war dem militäriſchen Ehrgefühle ſeiner Tapferen eine letzte Genugthuung ſchuldig; auch ſah er mit ſtaatsmänniſcher Feinheit voraus, wie viel ge- wichtiger Englands Wort bei den Friedensverhandlungen in die Wag- ſchale fallen mußte, wenn man ſich ſo anſtellte, als hätten die britiſchen Waffen die Schlacht im Weſentlichen allein entſchieden. Darum ließ er, ſobald er den rechten Flügel der Franzoſen dem preußiſchen Angriffe er- liegen ſah, alle irgend verwendbaren Trümmer ſeines Heeres noch eine Strecke weit vorrücken. Auf dieſem letzten Vormarſch trieb der hanno- verſche Oberſt Halkett die beiden einzigen Vierecke der Kaiſergarde, die noch zuſammenhielten, vor ſich her und nahm ihren General Cambronne mit eigenen Händen gefangen. Aber die Kraft der Ermüdeten verſagte bald, ſie gelangten nicht über Belle Alliance hinaus. Wellington überließ, nach- dem er den Schein gerettet, die weitere Verfolgung ausſchließlich den Preußen, die ohnehin dem Feinde am Nächſten waren. Die Geſchlagenen ergriff ein wahnſinniger Schrecken. Kein Befehl fand mehr Gehör, Jeder dachte nur noch an ſein armes Leben. Fußvolk und Reiter wirr durch einander, flohen die aufgelöſten Maſſen auf und neben der Landſtraße ſüdwärts; die Troßknechte zerhieben die Stränge und ſprengten hinweg, ſo daß die 240 Kanonen alleſammt bis auf etwa 27 in die Hände der Sieger fielen. Selbſt der Ruf L’Empereur! der ſonſt augenblicklich jeden Weg dem kaiſerlichen Wagen geöffnet hatte, verlor heute ſeinen Zauber; der kranke Napoleon mußte zu Pferde davonjagen, obgleich er ſich kaum im Sattel halten konnte. Nur um die Fahnen ſchaarten ſich immer noch einige Getreue; ihrer vier waren in der Schlacht verloren gegangen, die übrigen wurden alleſammt gerettet. Niemals in aller Geſchichte war ein tapferes Heer ſo plötzlich aus allen Fugen gewichen. Nach der übermenſchlichen Anſtrengung des Tages brach alle Kraft des Leibes und des Willens mit einem Schlage zuſammen; das Dunkel der Nacht, die Uebermacht der Sieger, der umfaſſende Angriff und die raſtloſe Verfolgung ſteigerten die Verwirrung. Entſcheidend blieb doch, daß dieſem Heere bei all ſeinem ſtürmiſchen Muthe die ſittliche Größe fehlte. Was hielt dieſe Meuterer zuſammen? Allein der Glaube an ihren Helden. Nun deſſen Glücksſtern verbleichte, waren ſie nichts mehr als eine zuchtloſe Bande. Die Sonne war ſchon hinter dicken Wolken verſunken, als die beiden Feldherren vor dem Hofe von Belle Alliance mit einander zuſammen trafen; ſie umarmten ſich herzlich, der bedachtſame Vierziger und der feurige Greis. Nahebei hielt Gneiſenau. Endlich doch ein ganzer und voller Sieg, wie er ihn ſo oft vergeblich von Schwarzenberg gefordert;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/772
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 756. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/772>, abgerufen am 05.05.2024.