lichkeit, mit solchen Truppen noch ein nachhaltiges Gefecht zu bestehen. Der Herzog wußte wohl, daß allein das Erscheinen der Preußen ihn vor einer unzweifelhaften Niederlage bewahrt hatte; seine wiederholten dringen- den Bitten an Blücher lassen darüber keinen Zweifel. Doch er war dem militärischen Ehrgefühle seiner Tapferen eine letzte Genugthuung schuldig; auch sah er mit staatsmännischer Feinheit voraus, wie viel ge- wichtiger Englands Wort bei den Friedensverhandlungen in die Wag- schale fallen mußte, wenn man sich so anstellte, als hätten die britischen Waffen die Schlacht im Wesentlichen allein entschieden. Darum ließ er, sobald er den rechten Flügel der Franzosen dem preußischen Angriffe er- liegen sah, alle irgend verwendbaren Trümmer seines Heeres noch eine Strecke weit vorrücken. Auf diesem letzten Vormarsch trieb der hanno- versche Oberst Halkett die beiden einzigen Vierecke der Kaisergarde, die noch zusammenhielten, vor sich her und nahm ihren General Cambronne mit eigenen Händen gefangen. Aber die Kraft der Ermüdeten versagte bald, sie gelangten nicht über Belle Alliance hinaus. Wellington überließ, nach- dem er den Schein gerettet, die weitere Verfolgung ausschließlich den Preußen, die ohnehin dem Feinde am Nächsten waren.
Die Geschlagenen ergriff ein wahnsinniger Schrecken. Kein Befehl fand mehr Gehör, Jeder dachte nur noch an sein armes Leben. Fußvolk und Reiter wirr durch einander, flohen die aufgelösten Massen auf und neben der Landstraße südwärts; die Troßknechte zerhieben die Stränge und sprengten hinweg, so daß die 240 Kanonen allesammt bis auf etwa 27 in die Hände der Sieger fielen. Selbst der Ruf L'Empereur! der sonst augenblicklich jeden Weg dem kaiserlichen Wagen geöffnet hatte, verlor heute seinen Zauber; der kranke Napoleon mußte zu Pferde davonjagen, obgleich er sich kaum im Sattel halten konnte. Nur um die Fahnen schaarten sich immer noch einige Getreue; ihrer vier waren in der Schlacht verloren gegangen, die übrigen wurden allesammt gerettet. Niemals in aller Geschichte war ein tapferes Heer so plötzlich aus allen Fugen gewichen. Nach der übermenschlichen Anstrengung des Tages brach alle Kraft des Leibes und des Willens mit einem Schlage zusammen; das Dunkel der Nacht, die Uebermacht der Sieger, der umfassende Angriff und die rastlose Verfolgung steigerten die Verwirrung. Entscheidend blieb doch, daß diesem Heere bei all seinem stürmischen Muthe die sittliche Größe fehlte. Was hielt diese Meuterer zusammen? Allein der Glaube an ihren Helden. Nun dessen Glücksstern verbleichte, waren sie nichts mehr als eine zuchtlose Bande.
Die Sonne war schon hinter dicken Wolken versunken, als die beiden Feldherren vor dem Hofe von Belle Alliance mit einander zusammen trafen; sie umarmten sich herzlich, der bedachtsame Vierziger und der feurige Greis. Nahebei hielt Gneisenau. Endlich doch ein ganzer und voller Sieg, wie er ihn so oft vergeblich von Schwarzenberg gefordert;
II. 2. Belle Alliance.
lichkeit, mit ſolchen Truppen noch ein nachhaltiges Gefecht zu beſtehen. Der Herzog wußte wohl, daß allein das Erſcheinen der Preußen ihn vor einer unzweifelhaften Niederlage bewahrt hatte; ſeine wiederholten dringen- den Bitten an Blücher laſſen darüber keinen Zweifel. Doch er war dem militäriſchen Ehrgefühle ſeiner Tapferen eine letzte Genugthuung ſchuldig; auch ſah er mit ſtaatsmänniſcher Feinheit voraus, wie viel ge- wichtiger Englands Wort bei den Friedensverhandlungen in die Wag- ſchale fallen mußte, wenn man ſich ſo anſtellte, als hätten die britiſchen Waffen die Schlacht im Weſentlichen allein entſchieden. Darum ließ er, ſobald er den rechten Flügel der Franzoſen dem preußiſchen Angriffe er- liegen ſah, alle irgend verwendbaren Trümmer ſeines Heeres noch eine Strecke weit vorrücken. Auf dieſem letzten Vormarſch trieb der hanno- verſche Oberſt Halkett die beiden einzigen Vierecke der Kaiſergarde, die noch zuſammenhielten, vor ſich her und nahm ihren General Cambronne mit eigenen Händen gefangen. Aber die Kraft der Ermüdeten verſagte bald, ſie gelangten nicht über Belle Alliance hinaus. Wellington überließ, nach- dem er den Schein gerettet, die weitere Verfolgung ausſchließlich den Preußen, die ohnehin dem Feinde am Nächſten waren.
Die Geſchlagenen ergriff ein wahnſinniger Schrecken. Kein Befehl fand mehr Gehör, Jeder dachte nur noch an ſein armes Leben. Fußvolk und Reiter wirr durch einander, flohen die aufgelöſten Maſſen auf und neben der Landſtraße ſüdwärts; die Troßknechte zerhieben die Stränge und ſprengten hinweg, ſo daß die 240 Kanonen alleſammt bis auf etwa 27 in die Hände der Sieger fielen. Selbſt der Ruf L’Empereur! der ſonſt augenblicklich jeden Weg dem kaiſerlichen Wagen geöffnet hatte, verlor heute ſeinen Zauber; der kranke Napoleon mußte zu Pferde davonjagen, obgleich er ſich kaum im Sattel halten konnte. Nur um die Fahnen ſchaarten ſich immer noch einige Getreue; ihrer vier waren in der Schlacht verloren gegangen, die übrigen wurden alleſammt gerettet. Niemals in aller Geſchichte war ein tapferes Heer ſo plötzlich aus allen Fugen gewichen. Nach der übermenſchlichen Anſtrengung des Tages brach alle Kraft des Leibes und des Willens mit einem Schlage zuſammen; das Dunkel der Nacht, die Uebermacht der Sieger, der umfaſſende Angriff und die raſtloſe Verfolgung ſteigerten die Verwirrung. Entſcheidend blieb doch, daß dieſem Heere bei all ſeinem ſtürmiſchen Muthe die ſittliche Größe fehlte. Was hielt dieſe Meuterer zuſammen? Allein der Glaube an ihren Helden. Nun deſſen Glücksſtern verbleichte, waren ſie nichts mehr als eine zuchtloſe Bande.
Die Sonne war ſchon hinter dicken Wolken verſunken, als die beiden Feldherren vor dem Hofe von Belle Alliance mit einander zuſammen trafen; ſie umarmten ſich herzlich, der bedachtſame Vierziger und der feurige Greis. Nahebei hielt Gneiſenau. Endlich doch ein ganzer und voller Sieg, wie er ihn ſo oft vergeblich von Schwarzenberg gefordert;
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II. 2. Belle Alliance.
lichkeit, mit ſolchen Truppen noch ein nachhaltiges Gefecht zu beſtehen.
Der Herzog wußte wohl, daß allein das Erſcheinen der Preußen ihn vor
einer unzweifelhaften Niederlage bewahrt hatte; ſeine wiederholten dringen-
den Bitten an Blücher laſſen darüber keinen Zweifel. Doch er war
dem militäriſchen Ehrgefühle ſeiner Tapferen eine letzte Genugthuung
ſchuldig; auch ſah er mit ſtaatsmänniſcher Feinheit voraus, wie viel ge-
wichtiger Englands Wort bei den Friedensverhandlungen in die Wag-
ſchale fallen mußte, wenn man ſich ſo anſtellte, als hätten die britiſchen
Waffen die Schlacht im Weſentlichen allein entſchieden. Darum ließ er,
ſobald er den rechten Flügel der Franzoſen dem preußiſchen Angriffe er-
liegen ſah, alle irgend verwendbaren Trümmer ſeines Heeres noch eine
Strecke weit vorrücken. Auf dieſem letzten Vormarſch trieb der hanno-
verſche Oberſt Halkett die beiden einzigen Vierecke der Kaiſergarde, die noch
zuſammenhielten, vor ſich her und nahm ihren General Cambronne mit
eigenen Händen gefangen. Aber die Kraft der Ermüdeten verſagte bald,
ſie gelangten nicht über Belle Alliance hinaus. Wellington überließ, nach-
dem er den Schein gerettet, die weitere Verfolgung ausſchließlich den
Preußen, die ohnehin dem Feinde am Nächſten waren.
Die Geſchlagenen ergriff ein wahnſinniger Schrecken. Kein Befehl fand
mehr Gehör, Jeder dachte nur noch an ſein armes Leben. Fußvolk und
Reiter wirr durch einander, flohen die aufgelöſten Maſſen auf und neben
der Landſtraße ſüdwärts; die Troßknechte zerhieben die Stränge und
ſprengten hinweg, ſo daß die 240 Kanonen alleſammt bis auf etwa 27
in die Hände der Sieger fielen. Selbſt der Ruf L’Empereur! der ſonſt
augenblicklich jeden Weg dem kaiſerlichen Wagen geöffnet hatte, verlor
heute ſeinen Zauber; der kranke Napoleon mußte zu Pferde davonjagen,
obgleich er ſich kaum im Sattel halten konnte. Nur um die Fahnen
ſchaarten ſich immer noch einige Getreue; ihrer vier waren in der Schlacht
verloren gegangen, die übrigen wurden alleſammt gerettet. Niemals
in aller Geſchichte war ein tapferes Heer ſo plötzlich aus allen Fugen
gewichen. Nach der übermenſchlichen Anſtrengung des Tages brach alle
Kraft des Leibes und des Willens mit einem Schlage zuſammen; das
Dunkel der Nacht, die Uebermacht der Sieger, der umfaſſende Angriff
und die raſtloſe Verfolgung ſteigerten die Verwirrung. Entſcheidend blieb
doch, daß dieſem Heere bei all ſeinem ſtürmiſchen Muthe die ſittliche
Größe fehlte. Was hielt dieſe Meuterer zuſammen? Allein der Glaube
an ihren Helden. Nun deſſen Glücksſtern verbleichte, waren ſie nichts
mehr als eine zuchtloſe Bande.
Die Sonne war ſchon hinter dicken Wolken verſunken, als die beiden
Feldherren vor dem Hofe von Belle Alliance mit einander zuſammen
trafen; ſie umarmten ſich herzlich, der bedachtſame Vierziger und der
feurige Greis. Nahebei hielt Gneiſenau. Endlich doch ein ganzer und
voller Sieg, wie er ihn ſo oft vergeblich von Schwarzenberg gefordert;
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 756. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/772>, abgerufen am 23.07.2024.
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