Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

II. 2. Belle Alliance.
Angriff der Franzosen begonnen. Ney sprengte mit vierzehn Regimentern
schwerer Reiterei auf der Westseite der Landstraße gegen die Vierecke der
englischen Garde und der Division Alten im Centrum heran. Lange
wogte der Kampf unentschieden hin und her, aber das Fußvolk hielt un-
erschütterlich aus. Endlich zurückgeworfen zog Ney auch die Cavallerie
Kellermanns an sich, so daß er jetzt 26 Reiterregimenter zu erneutem
Angriff heranführte, die größte Reitermasse, welche dies kriegerische Zeit-
alter jemals an einer Stelle thätig gesehen hatte. Der Boden dröhnte
von dem Hufschlag von zehntausend Pferden, ein Wald von Säbeln
und Lanzen bedeckte die Thalmulde, stundenlang schwankte das Gefecht,
zehn-, zwölfmal ward die Attake gegen einzelne Bataillone erneuert. Noch-
mals behielt die Standhaftigkeit des englischen und deutschen Fußvolks die
Oberhand. Auch dieser Angriff scheiterte, die Schwadronen begannen zu
weichen, ein kühnes Vorgehen der englischen und hannoverschen Reserve-
reiterei brachte sie vollends in Verwirrung; aber auch die Sieger fühlten
sich tief erschöpft.

Auf den anderen Theilen des Schlachtfeldes gestaltete sich unter-
dessen der Gang der Ereignisse weit günstiger für Napoleon. Die Divi-
sion Quiot, die schon an dem großen Angriffe Erlons theilgenommen,
ging von Neuem auf der Landstraße vor und bestürmte die Meierei von
La Haye Sainte. Dort stand Major Baring mit einem Bataillon von
der leichten Infanterie der Deutschen Legion und einigen Nassauern.
Die grünen Jäger hatten schon um Mittag die Schlachthaufen Er-
lons abgeschlagen; die treuen Männer hingen mit ganzem Herzen an
ihren Offizieren, alle bis zum letzten Gemeinen zeigten sich entschlossen
von diesem Ehrenposten nimmermehr zu weichen. Und welche Aufgabe
jetzt! Schon brannten die Dächer des Gehöftes, die Einen mußten löschen,
die Anderen führten aus den Fenstern, hinter den Hecken und Mauern
des Gartens das Feuergefecht gegen die furchtbare Uebermacht draußen.
Pulver und Blei gingen aus; vergeblich sandte Baring wiederholt seine
Boten rückwärts nach Mont St. Jean mit der dringenden Bitte um
Munition. Erst als fast die letzte Patrone verschossen war, räumte die
tapfere kleine Schaar den Platz. Wie Rasende drangen die Franzosen
hinter den Abziehenden in das Gehöfte ein, durchsuchten brüllend alle
Stuben und Scheunen: "kein Pardon diesen grünen Brigands!" -- denn
wie viele ihrer Kameraden waren heute Mittag und jetzt wieder den sicheren
Kugeln der deutschen Jäger erlegen! Das Vorwerk des englischen Centrums
war genommen, und bald ergoß sich der Strom der Angreifer weiter bis
nach Mont St. Jean. Die Mitte der Schlachtlinie Wellingtons ward
durchbrochen. Da führte der Herzog selber die hannoversche Brigade
Kielmannsegge herbei und ihr gelang die Lücke im Centrum vorläufig zur
Noth wieder auszufüllen. Aber auch nur vorläufig; denn die Reserven
waren schon herangezogen bis auf den letzten Mann, und La Haye Sainte,

II. 2. Belle Alliance.
Angriff der Franzoſen begonnen. Ney ſprengte mit vierzehn Regimentern
ſchwerer Reiterei auf der Weſtſeite der Landſtraße gegen die Vierecke der
engliſchen Garde und der Diviſion Alten im Centrum heran. Lange
wogte der Kampf unentſchieden hin und her, aber das Fußvolk hielt un-
erſchütterlich aus. Endlich zurückgeworfen zog Ney auch die Cavallerie
Kellermanns an ſich, ſo daß er jetzt 26 Reiterregimenter zu erneutem
Angriff heranführte, die größte Reitermaſſe, welche dies kriegeriſche Zeit-
alter jemals an einer Stelle thätig geſehen hatte. Der Boden dröhnte
von dem Hufſchlag von zehntauſend Pferden, ein Wald von Säbeln
und Lanzen bedeckte die Thalmulde, ſtundenlang ſchwankte das Gefecht,
zehn-, zwölfmal ward die Attake gegen einzelne Bataillone erneuert. Noch-
mals behielt die Standhaftigkeit des engliſchen und deutſchen Fußvolks die
Oberhand. Auch dieſer Angriff ſcheiterte, die Schwadronen begannen zu
weichen, ein kühnes Vorgehen der engliſchen und hannoverſchen Reſerve-
reiterei brachte ſie vollends in Verwirrung; aber auch die Sieger fühlten
ſich tief erſchöpft.

Auf den anderen Theilen des Schlachtfeldes geſtaltete ſich unter-
deſſen der Gang der Ereigniſſe weit günſtiger für Napoleon. Die Divi-
ſion Quiot, die ſchon an dem großen Angriffe Erlons theilgenommen,
ging von Neuem auf der Landſtraße vor und beſtürmte die Meierei von
La Haye Sainte. Dort ſtand Major Baring mit einem Bataillon von
der leichten Infanterie der Deutſchen Legion und einigen Naſſauern.
Die grünen Jäger hatten ſchon um Mittag die Schlachthaufen Er-
lons abgeſchlagen; die treuen Männer hingen mit ganzem Herzen an
ihren Offizieren, alle bis zum letzten Gemeinen zeigten ſich entſchloſſen
von dieſem Ehrenpoſten nimmermehr zu weichen. Und welche Aufgabe
jetzt! Schon brannten die Dächer des Gehöftes, die Einen mußten löſchen,
die Anderen führten aus den Fenſtern, hinter den Hecken und Mauern
des Gartens das Feuergefecht gegen die furchtbare Uebermacht draußen.
Pulver und Blei gingen aus; vergeblich ſandte Baring wiederholt ſeine
Boten rückwärts nach Mont St. Jean mit der dringenden Bitte um
Munition. Erſt als faſt die letzte Patrone verſchoſſen war, räumte die
tapfere kleine Schaar den Platz. Wie Raſende drangen die Franzoſen
hinter den Abziehenden in das Gehöfte ein, durchſuchten brüllend alle
Stuben und Scheunen: „kein Pardon dieſen grünen Brigands!“ — denn
wie viele ihrer Kameraden waren heute Mittag und jetzt wieder den ſicheren
Kugeln der deutſchen Jäger erlegen! Das Vorwerk des engliſchen Centrums
war genommen, und bald ergoß ſich der Strom der Angreifer weiter bis
nach Mont St. Jean. Die Mitte der Schlachtlinie Wellingtons ward
durchbrochen. Da führte der Herzog ſelber die hannoverſche Brigade
Kielmannsegge herbei und ihr gelang die Lücke im Centrum vorläufig zur
Noth wieder auszufüllen. Aber auch nur vorläufig; denn die Reſerven
waren ſchon herangezogen bis auf den letzten Mann, und La Haye Sainte,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0768" n="752"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi> 2. Belle Alliance.</fw><lb/>
Angriff der Franzo&#x017F;en begonnen. Ney &#x017F;prengte mit vierzehn Regimentern<lb/>
&#x017F;chwerer Reiterei auf der We&#x017F;t&#x017F;eite der Land&#x017F;traße gegen die Vierecke der<lb/>
engli&#x017F;chen Garde und der Divi&#x017F;ion Alten im Centrum heran. Lange<lb/>
wogte der Kampf unent&#x017F;chieden hin und her, aber das Fußvolk hielt un-<lb/>
er&#x017F;chütterlich aus. Endlich zurückgeworfen zog Ney auch die Cavallerie<lb/>
Kellermanns an &#x017F;ich, &#x017F;o daß er jetzt 26 Reiterregimenter zu erneutem<lb/>
Angriff heranführte, die größte Reiterma&#x017F;&#x017F;e, welche dies kriegeri&#x017F;che Zeit-<lb/>
alter jemals an einer Stelle thätig ge&#x017F;ehen hatte. Der Boden dröhnte<lb/>
von dem Huf&#x017F;chlag von zehntau&#x017F;end Pferden, ein Wald von Säbeln<lb/>
und Lanzen bedeckte die Thalmulde, &#x017F;tundenlang &#x017F;chwankte das Gefecht,<lb/>
zehn-, zwölfmal ward die Attake gegen einzelne Bataillone erneuert. Noch-<lb/>
mals behielt die Standhaftigkeit des engli&#x017F;chen und deut&#x017F;chen Fußvolks die<lb/>
Oberhand. Auch die&#x017F;er Angriff &#x017F;cheiterte, die Schwadronen begannen zu<lb/>
weichen, ein kühnes Vorgehen der engli&#x017F;chen und hannover&#x017F;chen Re&#x017F;erve-<lb/>
reiterei brachte &#x017F;ie vollends in Verwirrung; aber auch die Sieger fühlten<lb/>
&#x017F;ich tief er&#x017F;chöpft.</p><lb/>
            <p>Auf den anderen Theilen des Schlachtfeldes ge&#x017F;taltete &#x017F;ich unter-<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en der Gang der Ereigni&#x017F;&#x017F;e weit gün&#x017F;tiger für Napoleon. Die Divi-<lb/>
&#x017F;ion Quiot, die &#x017F;chon an dem großen Angriffe Erlons theilgenommen,<lb/>
ging von Neuem auf der Land&#x017F;traße vor und be&#x017F;türmte die Meierei von<lb/>
La Haye Sainte. Dort &#x017F;tand Major Baring mit einem Bataillon von<lb/>
der leichten Infanterie der Deut&#x017F;chen Legion und einigen Na&#x017F;&#x017F;auern.<lb/>
Die grünen Jäger hatten &#x017F;chon um Mittag die Schlachthaufen Er-<lb/>
lons abge&#x017F;chlagen; die treuen Männer hingen mit ganzem Herzen an<lb/>
ihren Offizieren, alle bis zum letzten Gemeinen zeigten &#x017F;ich ent&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en<lb/>
von die&#x017F;em Ehrenpo&#x017F;ten nimmermehr zu weichen. Und welche Aufgabe<lb/>
jetzt! Schon brannten die Dächer des Gehöftes, die Einen mußten lö&#x017F;chen,<lb/>
die Anderen führten aus den Fen&#x017F;tern, hinter den Hecken und Mauern<lb/>
des Gartens das Feuergefecht gegen die furchtbare Uebermacht draußen.<lb/>
Pulver und Blei gingen aus; vergeblich &#x017F;andte Baring wiederholt &#x017F;eine<lb/>
Boten rückwärts nach Mont St. Jean mit der dringenden Bitte um<lb/>
Munition. Er&#x017F;t als fa&#x017F;t die letzte Patrone ver&#x017F;cho&#x017F;&#x017F;en war, räumte die<lb/>
tapfere kleine Schaar den Platz. Wie Ra&#x017F;ende drangen die Franzo&#x017F;en<lb/>
hinter den Abziehenden in das Gehöfte ein, durch&#x017F;uchten brüllend alle<lb/>
Stuben und Scheunen: &#x201E;kein Pardon die&#x017F;en grünen Brigands!&#x201C; &#x2014; denn<lb/>
wie viele ihrer Kameraden waren heute Mittag und jetzt wieder den &#x017F;icheren<lb/>
Kugeln der deut&#x017F;chen Jäger erlegen! Das Vorwerk des engli&#x017F;chen Centrums<lb/>
war genommen, und bald ergoß &#x017F;ich der Strom der Angreifer weiter bis<lb/>
nach Mont St. Jean. Die Mitte der Schlachtlinie Wellingtons ward<lb/>
durchbrochen. Da führte der Herzog &#x017F;elber die hannover&#x017F;che Brigade<lb/>
Kielmannsegge herbei und ihr gelang die Lücke im Centrum vorläufig zur<lb/>
Noth wieder auszufüllen. Aber auch nur vorläufig; denn die Re&#x017F;erven<lb/>
waren &#x017F;chon herangezogen bis auf den letzten Mann, und La Haye Sainte,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[752/0768] II. 2. Belle Alliance. Angriff der Franzoſen begonnen. Ney ſprengte mit vierzehn Regimentern ſchwerer Reiterei auf der Weſtſeite der Landſtraße gegen die Vierecke der engliſchen Garde und der Diviſion Alten im Centrum heran. Lange wogte der Kampf unentſchieden hin und her, aber das Fußvolk hielt un- erſchütterlich aus. Endlich zurückgeworfen zog Ney auch die Cavallerie Kellermanns an ſich, ſo daß er jetzt 26 Reiterregimenter zu erneutem Angriff heranführte, die größte Reitermaſſe, welche dies kriegeriſche Zeit- alter jemals an einer Stelle thätig geſehen hatte. Der Boden dröhnte von dem Hufſchlag von zehntauſend Pferden, ein Wald von Säbeln und Lanzen bedeckte die Thalmulde, ſtundenlang ſchwankte das Gefecht, zehn-, zwölfmal ward die Attake gegen einzelne Bataillone erneuert. Noch- mals behielt die Standhaftigkeit des engliſchen und deutſchen Fußvolks die Oberhand. Auch dieſer Angriff ſcheiterte, die Schwadronen begannen zu weichen, ein kühnes Vorgehen der engliſchen und hannoverſchen Reſerve- reiterei brachte ſie vollends in Verwirrung; aber auch die Sieger fühlten ſich tief erſchöpft. Auf den anderen Theilen des Schlachtfeldes geſtaltete ſich unter- deſſen der Gang der Ereigniſſe weit günſtiger für Napoleon. Die Divi- ſion Quiot, die ſchon an dem großen Angriffe Erlons theilgenommen, ging von Neuem auf der Landſtraße vor und beſtürmte die Meierei von La Haye Sainte. Dort ſtand Major Baring mit einem Bataillon von der leichten Infanterie der Deutſchen Legion und einigen Naſſauern. Die grünen Jäger hatten ſchon um Mittag die Schlachthaufen Er- lons abgeſchlagen; die treuen Männer hingen mit ganzem Herzen an ihren Offizieren, alle bis zum letzten Gemeinen zeigten ſich entſchloſſen von dieſem Ehrenpoſten nimmermehr zu weichen. Und welche Aufgabe jetzt! Schon brannten die Dächer des Gehöftes, die Einen mußten löſchen, die Anderen führten aus den Fenſtern, hinter den Hecken und Mauern des Gartens das Feuergefecht gegen die furchtbare Uebermacht draußen. Pulver und Blei gingen aus; vergeblich ſandte Baring wiederholt ſeine Boten rückwärts nach Mont St. Jean mit der dringenden Bitte um Munition. Erſt als faſt die letzte Patrone verſchoſſen war, räumte die tapfere kleine Schaar den Platz. Wie Raſende drangen die Franzoſen hinter den Abziehenden in das Gehöfte ein, durchſuchten brüllend alle Stuben und Scheunen: „kein Pardon dieſen grünen Brigands!“ — denn wie viele ihrer Kameraden waren heute Mittag und jetzt wieder den ſicheren Kugeln der deutſchen Jäger erlegen! Das Vorwerk des engliſchen Centrums war genommen, und bald ergoß ſich der Strom der Angreifer weiter bis nach Mont St. Jean. Die Mitte der Schlachtlinie Wellingtons ward durchbrochen. Da führte der Herzog ſelber die hannoverſche Brigade Kielmannsegge herbei und ihr gelang die Lücke im Centrum vorläufig zur Noth wieder auszufüllen. Aber auch nur vorläufig; denn die Reſerven waren ſchon herangezogen bis auf den letzten Mann, und La Haye Sainte,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/768
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 752. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/768>, abgerufen am 22.11.2024.