sollte so lange als möglich hinausgeschoben werden, damit die Armee nicht durch den Kanonendonner auf der Rechten in ihrer Siegeszuversicht beirrt würde. Aus Furcht vor dem Angriff der Preußen wagte der Imperator auch nicht mehr, die 24 Bataillone seiner Garde, die noch unberührt in Reserve standen, gegen die Engländer vorzuschicken, sondern beschloß mit seiner gesammten Cavallerie das Centrum Wellingtons zu durchbrechen: ein aussichtsloses Beginnen, da die Hauptmasse des Fuß- volks der Verbündeten noch unerschüttert war.
Blücher war am Morgen von Wavre aufgebrochen. Die alten Glie- der wollten sich noch gar nicht erholen von dem bösen Sturze vorgestern, doch wer durfte dem Helden heute von Ruhe und Schonung sprechen? Lieber, rief er aus, will ich mich auf dem Pferde fest binden lassen, als diese Schlacht versäumen! Wohlgemuth ritt er inmitten der Regimenter, die sich mit unsäglicher Anstrengung durch den tiefen Schlamm hindurcharbei- teten; ein Brand in Wavre hatte den Marsch erheblich verzögert. Die Sol- daten frohlockten wo der Feldherr sich zeigte, traten mit lautem Zuruf an ihn heran, streichelten ihm die Kniee; er hatte für Jeden ein ermunterndes Wort: "Kinder, ich habe meinem Bruder Wellington versprochen, daß wir kommen. Ihr wollt mich doch nicht wortbrüchig werden lassen?" Thielmann blieb mit dem dritten Armeecorps bei Wavre zurück um den Rücken des Heeres gegen einen Angriff Grouchys zu decken, der in der That am Nach- mittage auf Wavre heranzog. Die übrigen drei Corps nahmen den Marsch auf Chapelle St. Lambert; um 10 Uhr waren die Spitzen, um 1 Uhr die Hauptmasse der Armee dort auf den Höhen angelangt. Nun theilte sich das Heer. Zieten mit dem ersten Corps marschirte gradaus, in der Rich- tung auf Ohain und weiter gegen den rechten Flügel der Franzosen. Bülow mit dem vierten Corps und dahinter das zweite Corps unter Pirch wendeten sich nach links, südwestwärts, gegen den Rücken der französischen Auf- stellung. Das schwierige Defile des Lasnethals war zum Glücke vom Feinde nicht besetzt, der Bach ward überschritten, und gegen 4 Uhr ließ Bülow seine Truppen wohl verdeckt in und hinter dem Walde von Frichemont antreten: erst wenn eine genügende Macht zur Stelle war, sollte der überraschende Vorstoß erfolgen. In tiefem Schweigen rückten die Regimenter in ihre Stellungen ein; die Generale hielten am Rande des Waldes und verfolgten mit gespannten Blicken den Gang der Schlacht. Als einer der Offiziere meinte, der Feind werde nun wohl von den Eng- ländern ablassen, und um sich den Rückzug zu sichern seine Hauptmacht gegen die Preußen werfen, da erwiderte Gneisenau: "Sie kennen Napo- leon schlecht. Er wird gerade jetzt um jeden Preis die englische Schlacht- linie zu zersprengen suchen und gegen uns nur das Nothwendige ver- wenden."
Und so geschah es. Noch ehe die Preußen bei dem Walde von Frichemont anlangten, zwischen 3 und 4 Uhr hatte der zweite große
Anmarſch der Preußen.
ſollte ſo lange als möglich hinausgeſchoben werden, damit die Armee nicht durch den Kanonendonner auf der Rechten in ihrer Siegeszuverſicht beirrt würde. Aus Furcht vor dem Angriff der Preußen wagte der Imperator auch nicht mehr, die 24 Bataillone ſeiner Garde, die noch unberührt in Reſerve ſtanden, gegen die Engländer vorzuſchicken, ſondern beſchloß mit ſeiner geſammten Cavallerie das Centrum Wellingtons zu durchbrechen: ein ausſichtsloſes Beginnen, da die Hauptmaſſe des Fuß- volks der Verbündeten noch unerſchüttert war.
Blücher war am Morgen von Wavre aufgebrochen. Die alten Glie- der wollten ſich noch gar nicht erholen von dem böſen Sturze vorgeſtern, doch wer durfte dem Helden heute von Ruhe und Schonung ſprechen? Lieber, rief er aus, will ich mich auf dem Pferde feſt binden laſſen, als dieſe Schlacht verſäumen! Wohlgemuth ritt er inmitten der Regimenter, die ſich mit unſäglicher Anſtrengung durch den tiefen Schlamm hindurcharbei- teten; ein Brand in Wavre hatte den Marſch erheblich verzögert. Die Sol- daten frohlockten wo der Feldherr ſich zeigte, traten mit lautem Zuruf an ihn heran, ſtreichelten ihm die Kniee; er hatte für Jeden ein ermunterndes Wort: „Kinder, ich habe meinem Bruder Wellington verſprochen, daß wir kommen. Ihr wollt mich doch nicht wortbrüchig werden laſſen?“ Thielmann blieb mit dem dritten Armeecorps bei Wavre zurück um den Rücken des Heeres gegen einen Angriff Grouchys zu decken, der in der That am Nach- mittage auf Wavre heranzog. Die übrigen drei Corps nahmen den Marſch auf Chapelle St. Lambert; um 10 Uhr waren die Spitzen, um 1 Uhr die Hauptmaſſe der Armee dort auf den Höhen angelangt. Nun theilte ſich das Heer. Zieten mit dem erſten Corps marſchirte gradaus, in der Rich- tung auf Ohain und weiter gegen den rechten Flügel der Franzoſen. Bülow mit dem vierten Corps und dahinter das zweite Corps unter Pirch wendeten ſich nach links, ſüdweſtwärts, gegen den Rücken der franzöſiſchen Auf- ſtellung. Das ſchwierige Defilé des Lasnethals war zum Glücke vom Feinde nicht beſetzt, der Bach ward überſchritten, und gegen 4 Uhr ließ Bülow ſeine Truppen wohl verdeckt in und hinter dem Walde von Frichemont antreten: erſt wenn eine genügende Macht zur Stelle war, ſollte der überraſchende Vorſtoß erfolgen. In tiefem Schweigen rückten die Regimenter in ihre Stellungen ein; die Generale hielten am Rande des Waldes und verfolgten mit geſpannten Blicken den Gang der Schlacht. Als einer der Offiziere meinte, der Feind werde nun wohl von den Eng- ländern ablaſſen, und um ſich den Rückzug zu ſichern ſeine Hauptmacht gegen die Preußen werfen, da erwiderte Gneiſenau: „Sie kennen Napo- leon ſchlecht. Er wird gerade jetzt um jeden Preis die engliſche Schlacht- linie zu zerſprengen ſuchen und gegen uns nur das Nothwendige ver- wenden.“
Und ſo geſchah es. Noch ehe die Preußen bei dem Walde von Frichemont anlangten, zwiſchen 3 und 4 Uhr hatte der zweite große
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Anmarſch der Preußen.
ſollte ſo lange als möglich hinausgeſchoben werden, damit die Armee
nicht durch den Kanonendonner auf der Rechten in ihrer Siegeszuverſicht
beirrt würde. Aus Furcht vor dem Angriff der Preußen wagte der
Imperator auch nicht mehr, die 24 Bataillone ſeiner Garde, die noch
unberührt in Reſerve ſtanden, gegen die Engländer vorzuſchicken, ſondern
beſchloß mit ſeiner geſammten Cavallerie das Centrum Wellingtons zu
durchbrechen: ein ausſichtsloſes Beginnen, da die Hauptmaſſe des Fuß-
volks der Verbündeten noch unerſchüttert war.
Blücher war am Morgen von Wavre aufgebrochen. Die alten Glie-
der wollten ſich noch gar nicht erholen von dem böſen Sturze vorgeſtern,
doch wer durfte dem Helden heute von Ruhe und Schonung ſprechen?
Lieber, rief er aus, will ich mich auf dem Pferde feſt binden laſſen, als
dieſe Schlacht verſäumen! Wohlgemuth ritt er inmitten der Regimenter, die
ſich mit unſäglicher Anſtrengung durch den tiefen Schlamm hindurcharbei-
teten; ein Brand in Wavre hatte den Marſch erheblich verzögert. Die Sol-
daten frohlockten wo der Feldherr ſich zeigte, traten mit lautem Zuruf an
ihn heran, ſtreichelten ihm die Kniee; er hatte für Jeden ein ermunterndes
Wort: „Kinder, ich habe meinem Bruder Wellington verſprochen, daß wir
kommen. Ihr wollt mich doch nicht wortbrüchig werden laſſen?“ Thielmann
blieb mit dem dritten Armeecorps bei Wavre zurück um den Rücken des
Heeres gegen einen Angriff Grouchys zu decken, der in der That am Nach-
mittage auf Wavre heranzog. Die übrigen drei Corps nahmen den Marſch
auf Chapelle St. Lambert; um 10 Uhr waren die Spitzen, um 1 Uhr die
Hauptmaſſe der Armee dort auf den Höhen angelangt. Nun theilte ſich
das Heer. Zieten mit dem erſten Corps marſchirte gradaus, in der Rich-
tung auf Ohain und weiter gegen den rechten Flügel der Franzoſen. Bülow
mit dem vierten Corps und dahinter das zweite Corps unter Pirch wendeten
ſich nach links, ſüdweſtwärts, gegen den Rücken der franzöſiſchen Auf-
ſtellung. Das ſchwierige Defilé des Lasnethals war zum Glücke vom
Feinde nicht beſetzt, der Bach ward überſchritten, und gegen 4 Uhr
ließ Bülow ſeine Truppen wohl verdeckt in und hinter dem Walde von
Frichemont antreten: erſt wenn eine genügende Macht zur Stelle war,
ſollte der überraſchende Vorſtoß erfolgen. In tiefem Schweigen rückten
die Regimenter in ihre Stellungen ein; die Generale hielten am Rande
des Waldes und verfolgten mit geſpannten Blicken den Gang der Schlacht.
Als einer der Offiziere meinte, der Feind werde nun wohl von den Eng-
ländern ablaſſen, und um ſich den Rückzug zu ſichern ſeine Hauptmacht
gegen die Preußen werfen, da erwiderte Gneiſenau: „Sie kennen Napo-
leon ſchlecht. Er wird gerade jetzt um jeden Preis die engliſche Schlacht-
linie zu zerſprengen ſuchen und gegen uns nur das Nothwendige ver-
wenden.“
Und ſo geſchah es. Noch ehe die Preußen bei dem Walde von
Frichemont anlangten, zwiſchen 3 und 4 Uhr hatte der zweite große
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 751. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/767>, abgerufen am 22.11.2024.
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