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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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II. 2. Belle Alliance.
kanzler: "Wenn der Befehl zum Vorwärts ausbleibt, die Unruhen in
Frankreich zunehmen, so mache ich es wie in Schlesien und schlage los.
Wellington accompagnirt mich sicher." Gneisenau, gleich seinem greisen
Freunde bereit zu jedem Opfer für die gemeinsame Sache, urtheilte doch
anders über den Charakter des Briten; er meinte, von dem lasse sich
der zäheste und tapferste Widerstand gegen den Feind erwarten, aber
weder eine kühne Unbotmäßigkeit, noch irgend eine Aufopferung für die
Verbündeten. Und dies Urtheil traf das Rechte; denn wenn im Blücher'-
schen Hauptquartiere die hochherzige Begeisterung für die Freiheit Europas
vorherrschte, so war Wellington ein Engländer vom Wirbel bis zur Zehe,
im Guten wie im Bösen.

Die kurzen sechs Tage des belgischen Feldzugs erwecken nicht nur die
höchste politische und menschliche Theilnahme durch den rastlosen, mächtig
aufsteigenden dramatischen Gang der Ereignisse, durch die Ueberfülle gran-
dioser Kämpfe, Leidenschaften und Schicksalswechsel, die sich in wenigen
Stunden zusammendrängte; sie gewähren auch einen tiefen Einblick in die
wunderbar vielgestaltige und ungleichmäßige Entwicklung der abendländi-
schen Völker, denn drei grundverschiedene Epochen der europäischen Kriegs-
geschichte traten in den Ebenen von Brabant gleichzeitig auf den Kampf-
platz. Hier das achtzehnte Jahrhundert, das Söldnerheer Altenglands;
dort das Zeitalter der Revolution, das Berufssoldatenthum der demokra-
tischen Tyrannis; da endlich die neueste Zeit, das preußische Volk in
Waffen. Jede der drei Armeen entfaltet in einem ungeheuren Ringen
ihre eigenste Kraft, und jede wird geführt von dem Feldherrn, der ihrem
Charakter entspricht. Da Blücher und Gneisenau, die Helden des stür-
mischen Völkerzornes; dort der gekrönte Plebejer; hier endlich jener Wel-
lington, der damals von Münster und den Hochtorys als der größte
Feldherr des Jahrhunderts gefeiert wurde, uns Nachlebenden aber als
der letzte großartige Vertreter einer völlig überwundenen Kriegsweise er-
scheint.

Wellington zählt zu jenen seltenen Männern, die ohne schöpferi-
sches Genie, fast ohne Geist, allein durch die Kraft des Charakters,
durch die Macht des Willens und der Selbstbeherrschung zu den Höhen
historischen Ruhmes emporstiegen. Wer hätte diesem langsam fassenden
Knaben einen Weltruf geweissagt, ihm der nie recht jung war und von
seinen eigenen Brüdern Richard und Heinrich an Talent weitaus über-
troffen wurde? Ein Sohn jener hochkirchlichen Toryfamilien, die sich
als Eroberer in Irland niedergelassen hatten und inmitten der feind-
seligen Kelten den Rassen- und Standesstolz, die Art und Unart des
englischen Mutterlandes nur um so starrer bewahrten, hatte er nach alt-
englischem Adelsbrauche die subalternen Stellen im Heere durch Geld und
Gunst rasch übersprungen, schon mit fünfundzwanzig Jahren in dem Revo-
lutionskriege ein Regiment befehligt. Sodann lernte er in Ostindien die

II. 2. Belle Alliance.
kanzler: „Wenn der Befehl zum Vorwärts ausbleibt, die Unruhen in
Frankreich zunehmen, ſo mache ich es wie in Schleſien und ſchlage los.
Wellington accompagnirt mich ſicher.“ Gneiſenau, gleich ſeinem greiſen
Freunde bereit zu jedem Opfer für die gemeinſame Sache, urtheilte doch
anders über den Charakter des Briten; er meinte, von dem laſſe ſich
der zäheſte und tapferſte Widerſtand gegen den Feind erwarten, aber
weder eine kühne Unbotmäßigkeit, noch irgend eine Aufopferung für die
Verbündeten. Und dies Urtheil traf das Rechte; denn wenn im Blücher’-
ſchen Hauptquartiere die hochherzige Begeiſterung für die Freiheit Europas
vorherrſchte, ſo war Wellington ein Engländer vom Wirbel bis zur Zehe,
im Guten wie im Böſen.

Die kurzen ſechs Tage des belgiſchen Feldzugs erwecken nicht nur die
höchſte politiſche und menſchliche Theilnahme durch den raſtloſen, mächtig
aufſteigenden dramatiſchen Gang der Ereigniſſe, durch die Ueberfülle gran-
dioſer Kämpfe, Leidenſchaften und Schickſalswechſel, die ſich in wenigen
Stunden zuſammendrängte; ſie gewähren auch einen tiefen Einblick in die
wunderbar vielgeſtaltige und ungleichmäßige Entwicklung der abendländi-
ſchen Völker, denn drei grundverſchiedene Epochen der europäiſchen Kriegs-
geſchichte traten in den Ebenen von Brabant gleichzeitig auf den Kampf-
platz. Hier das achtzehnte Jahrhundert, das Söldnerheer Altenglands;
dort das Zeitalter der Revolution, das Berufsſoldatenthum der demokra-
tiſchen Tyrannis; da endlich die neueſte Zeit, das preußiſche Volk in
Waffen. Jede der drei Armeen entfaltet in einem ungeheuren Ringen
ihre eigenſte Kraft, und jede wird geführt von dem Feldherrn, der ihrem
Charakter entſpricht. Da Blücher und Gneiſenau, die Helden des ſtür-
miſchen Völkerzornes; dort der gekrönte Plebejer; hier endlich jener Wel-
lington, der damals von Münſter und den Hochtorys als der größte
Feldherr des Jahrhunderts gefeiert wurde, uns Nachlebenden aber als
der letzte großartige Vertreter einer völlig überwundenen Kriegsweiſe er-
ſcheint.

Wellington zählt zu jenen ſeltenen Männern, die ohne ſchöpferi-
ſches Genie, faſt ohne Geiſt, allein durch die Kraft des Charakters,
durch die Macht des Willens und der Selbſtbeherrſchung zu den Höhen
hiſtoriſchen Ruhmes emporſtiegen. Wer hätte dieſem langſam faſſenden
Knaben einen Weltruf geweiſſagt, ihm der nie recht jung war und von
ſeinen eigenen Brüdern Richard und Heinrich an Talent weitaus über-
troffen wurde? Ein Sohn jener hochkirchlichen Toryfamilien, die ſich
als Eroberer in Irland niedergelaſſen hatten und inmitten der feind-
ſeligen Kelten den Raſſen- und Standesſtolz, die Art und Unart des
engliſchen Mutterlandes nur um ſo ſtarrer bewahrten, hatte er nach alt-
engliſchem Adelsbrauche die ſubalternen Stellen im Heere durch Geld und
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lutionskriege ein Regiment befehligt. Sodann lernte er in Oſtindien die

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[724/0740] II. 2. Belle Alliance. kanzler: „Wenn der Befehl zum Vorwärts ausbleibt, die Unruhen in Frankreich zunehmen, ſo mache ich es wie in Schleſien und ſchlage los. Wellington accompagnirt mich ſicher.“ Gneiſenau, gleich ſeinem greiſen Freunde bereit zu jedem Opfer für die gemeinſame Sache, urtheilte doch anders über den Charakter des Briten; er meinte, von dem laſſe ſich der zäheſte und tapferſte Widerſtand gegen den Feind erwarten, aber weder eine kühne Unbotmäßigkeit, noch irgend eine Aufopferung für die Verbündeten. Und dies Urtheil traf das Rechte; denn wenn im Blücher’- ſchen Hauptquartiere die hochherzige Begeiſterung für die Freiheit Europas vorherrſchte, ſo war Wellington ein Engländer vom Wirbel bis zur Zehe, im Guten wie im Böſen. Die kurzen ſechs Tage des belgiſchen Feldzugs erwecken nicht nur die höchſte politiſche und menſchliche Theilnahme durch den raſtloſen, mächtig aufſteigenden dramatiſchen Gang der Ereigniſſe, durch die Ueberfülle gran- dioſer Kämpfe, Leidenſchaften und Schickſalswechſel, die ſich in wenigen Stunden zuſammendrängte; ſie gewähren auch einen tiefen Einblick in die wunderbar vielgeſtaltige und ungleichmäßige Entwicklung der abendländi- ſchen Völker, denn drei grundverſchiedene Epochen der europäiſchen Kriegs- geſchichte traten in den Ebenen von Brabant gleichzeitig auf den Kampf- platz. Hier das achtzehnte Jahrhundert, das Söldnerheer Altenglands; dort das Zeitalter der Revolution, das Berufsſoldatenthum der demokra- tiſchen Tyrannis; da endlich die neueſte Zeit, das preußiſche Volk in Waffen. Jede der drei Armeen entfaltet in einem ungeheuren Ringen ihre eigenſte Kraft, und jede wird geführt von dem Feldherrn, der ihrem Charakter entſpricht. Da Blücher und Gneiſenau, die Helden des ſtür- miſchen Völkerzornes; dort der gekrönte Plebejer; hier endlich jener Wel- lington, der damals von Münſter und den Hochtorys als der größte Feldherr des Jahrhunderts gefeiert wurde, uns Nachlebenden aber als der letzte großartige Vertreter einer völlig überwundenen Kriegsweiſe er- ſcheint. Wellington zählt zu jenen ſeltenen Männern, die ohne ſchöpferi- ſches Genie, faſt ohne Geiſt, allein durch die Kraft des Charakters, durch die Macht des Willens und der Selbſtbeherrſchung zu den Höhen hiſtoriſchen Ruhmes emporſtiegen. Wer hätte dieſem langſam faſſenden Knaben einen Weltruf geweiſſagt, ihm der nie recht jung war und von ſeinen eigenen Brüdern Richard und Heinrich an Talent weitaus über- troffen wurde? Ein Sohn jener hochkirchlichen Toryfamilien, die ſich als Eroberer in Irland niedergelaſſen hatten und inmitten der feind- ſeligen Kelten den Raſſen- und Standesſtolz, die Art und Unart des engliſchen Mutterlandes nur um ſo ſtarrer bewahrten, hatte er nach alt- engliſchem Adelsbrauche die ſubalternen Stellen im Heere durch Geld und Gunſt raſch überſprungen, ſchon mit fünfundzwanzig Jahren in dem Revo- lutionskriege ein Regiment befehligt. Sodann lernte er in Oſtindien die

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 724. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/740>, abgerufen am 22.11.2024.