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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Kaiserträume.
dem verfallenen Deutschland kein Kaiser werden wollte." So lebendig
erhielt sich der Gedanke des Kaiserthums, doch wer vermochte ihn praktisch
zu gestalten? Die harte Thatsache des deutschen Dualismus machte den
Patrioten für die Zukunft geringe Sorgen: wenn die Lothringer, nach
einem Vorschlage des Rheinischen Mercurs, mit den Hohenzollern eine
Erbverbrüderung schlossen, so stellte sich ja die wirkliche Einheit über lang
oder kurz von selber her. Bis dahin mußte man dem preußischen Staate
allerdings eine gewisse Unabhängigkeit neben und unter der österreichischen
Kaiserkrone zugestehen. Ein Aufsatz im Mercur wollte den Kaiser Franz
an die Spitze eines zwiegetheilten Reichstags stellen, so daß Preußen das
norddeutsch-protestantische Collegium, Oesterreich das rheinisch-katholische
leitete. Der preußische Staat sollte die schaffende und treibende Kraft in
diesem Doppelreiche bilden; denn seit der Staat Friedrichs seine alte
Kraft wiedergewonnen hatte, gab man sich draußen im Reiche wieder, wie
im achtzehnten Jahrhundert, der behaglichen Ansicht hin, daß Preußen
von der gütigen Natur dazu bestimmt sei den anderen Deutschen die Last
und Arbeit der großen Politik dienstfertig abzunehmen. Den Oesterreichern
theilte Görres die angenehmere Aufgabe zu, "das innerlich wärmende
und nährende Element" im Deutschen Reiche zu bilden, dies entspreche
ihrem "Stammescharakter". Aehnliche Ansichten vertrat der wohlmeinende
Hildburghausener Geheime Rath Schmid in seinem Buche "Deutschlands
Wiedergeburt"; er dachte sich die preußische Krone als den Reichsverweser
im Norden und zugleich als einen warnenden Rath und Volkstribunen
neben dem österreichischen Erbkaiser.

Auch was Arndt auf Steins Veranlassung "über die künftige stän-
dische Verfassung" schrieb, zeigt doch, daß der herrliche Mann über die
wesentlichen staatsrechtlichen Begriffe noch gar nicht nachgedacht hatte. Er
fordert einen Kaiser und einen aus den Landboten der Provinzen gebil-
deten Reichstag, ohne der Rechte der Fürsten auch nur zu gedenken; er
verlangt die alten Landstände zurück, allerdings nicht so unbedingt wie
der Koblenzer Romantiker, der die Dreizahl des Lehr-, Wehr- und Nähr-
standes feierte, sondern in etwas modernerer Form, und diesen altständi-
schen Körperschaften sollen die Minister verantwortlich sein. Die wenigen
politischen Sätze der Schrift liegen vereinzelt wie die Muscheln am Strande
im dicken Sande moralischer, historischer, ethnographischer Betrachtungen.
Die gesammte Bildung der Zeit blieb noch durch und durch unpolitisch,
die Methode politischen Denkens, die Kunst sachlicher Erörterung besaßen
unter allen deutschen Publicisten nur Zwei: Niebuhr, der sich über die
deutsche Verfassungsfrage niemals aussprach, und Gentz, die Feder der
Hofburg. Und wie fremd war doch selbst den besten Deutschen jener
Tage der ruhige, gehaltene Nationalstolz eines großen Volkes. Auf der
einen Seite ein fanatischer Haß gegen Frankreich, ein Haß, welchen Arndt
noch nach dem Kriege als den heiligen Wahn, als die Religion unseres

43*

Kaiſerträume.
dem verfallenen Deutſchland kein Kaiſer werden wollte.“ So lebendig
erhielt ſich der Gedanke des Kaiſerthums, doch wer vermochte ihn praktiſch
zu geſtalten? Die harte Thatſache des deutſchen Dualismus machte den
Patrioten für die Zukunft geringe Sorgen: wenn die Lothringer, nach
einem Vorſchlage des Rheiniſchen Mercurs, mit den Hohenzollern eine
Erbverbrüderung ſchloſſen, ſo ſtellte ſich ja die wirkliche Einheit über lang
oder kurz von ſelber her. Bis dahin mußte man dem preußiſchen Staate
allerdings eine gewiſſe Unabhängigkeit neben und unter der öſterreichiſchen
Kaiſerkrone zugeſtehen. Ein Aufſatz im Mercur wollte den Kaiſer Franz
an die Spitze eines zwiegetheilten Reichstags ſtellen, ſo daß Preußen das
norddeutſch-proteſtantiſche Collegium, Oeſterreich das rheiniſch-katholiſche
leitete. Der preußiſche Staat ſollte die ſchaffende und treibende Kraft in
dieſem Doppelreiche bilden; denn ſeit der Staat Friedrichs ſeine alte
Kraft wiedergewonnen hatte, gab man ſich draußen im Reiche wieder, wie
im achtzehnten Jahrhundert, der behaglichen Anſicht hin, daß Preußen
von der gütigen Natur dazu beſtimmt ſei den anderen Deutſchen die Laſt
und Arbeit der großen Politik dienſtfertig abzunehmen. Den Oeſterreichern
theilte Görres die angenehmere Aufgabe zu, „das innerlich wärmende
und nährende Element“ im Deutſchen Reiche zu bilden, dies entſpreche
ihrem „Stammescharakter“. Aehnliche Anſichten vertrat der wohlmeinende
Hildburghauſener Geheime Rath Schmid in ſeinem Buche „Deutſchlands
Wiedergeburt“; er dachte ſich die preußiſche Krone als den Reichsverweſer
im Norden und zugleich als einen warnenden Rath und Volkstribunen
neben dem öſterreichiſchen Erbkaiſer.

Auch was Arndt auf Steins Veranlaſſung „über die künftige ſtän-
diſche Verfaſſung“ ſchrieb, zeigt doch, daß der herrliche Mann über die
weſentlichen ſtaatsrechtlichen Begriffe noch gar nicht nachgedacht hatte. Er
fordert einen Kaiſer und einen aus den Landboten der Provinzen gebil-
deten Reichstag, ohne der Rechte der Fürſten auch nur zu gedenken; er
verlangt die alten Landſtände zurück, allerdings nicht ſo unbedingt wie
der Koblenzer Romantiker, der die Dreizahl des Lehr-, Wehr- und Nähr-
ſtandes feierte, ſondern in etwas modernerer Form, und dieſen altſtändi-
ſchen Körperſchaften ſollen die Miniſter verantwortlich ſein. Die wenigen
politiſchen Sätze der Schrift liegen vereinzelt wie die Muſcheln am Strande
im dicken Sande moraliſcher, hiſtoriſcher, ethnographiſcher Betrachtungen.
Die geſammte Bildung der Zeit blieb noch durch und durch unpolitiſch,
die Methode politiſchen Denkens, die Kunſt ſachlicher Erörterung beſaßen
unter allen deutſchen Publiciſten nur Zwei: Niebuhr, der ſich über die
deutſche Verfaſſungsfrage niemals ausſprach, und Gentz, die Feder der
Hofburg. Und wie fremd war doch ſelbſt den beſten Deutſchen jener
Tage der ruhige, gehaltene Nationalſtolz eines großen Volkes. Auf der
einen Seite ein fanatiſcher Haß gegen Frankreich, ein Haß, welchen Arndt
noch nach dem Kriege als den heiligen Wahn, als die Religion unſeres

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[675/0691] Kaiſerträume. dem verfallenen Deutſchland kein Kaiſer werden wollte.“ So lebendig erhielt ſich der Gedanke des Kaiſerthums, doch wer vermochte ihn praktiſch zu geſtalten? Die harte Thatſache des deutſchen Dualismus machte den Patrioten für die Zukunft geringe Sorgen: wenn die Lothringer, nach einem Vorſchlage des Rheiniſchen Mercurs, mit den Hohenzollern eine Erbverbrüderung ſchloſſen, ſo ſtellte ſich ja die wirkliche Einheit über lang oder kurz von ſelber her. Bis dahin mußte man dem preußiſchen Staate allerdings eine gewiſſe Unabhängigkeit neben und unter der öſterreichiſchen Kaiſerkrone zugeſtehen. Ein Aufſatz im Mercur wollte den Kaiſer Franz an die Spitze eines zwiegetheilten Reichstags ſtellen, ſo daß Preußen das norddeutſch-proteſtantiſche Collegium, Oeſterreich das rheiniſch-katholiſche leitete. Der preußiſche Staat ſollte die ſchaffende und treibende Kraft in dieſem Doppelreiche bilden; denn ſeit der Staat Friedrichs ſeine alte Kraft wiedergewonnen hatte, gab man ſich draußen im Reiche wieder, wie im achtzehnten Jahrhundert, der behaglichen Anſicht hin, daß Preußen von der gütigen Natur dazu beſtimmt ſei den anderen Deutſchen die Laſt und Arbeit der großen Politik dienſtfertig abzunehmen. Den Oeſterreichern theilte Görres die angenehmere Aufgabe zu, „das innerlich wärmende und nährende Element“ im Deutſchen Reiche zu bilden, dies entſpreche ihrem „Stammescharakter“. Aehnliche Anſichten vertrat der wohlmeinende Hildburghauſener Geheime Rath Schmid in ſeinem Buche „Deutſchlands Wiedergeburt“; er dachte ſich die preußiſche Krone als den Reichsverweſer im Norden und zugleich als einen warnenden Rath und Volkstribunen neben dem öſterreichiſchen Erbkaiſer. Auch was Arndt auf Steins Veranlaſſung „über die künftige ſtän- diſche Verfaſſung“ ſchrieb, zeigt doch, daß der herrliche Mann über die weſentlichen ſtaatsrechtlichen Begriffe noch gar nicht nachgedacht hatte. Er fordert einen Kaiſer und einen aus den Landboten der Provinzen gebil- deten Reichstag, ohne der Rechte der Fürſten auch nur zu gedenken; er verlangt die alten Landſtände zurück, allerdings nicht ſo unbedingt wie der Koblenzer Romantiker, der die Dreizahl des Lehr-, Wehr- und Nähr- ſtandes feierte, ſondern in etwas modernerer Form, und dieſen altſtändi- ſchen Körperſchaften ſollen die Miniſter verantwortlich ſein. Die wenigen politiſchen Sätze der Schrift liegen vereinzelt wie die Muſcheln am Strande im dicken Sande moraliſcher, hiſtoriſcher, ethnographiſcher Betrachtungen. Die geſammte Bildung der Zeit blieb noch durch und durch unpolitiſch, die Methode politiſchen Denkens, die Kunſt ſachlicher Erörterung beſaßen unter allen deutſchen Publiciſten nur Zwei: Niebuhr, der ſich über die deutſche Verfaſſungsfrage niemals ausſprach, und Gentz, die Feder der Hofburg. Und wie fremd war doch ſelbſt den beſten Deutſchen jener Tage der ruhige, gehaltene Nationalſtolz eines großen Volkes. Auf der einen Seite ein fanatiſcher Haß gegen Frankreich, ein Haß, welchen Arndt noch nach dem Kriege als den heiligen Wahn, als die Religion unſeres 43*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 675. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/691>, abgerufen am 25.11.2024.