Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.II. 1. Der Wiener Congreß. er dem "Comite der Vier" überreichte. Der Congreß, hieß es hier, istkein Friedenscongreß, da der Friede längst geschlossen, auch keine be- rathende Versammlung Europas, da Europa kein constituirtes Ganzes bildet, sondern er hat eine Mehrzahl verschiedener Geschäfte zu er- ledigen, die auch auf verschiedene Weise behandelt werden müssen: Ge- bietsfragen, besondere Angelegenheiten und solche Einrichtungen, die für den ganzen Welttheil wichtig sind. Von den Gebietsfragen bleibt die polnische, nach den Verträgen, allein den drei Theilungsmächten vor- behalten, doch soll England eine allen Theilen willkommene Vermittlung übernehmen. Die allgemeinen Grundsätze über die Vertheilung der deutschen Gebiete werden, gemäß dem Pariser Frieden, von den vier Mächten allein aufgestellt; Frankreich, Holland, Dänemark und die Schweiz sind fern zu halten, weil sie nicht von dem europäischen Standpunkte ausgehen, auch Baiern und Württemberg dürfen erst am Schlusse der Berathungen zuge- zogen werden. Die italienische Gebietsvertheilung unterliegt den Berathun- gen zwischen Oesterreich, Piemont, dem Papste, den Bourbonen von Sicilien und ihrem Schirmherrn England; Murat bleibt ausgeschlossen. Unter den "besonderen Angelegenheiten" steht die deutsche Verfassungsfrage oben- an; sie wird allein durch die deutschen Staaten entschieden, mit Zuziehung von Dänemark -- wegen Holstein --, den Niederlanden, die ganz oder theilweise beitreten müssen, und der Schweiz, denn ein ewiges Bündniß zwischen dem Deutschen Bunde und der Eidgenossenschaft "wäre im höchsten Grade wünschenswerth". So bleiben für die Berathungen aller Mächte nur übrig einige gemeinsame Angelegenheiten, nämlich: die Verfassung der Schweiz, da dort ein Bürgerkrieg droht; die neapolitanische Sache: -- der nicht von allen Mächten anerkannte Gewalthaber dort muß beseitigt werden; die Entfernung Napoleons aus Elba: -- dieser Feuerbrand darf nicht in so drohender Nähe bleiben; endlich die Abschaffung des Sklaven- handels, die Regelung der internationalen Flußschifffahrt und die Rang- ordnung der Diplomaten. Diese allgemein-europäischen Angelegenheiten werden von einem leitenden Comite bearbeitet und dann dem gesammten Congresse vorgelegt. Die preußischen Vorschläge fanden sofort lebhaften Widerspruch, obgleich II. 1. Der Wiener Congreß. er dem „Comité der Vier“ überreichte. Der Congreß, hieß es hier, iſtkein Friedenscongreß, da der Friede längſt geſchloſſen, auch keine be- rathende Verſammlung Europas, da Europa kein conſtituirtes Ganzes bildet, ſondern er hat eine Mehrzahl verſchiedener Geſchäfte zu er- ledigen, die auch auf verſchiedene Weiſe behandelt werden müſſen: Ge- bietsfragen, beſondere Angelegenheiten und ſolche Einrichtungen, die für den ganzen Welttheil wichtig ſind. Von den Gebietsfragen bleibt die polniſche, nach den Verträgen, allein den drei Theilungsmächten vor- behalten, doch ſoll England eine allen Theilen willkommene Vermittlung übernehmen. Die allgemeinen Grundſätze über die Vertheilung der deutſchen Gebiete werden, gemäß dem Pariſer Frieden, von den vier Mächten allein aufgeſtellt; Frankreich, Holland, Dänemark und die Schweiz ſind fern zu halten, weil ſie nicht von dem europäiſchen Standpunkte ausgehen, auch Baiern und Württemberg dürfen erſt am Schluſſe der Berathungen zuge- zogen werden. Die italieniſche Gebietsvertheilung unterliegt den Berathun- gen zwiſchen Oeſterreich, Piemont, dem Papſte, den Bourbonen von Sicilien und ihrem Schirmherrn England; Murat bleibt ausgeſchloſſen. Unter den „beſonderen Angelegenheiten“ ſteht die deutſche Verfaſſungsfrage oben- an; ſie wird allein durch die deutſchen Staaten entſchieden, mit Zuziehung von Dänemark — wegen Holſtein —, den Niederlanden, die ganz oder theilweiſe beitreten müſſen, und der Schweiz, denn ein ewiges Bündniß zwiſchen dem Deutſchen Bunde und der Eidgenoſſenſchaft „wäre im höchſten Grade wünſchenswerth“. So bleiben für die Berathungen aller Mächte nur übrig einige gemeinſame Angelegenheiten, nämlich: die Verfaſſung der Schweiz, da dort ein Bürgerkrieg droht; die neapolitaniſche Sache: — der nicht von allen Mächten anerkannte Gewalthaber dort muß beſeitigt werden; die Entfernung Napoleons aus Elba: — dieſer Feuerbrand darf nicht in ſo drohender Nähe bleiben; endlich die Abſchaffung des Sklaven- handels, die Regelung der internationalen Flußſchifffahrt und die Rang- ordnung der Diplomaten. Dieſe allgemein-europäiſchen Angelegenheiten werden von einem leitenden Comité bearbeitet und dann dem geſammten Congreſſe vorgelegt. Die preußiſchen Vorſchläge fanden ſofort lebhaften Widerſpruch, obgleich <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0632" n="616"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi> 1. Der Wiener Congreß.</fw><lb/> er dem „Comit<hi rendition="#aq">é</hi> der Vier“ überreichte. 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II. 1. Der Wiener Congreß.
er dem „Comité der Vier“ überreichte. Der Congreß, hieß es hier, iſt
kein Friedenscongreß, da der Friede längſt geſchloſſen, auch keine be-
rathende Verſammlung Europas, da Europa kein conſtituirtes Ganzes
bildet, ſondern er hat eine Mehrzahl verſchiedener Geſchäfte zu er-
ledigen, die auch auf verſchiedene Weiſe behandelt werden müſſen: Ge-
bietsfragen, beſondere Angelegenheiten und ſolche Einrichtungen, die für
den ganzen Welttheil wichtig ſind. Von den Gebietsfragen bleibt die
polniſche, nach den Verträgen, allein den drei Theilungsmächten vor-
behalten, doch ſoll England eine allen Theilen willkommene Vermittlung
übernehmen. Die allgemeinen Grundſätze über die Vertheilung der deutſchen
Gebiete werden, gemäß dem Pariſer Frieden, von den vier Mächten allein
aufgeſtellt; Frankreich, Holland, Dänemark und die Schweiz ſind fern zu
halten, weil ſie nicht von dem europäiſchen Standpunkte ausgehen, auch
Baiern und Württemberg dürfen erſt am Schluſſe der Berathungen zuge-
zogen werden. Die italieniſche Gebietsvertheilung unterliegt den Berathun-
gen zwiſchen Oeſterreich, Piemont, dem Papſte, den Bourbonen von Sicilien
und ihrem Schirmherrn England; Murat bleibt ausgeſchloſſen. Unter
den „beſonderen Angelegenheiten“ ſteht die deutſche Verfaſſungsfrage oben-
an; ſie wird allein durch die deutſchen Staaten entſchieden, mit Zuziehung
von Dänemark — wegen Holſtein —, den Niederlanden, die ganz oder
theilweiſe beitreten müſſen, und der Schweiz, denn ein ewiges Bündniß
zwiſchen dem Deutſchen Bunde und der Eidgenoſſenſchaft „wäre im höchſten
Grade wünſchenswerth“. So bleiben für die Berathungen aller Mächte
nur übrig einige gemeinſame Angelegenheiten, nämlich: die Verfaſſung der
Schweiz, da dort ein Bürgerkrieg droht; die neapolitaniſche Sache: — der
nicht von allen Mächten anerkannte Gewalthaber dort muß beſeitigt
werden; die Entfernung Napoleons aus Elba: — dieſer Feuerbrand darf
nicht in ſo drohender Nähe bleiben; endlich die Abſchaffung des Sklaven-
handels, die Regelung der internationalen Flußſchifffahrt und die Rang-
ordnung der Diplomaten. Dieſe allgemein-europäiſchen Angelegenheiten
werden von einem leitenden Comité bearbeitet und dann dem geſammten
Congreſſe vorgelegt.
Die preußiſchen Vorſchläge fanden ſofort lebhaften Widerſpruch, obgleich
ſie ſich ſtreng auf dem unzweifelhaften Rechtsboden des Pariſer Vertrages
hielten. Talleyrand hatte längſt dafür geſorgt, daß man in der Hofburg
von ſeiner geheimen Inſtruction Kunde erhielt, und die Oeſterreicher er-
kannten dankbar, welche löblichen Grundſätze der Tuilerienhof hinſichtlich
der ſächſiſchen und der polniſchen Frage hegte. Sie fanden es jetzt höchſt
unbillig, Frankreich von irgend einem wichtigen Theile der Verhandlungen
auszuſchließen. Lord Caſtlereagh ſtimmte ihnen zu; denn das Verhältniß
zwiſchen den Höfen von Paris und London war inzwiſchen immer freund-
licher geworden, und ſoeben erſt, auf der Reiſe nach Wien, hatte ſich
Caſtlereagh nochmals in den Tuilerien aufgehalten. König Ludwig ſchätzte
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