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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Vorbereitende Sitzungen.
der Wortführer der rechtmäßigsten aller Dynastien, schilderte prahlerisch,
wenige Monate vor den hundert Tagen, wie unerschütterlich fest die Macht
seines Königshauses stehe, wie jedes bedrängte Recht an den Bourbonen
einen sicheren Anker finde, und erfreute die Gedankenarmuth der dynasti-
schen Politik sogleich durch das geschickt erfundene Stichwort "Legitimität".
Mit feierlicher Salbung verkündete er sofort die drei schon in seiner In-
struction bezeichneten Hauptziele der bourbonischen Staatskunst: Beseiti-
gung "des Menschen der in Neapel herrscht" -- der Name Murats kam
niemals über Talleyrands keusche Lippen --, Abwehr der russischen Ueber-
griffe in Polen, endlich und vor Allem Wiedereinsetzung des Königs von
Sachsen. In dem sächsischen Handel erkannte der Franzose scharfblickend
den Keil, der die Coalition zersprengen mußte; pathetisch nannte er die
Sache Friedrich Augusts "die Sache aller Könige" und beklagte das un-
glückliche Europa, dessen öffentliches Recht durch Preußens und Rußlands
Gewaltthaten so schwer bedroht sei.


Schon die formelle Leitung einer so vielköpfigen und buntscheckigen
Versammlung bot die größten Schwierigkeiten, zumal da ihre leitenden
Männer meistentheils nur als bescheidene Gehilfen der Monarchen auf-
treten durften. Da Rußland und Oesterreich die Entscheidung aller
Streitfragen geflissentlich auf den Congreß verschoben hatten, so waren
die großen Mächte vorläufig noch über gar nichts einig, nicht einmal über
die Frage, wer an den Berathungen theilnehmen dürfe. Daher konnte
weder jemals eine förmliche Eröffnung des Congresses stattfinden noch
eine gemeinschaftliche Sitzung aller seiner Mitglieder noch endlich eine
Prüfung der Vollmachten; nur wenn ein Sondervertrag unterzeichnet
wurde, tauschten die Unterhändler unter sich ihre Beglaubigungen aus.

Um doch einige Ordnung in dies Chaos zu bringen, traten die
Minister der vier verbündeten Großmächte schon in der Mitte Septembers,
noch vor Ankunft der Franzosen, zu Vorberathungen zusammen. Die
preußischen Staatsmänner wahrten eifersüchtig die neugewonnene Groß-
machtstellung ihres Staates; antifranzösisch von Grund aus, bekämpften
sie zugleich die Napoleoniden und verlangten strenge Ausführung jenes
geheimen Artikels, der den Bourbonenhof von allen Gebietsverhandlungen
ausschloß. Aus beiden Gründen suchten sie die kleinen Staaten den
wichtigeren Berathungen fern zu halten, da die Theilnahme der Minder-
mächtigen unfehlbar den Einfluß Frankreichs verstärken mußte. In sol-
chem Sinne entwarf Humboldt den Plan einer Geschäftsordnung*), den

*) Humboldts "Vorschläge über den Geschäftsgang des Congresses", verhandelt
am 18. Sept. u. f.

Vorbereitende Sitzungen.
der Wortführer der rechtmäßigſten aller Dynaſtien, ſchilderte prahleriſch,
wenige Monate vor den hundert Tagen, wie unerſchütterlich feſt die Macht
ſeines Königshauſes ſtehe, wie jedes bedrängte Recht an den Bourbonen
einen ſicheren Anker finde, und erfreute die Gedankenarmuth der dynaſti-
ſchen Politik ſogleich durch das geſchickt erfundene Stichwort „Legitimität“.
Mit feierlicher Salbung verkündete er ſofort die drei ſchon in ſeiner In-
ſtruction bezeichneten Hauptziele der bourboniſchen Staatskunſt: Beſeiti-
gung „des Menſchen der in Neapel herrſcht“ — der Name Murats kam
niemals über Talleyrands keuſche Lippen —, Abwehr der ruſſiſchen Ueber-
griffe in Polen, endlich und vor Allem Wiedereinſetzung des Königs von
Sachſen. In dem ſächſiſchen Handel erkannte der Franzoſe ſcharfblickend
den Keil, der die Coalition zerſprengen mußte; pathetiſch nannte er die
Sache Friedrich Auguſts „die Sache aller Könige“ und beklagte das un-
glückliche Europa, deſſen öffentliches Recht durch Preußens und Rußlands
Gewaltthaten ſo ſchwer bedroht ſei.


Schon die formelle Leitung einer ſo vielköpfigen und buntſcheckigen
Verſammlung bot die größten Schwierigkeiten, zumal da ihre leitenden
Männer meiſtentheils nur als beſcheidene Gehilfen der Monarchen auf-
treten durften. Da Rußland und Oeſterreich die Entſcheidung aller
Streitfragen gefliſſentlich auf den Congreß verſchoben hatten, ſo waren
die großen Mächte vorläufig noch über gar nichts einig, nicht einmal über
die Frage, wer an den Berathungen theilnehmen dürfe. Daher konnte
weder jemals eine förmliche Eröffnung des Congreſſes ſtattfinden noch
eine gemeinſchaftliche Sitzung aller ſeiner Mitglieder noch endlich eine
Prüfung der Vollmachten; nur wenn ein Sondervertrag unterzeichnet
wurde, tauſchten die Unterhändler unter ſich ihre Beglaubigungen aus.

Um doch einige Ordnung in dies Chaos zu bringen, traten die
Miniſter der vier verbündeten Großmächte ſchon in der Mitte Septembers,
noch vor Ankunft der Franzoſen, zu Vorberathungen zuſammen. Die
preußiſchen Staatsmänner wahrten eiferſüchtig die neugewonnene Groß-
machtſtellung ihres Staates; antifranzöſiſch von Grund aus, bekämpften
ſie zugleich die Napoleoniden und verlangten ſtrenge Ausführung jenes
geheimen Artikels, der den Bourbonenhof von allen Gebietsverhandlungen
ausſchloß. Aus beiden Gründen ſuchten ſie die kleinen Staaten den
wichtigeren Berathungen fern zu halten, da die Theilnahme der Minder-
mächtigen unfehlbar den Einfluß Frankreichs verſtärken mußte. In ſol-
chem Sinne entwarf Humboldt den Plan einer Geſchäftsordnung*), den

*) Humboldts „Vorſchläge über den Geſchäftsgang des Congreſſes“, verhandelt
am 18. Sept. u. f.
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[615/0631] Vorbereitende Sitzungen. der Wortführer der rechtmäßigſten aller Dynaſtien, ſchilderte prahleriſch, wenige Monate vor den hundert Tagen, wie unerſchütterlich feſt die Macht ſeines Königshauſes ſtehe, wie jedes bedrängte Recht an den Bourbonen einen ſicheren Anker finde, und erfreute die Gedankenarmuth der dynaſti- ſchen Politik ſogleich durch das geſchickt erfundene Stichwort „Legitimität“. Mit feierlicher Salbung verkündete er ſofort die drei ſchon in ſeiner In- ſtruction bezeichneten Hauptziele der bourboniſchen Staatskunſt: Beſeiti- gung „des Menſchen der in Neapel herrſcht“ — der Name Murats kam niemals über Talleyrands keuſche Lippen —, Abwehr der ruſſiſchen Ueber- griffe in Polen, endlich und vor Allem Wiedereinſetzung des Königs von Sachſen. In dem ſächſiſchen Handel erkannte der Franzoſe ſcharfblickend den Keil, der die Coalition zerſprengen mußte; pathetiſch nannte er die Sache Friedrich Auguſts „die Sache aller Könige“ und beklagte das un- glückliche Europa, deſſen öffentliches Recht durch Preußens und Rußlands Gewaltthaten ſo ſchwer bedroht ſei. Schon die formelle Leitung einer ſo vielköpfigen und buntſcheckigen Verſammlung bot die größten Schwierigkeiten, zumal da ihre leitenden Männer meiſtentheils nur als beſcheidene Gehilfen der Monarchen auf- treten durften. Da Rußland und Oeſterreich die Entſcheidung aller Streitfragen gefliſſentlich auf den Congreß verſchoben hatten, ſo waren die großen Mächte vorläufig noch über gar nichts einig, nicht einmal über die Frage, wer an den Berathungen theilnehmen dürfe. Daher konnte weder jemals eine förmliche Eröffnung des Congreſſes ſtattfinden noch eine gemeinſchaftliche Sitzung aller ſeiner Mitglieder noch endlich eine Prüfung der Vollmachten; nur wenn ein Sondervertrag unterzeichnet wurde, tauſchten die Unterhändler unter ſich ihre Beglaubigungen aus. Um doch einige Ordnung in dies Chaos zu bringen, traten die Miniſter der vier verbündeten Großmächte ſchon in der Mitte Septembers, noch vor Ankunft der Franzoſen, zu Vorberathungen zuſammen. Die preußiſchen Staatsmänner wahrten eiferſüchtig die neugewonnene Groß- machtſtellung ihres Staates; antifranzöſiſch von Grund aus, bekämpften ſie zugleich die Napoleoniden und verlangten ſtrenge Ausführung jenes geheimen Artikels, der den Bourbonenhof von allen Gebietsverhandlungen ausſchloß. Aus beiden Gründen ſuchten ſie die kleinen Staaten den wichtigeren Berathungen fern zu halten, da die Theilnahme der Minder- mächtigen unfehlbar den Einfluß Frankreichs verſtärken mußte. In ſol- chem Sinne entwarf Humboldt den Plan einer Geſchäftsordnung *), den *) Humboldts „Vorſchläge über den Geſchäftsgang des Congreſſes“, verhandelt am 18. Sept. u. f.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 615. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/631>, abgerufen am 25.11.2024.