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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 5. Ende der Kriegszeit.
heranzuziehen. Mehrmals wurden die alten Generalräthe -- Landes-
deputirte hießen sie jetzt -- nach Aachen berufen um über die Vertheilung
der Kriegssteuern und Lieferungen zu berathschlagen; in jedem Canton
ward ein unbesoldeter Commissär aus der Mitte der Eingesessenen er-
nannt, der die Wünsche und Beschwerden des Bezirks dem Gouvernement
vortragen sollte*). Aber die Masse der neuen Beamten, die in die Stellen
der entflohenen Franzosen einrückten, der unvermeidliche Druck der Kriegs-
steuern und die Unsicherheit der provisorischen Zustände erweckten bald
Unwillen in dem leicht erregbaren Volke. Nicht lange, und der Ruf:
"da möchte man doch gleich provisorisch werden" war eine beliebte rhein-
ländische Verwünschung. Jetzt schon ließ sich erkennen, wie viel schwere
Arbeit dereinst noch nöthig sein würde um diese halbverwälschten Krumm-
stabslande wieder einzufügen in das neue deutsche Leben. Nur die alt-
preußischen Unterthanen im linksrheinischen Cleve, in Mörs und Geldern
schlossen sich mit ungemischter Freude der vaterländischen Sache an und
begannen bereits auf Bülows Aufforderung ihre Landwehr zu bilden. Da
fuhr plötzlich der Oberbefehlshaber Bernadotte, der noch immer auf
Frankreichs Krone hoffte, mit einem Verbote dazwischen und erklärte:
französische Unterthanen dürften nicht gegen Frankreich fechten!

Wunderbarer Kreislauf der Geschicke! Von diesen schönen rheinischen
Landen war vor einem Jahrtausend unsere Geschichte ausgegangen; jetzt
fluthete der mächtige Strom des deutschen Lebens aus den jungen Colo-
nistenlanden des Nordostens wieder nach Westen zurück in sein verschüt-
tetes altes Bette. Keiner unter den Söhnen des Rheinlandes grüßte den
neuen Morgen, der über der Westmark aufging, mit so schwärmerischem
Entzücken wie Joseph Görres. Der Heißsporn trat jetzt in die glücklichste
und fruchtbarste Zeit seines wechselreichen Lebens; er kehrte von seinen
wunderlichen wissenschaftlichen Irrfahrten zurück zu der publicistischen
Thätigkeit seiner Jugend und begann in dem Rheinischen Mercur den
Federkrieg für das neue Deutschthum -- noch ganz so stürmisch, un-
bändig, gewaltsam wie vor Jahren als er die Heilswahrheiten der Re-
volution verkündete, ein Redner großen Stiles, sprachgewaltig, unerschöpf-
lich in prächtigen, grandiosen Bildern, ein ehrlicher, freimüthiger Eiferer,
ein Wecker der Gewissen, und bei Alledem doch ein unpolitischer Kopf,
ohne eindringende Sachkenntniß, ohne Verständniß für die Machtverhält-
nisse der Staatenwelt. Der Rheinische Mercur war nicht, wie er sich
selber nannte, eine Stimme der Völker diesseits des Rheines, die nun-
mehr eine Vormauer für das Vaterland werden sollten. Am Rheine
fand die überschwängliche Sprache der patriotischen Leidenschaft nur in
vereinzelten Kreisen Anklang. Um so lauter war der Widerhall in Nord-

*) Sacks Generalbericht über die provisorische Verwaltung am Mittel- und Nieder-
rhein, 31. März 1816.

I. 5. Ende der Kriegszeit.
heranzuziehen. Mehrmals wurden die alten Generalräthe — Landes-
deputirte hießen ſie jetzt — nach Aachen berufen um über die Vertheilung
der Kriegsſteuern und Lieferungen zu berathſchlagen; in jedem Canton
ward ein unbeſoldeter Commiſſär aus der Mitte der Eingeſeſſenen er-
nannt, der die Wünſche und Beſchwerden des Bezirks dem Gouvernement
vortragen ſollte*). Aber die Maſſe der neuen Beamten, die in die Stellen
der entflohenen Franzoſen einrückten, der unvermeidliche Druck der Kriegs-
ſteuern und die Unſicherheit der proviſoriſchen Zuſtände erweckten bald
Unwillen in dem leicht erregbaren Volke. Nicht lange, und der Ruf:
„da möchte man doch gleich proviſoriſch werden“ war eine beliebte rhein-
ländiſche Verwünſchung. Jetzt ſchon ließ ſich erkennen, wie viel ſchwere
Arbeit dereinſt noch nöthig ſein würde um dieſe halbverwälſchten Krumm-
ſtabslande wieder einzufügen in das neue deutſche Leben. Nur die alt-
preußiſchen Unterthanen im linksrheiniſchen Cleve, in Mörs und Geldern
ſchloſſen ſich mit ungemiſchter Freude der vaterländiſchen Sache an und
begannen bereits auf Bülows Aufforderung ihre Landwehr zu bilden. Da
fuhr plötzlich der Oberbefehlshaber Bernadotte, der noch immer auf
Frankreichs Krone hoffte, mit einem Verbote dazwiſchen und erklärte:
franzöſiſche Unterthanen dürften nicht gegen Frankreich fechten!

Wunderbarer Kreislauf der Geſchicke! Von dieſen ſchönen rheiniſchen
Landen war vor einem Jahrtauſend unſere Geſchichte ausgegangen; jetzt
fluthete der mächtige Strom des deutſchen Lebens aus den jungen Colo-
niſtenlanden des Nordoſtens wieder nach Weſten zurück in ſein verſchüt-
tetes altes Bette. Keiner unter den Söhnen des Rheinlandes grüßte den
neuen Morgen, der über der Weſtmark aufging, mit ſo ſchwärmeriſchem
Entzücken wie Joſeph Görres. Der Heißſporn trat jetzt in die glücklichſte
und fruchtbarſte Zeit ſeines wechſelreichen Lebens; er kehrte von ſeinen
wunderlichen wiſſenſchaftlichen Irrfahrten zurück zu der publiciſtiſchen
Thätigkeit ſeiner Jugend und begann in dem Rheiniſchen Mercur den
Federkrieg für das neue Deutſchthum — noch ganz ſo ſtürmiſch, un-
bändig, gewaltſam wie vor Jahren als er die Heilswahrheiten der Re-
volution verkündete, ein Redner großen Stiles, ſprachgewaltig, unerſchöpf-
lich in prächtigen, grandioſen Bildern, ein ehrlicher, freimüthiger Eiferer,
ein Wecker der Gewiſſen, und bei Alledem doch ein unpolitiſcher Kopf,
ohne eindringende Sachkenntniß, ohne Verſtändniß für die Machtverhält-
niſſe der Staatenwelt. Der Rheiniſche Mercur war nicht, wie er ſich
ſelber nannte, eine Stimme der Völker dieſſeits des Rheines, die nun-
mehr eine Vormauer für das Vaterland werden ſollten. Am Rheine
fand die überſchwängliche Sprache der patriotiſchen Leidenſchaft nur in
vereinzelten Kreiſen Anklang. Um ſo lauter war der Widerhall in Nord-

*) Sacks Generalbericht über die proviſoriſche Verwaltung am Mittel- und Nieder-
rhein, 31. März 1816.
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[512/0528] I. 5. Ende der Kriegszeit. heranzuziehen. Mehrmals wurden die alten Generalräthe — Landes- deputirte hießen ſie jetzt — nach Aachen berufen um über die Vertheilung der Kriegsſteuern und Lieferungen zu berathſchlagen; in jedem Canton ward ein unbeſoldeter Commiſſär aus der Mitte der Eingeſeſſenen er- nannt, der die Wünſche und Beſchwerden des Bezirks dem Gouvernement vortragen ſollte *). Aber die Maſſe der neuen Beamten, die in die Stellen der entflohenen Franzoſen einrückten, der unvermeidliche Druck der Kriegs- ſteuern und die Unſicherheit der proviſoriſchen Zuſtände erweckten bald Unwillen in dem leicht erregbaren Volke. Nicht lange, und der Ruf: „da möchte man doch gleich proviſoriſch werden“ war eine beliebte rhein- ländiſche Verwünſchung. Jetzt ſchon ließ ſich erkennen, wie viel ſchwere Arbeit dereinſt noch nöthig ſein würde um dieſe halbverwälſchten Krumm- ſtabslande wieder einzufügen in das neue deutſche Leben. Nur die alt- preußiſchen Unterthanen im linksrheiniſchen Cleve, in Mörs und Geldern ſchloſſen ſich mit ungemiſchter Freude der vaterländiſchen Sache an und begannen bereits auf Bülows Aufforderung ihre Landwehr zu bilden. Da fuhr plötzlich der Oberbefehlshaber Bernadotte, der noch immer auf Frankreichs Krone hoffte, mit einem Verbote dazwiſchen und erklärte: franzöſiſche Unterthanen dürften nicht gegen Frankreich fechten! Wunderbarer Kreislauf der Geſchicke! Von dieſen ſchönen rheiniſchen Landen war vor einem Jahrtauſend unſere Geſchichte ausgegangen; jetzt fluthete der mächtige Strom des deutſchen Lebens aus den jungen Colo- niſtenlanden des Nordoſtens wieder nach Weſten zurück in ſein verſchüt- tetes altes Bette. Keiner unter den Söhnen des Rheinlandes grüßte den neuen Morgen, der über der Weſtmark aufging, mit ſo ſchwärmeriſchem Entzücken wie Joſeph Görres. Der Heißſporn trat jetzt in die glücklichſte und fruchtbarſte Zeit ſeines wechſelreichen Lebens; er kehrte von ſeinen wunderlichen wiſſenſchaftlichen Irrfahrten zurück zu der publiciſtiſchen Thätigkeit ſeiner Jugend und begann in dem Rheiniſchen Mercur den Federkrieg für das neue Deutſchthum — noch ganz ſo ſtürmiſch, un- bändig, gewaltſam wie vor Jahren als er die Heilswahrheiten der Re- volution verkündete, ein Redner großen Stiles, ſprachgewaltig, unerſchöpf- lich in prächtigen, grandioſen Bildern, ein ehrlicher, freimüthiger Eiferer, ein Wecker der Gewiſſen, und bei Alledem doch ein unpolitiſcher Kopf, ohne eindringende Sachkenntniß, ohne Verſtändniß für die Machtverhält- niſſe der Staatenwelt. Der Rheiniſche Mercur war nicht, wie er ſich ſelber nannte, eine Stimme der Völker dieſſeits des Rheines, die nun- mehr eine Vormauer für das Vaterland werden ſollten. Am Rheine fand die überſchwängliche Sprache der patriotiſchen Leidenſchaft nur in vereinzelten Kreiſen Anklang. Um ſo lauter war der Widerhall in Nord- *) Sacks Generalbericht über die proviſoriſche Verwaltung am Mittel- und Nieder- rhein, 31. März 1816.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 512. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/528>, abgerufen am 26.11.2024.