sechsmal drangen sie in das Dorf und verloren es wieder; das Gefühl der einzigen Größe des Tages beschwingte beiden Theilen die Kraft. End- lich führt York selber seine Reiterei zum Angriff gegen die Höhen unter dem Rufe: "marsch, marsch, es lebe der König;" nach einem wüthenden Häuserkampfe schlägt das Fußvolk den Feind aus dem Dorfe heraus; am Abend muß Marmont gegen die Stadt zurückweichen, 53 Kanonen in den Händen der Preußen lassen, und an den Wachtfeuern der Sieger ertönt das Lied: Herr Gott Dich loben wir, wie in der Winternacht von Leuthen. Aber welch ein Anblick am nächsten Morgen, als die Truppen zum Sonntagsgottesdienst zusammentraten. Achtundzwanzig Comman- deure und Stabsoffiziere lagen todt oder verwundet; von seinen 12,000 Mann Infanterie hatte York kaum 9000 mehr, seine Landwehr war im August mit 13,000 Mann ins Feld gezogen und zählte jetzt noch 2000. So waren an dieser einen Stelle die Verbündeten bis auf eine kleine Stunde an die Thore von Leipzig herangelangt.
Das Ausbleiben der Nordarmee hatte die üble Folge, daß Blücher seine Armee nicht schwächen durfte und nicht, wie seine Absicht war, ein Corps westlich durch die Auen auf die Rückzugslinie Napoleons ent- senden konnte. Dort im Westen stand also Giulai mit seinen 22,000 Oesterreichern den 15,000 Mann des Bertrand'schen Corps allein gegen- über und er verstand nicht seine Uebermacht zu verwerthen; die große Frankfurter Straße blieb dem Imperator gesichert. Auch auf dem Haupt- schauplatze des Kampfes, bei Wachau fochten die Verbündeten nicht glück- lich. Hier hatte zwei Tage vorher ein großartiges Vorspiel der Völker- schlacht sich abgespielt, ein gewaltiges Reitergefecht, wobei König Murat nur mit Noth dem Säbel des Leutnants Guido v. d. Lippe von den Neumärkischen Dragonern entgangen war. Heute hielt Napoleon selber mit der Garde und dem Kerne seines Heeres die dritthalb Stunden lange Linie von Dölitz bis Seifertshain besetzt, durch Zahl und Stellung den Verbündeten überlegen, 121,000 gegen 113,000 Mann. Auf dem linken Flügel der Alliirten, zwischen den beiden Flüssen, vergeudeten die unglück- lichen Opfer der Feldherrnkunst Langenaus ihre Kraft in einem tapferen, aber aussichtslosen Kampfe; eingeklemmt in dem buschigen Gelände ver- mochten sie ihre Macht nicht zu gebrauchen. General Merveldt selbst gerieth mit einem Theile seines Corps in Gefangenschaft; mit Mühe wurden die Reserven dieser Oesterreicher aus den Auen über die Pleiße rechtsab auf die offene Ebene hinauf gezogen. Es war die höchste Zeit, denn hier im Centrum konnten Kleists Preußen und die Russen des Prinzen Eugen sich auf die Dauer nicht behaupten in dem verzweifelten Ringen gegen die erdrückende Uebermacht, die unter dem Schutze von 300 Geschützen ihre Schläge führte. Die volle Hälfte dieser Helden von Kulm lag auf dem Schlachtfelde. Schon glaubt Napoleon die Schlacht gewonnen, befiehlt in der Stadt Victoria zu läuten, sendet Siegesboten
I. 4. Der Befreiungskrieg.
ſechsmal drangen ſie in das Dorf und verloren es wieder; das Gefühl der einzigen Größe des Tages beſchwingte beiden Theilen die Kraft. End- lich führt York ſelber ſeine Reiterei zum Angriff gegen die Höhen unter dem Rufe: „marſch, marſch, es lebe der König;“ nach einem wüthenden Häuſerkampfe ſchlägt das Fußvolk den Feind aus dem Dorfe heraus; am Abend muß Marmont gegen die Stadt zurückweichen, 53 Kanonen in den Händen der Preußen laſſen, und an den Wachtfeuern der Sieger ertönt das Lied: Herr Gott Dich loben wir, wie in der Winternacht von Leuthen. Aber welch ein Anblick am nächſten Morgen, als die Truppen zum Sonntagsgottesdienſt zuſammentraten. Achtundzwanzig Comman- deure und Stabsoffiziere lagen todt oder verwundet; von ſeinen 12,000 Mann Infanterie hatte York kaum 9000 mehr, ſeine Landwehr war im Auguſt mit 13,000 Mann ins Feld gezogen und zählte jetzt noch 2000. So waren an dieſer einen Stelle die Verbündeten bis auf eine kleine Stunde an die Thore von Leipzig herangelangt.
Das Ausbleiben der Nordarmee hatte die üble Folge, daß Blücher ſeine Armee nicht ſchwächen durfte und nicht, wie ſeine Abſicht war, ein Corps weſtlich durch die Auen auf die Rückzugslinie Napoleons ent- ſenden konnte. Dort im Weſten ſtand alſo Giulai mit ſeinen 22,000 Oeſterreichern den 15,000 Mann des Bertrand’ſchen Corps allein gegen- über und er verſtand nicht ſeine Uebermacht zu verwerthen; die große Frankfurter Straße blieb dem Imperator geſichert. Auch auf dem Haupt- ſchauplatze des Kampfes, bei Wachau fochten die Verbündeten nicht glück- lich. Hier hatte zwei Tage vorher ein großartiges Vorſpiel der Völker- ſchlacht ſich abgeſpielt, ein gewaltiges Reitergefecht, wobei König Murat nur mit Noth dem Säbel des Leutnants Guido v. d. Lippe von den Neumärkiſchen Dragonern entgangen war. Heute hielt Napoleon ſelber mit der Garde und dem Kerne ſeines Heeres die dritthalb Stunden lange Linie von Dölitz bis Seifertshain beſetzt, durch Zahl und Stellung den Verbündeten überlegen, 121,000 gegen 113,000 Mann. Auf dem linken Flügel der Alliirten, zwiſchen den beiden Flüſſen, vergeudeten die unglück- lichen Opfer der Feldherrnkunſt Langenaus ihre Kraft in einem tapferen, aber ausſichtsloſen Kampfe; eingeklemmt in dem buſchigen Gelände ver- mochten ſie ihre Macht nicht zu gebrauchen. General Merveldt ſelbſt gerieth mit einem Theile ſeines Corps in Gefangenſchaft; mit Mühe wurden die Reſerven dieſer Oeſterreicher aus den Auen über die Pleiße rechtsab auf die offene Ebene hinauf gezogen. Es war die höchſte Zeit, denn hier im Centrum konnten Kleiſts Preußen und die Ruſſen des Prinzen Eugen ſich auf die Dauer nicht behaupten in dem verzweifelten Ringen gegen die erdrückende Uebermacht, die unter dem Schutze von 300 Geſchützen ihre Schläge führte. Die volle Hälfte dieſer Helden von Kulm lag auf dem Schlachtfelde. Schon glaubt Napoleon die Schlacht gewonnen, befiehlt in der Stadt Victoria zu läuten, ſendet Siegesboten
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I. 4. Der Befreiungskrieg.
ſechsmal drangen ſie in das Dorf und verloren es wieder; das Gefühl
der einzigen Größe des Tages beſchwingte beiden Theilen die Kraft. End-
lich führt York ſelber ſeine Reiterei zum Angriff gegen die Höhen unter
dem Rufe: „marſch, marſch, es lebe der König;“ nach einem wüthenden
Häuſerkampfe ſchlägt das Fußvolk den Feind aus dem Dorfe heraus; am
Abend muß Marmont gegen die Stadt zurückweichen, 53 Kanonen in
den Händen der Preußen laſſen, und an den Wachtfeuern der Sieger
ertönt das Lied: Herr Gott Dich loben wir, wie in der Winternacht von
Leuthen. Aber welch ein Anblick am nächſten Morgen, als die Truppen
zum Sonntagsgottesdienſt zuſammentraten. Achtundzwanzig Comman-
deure und Stabsoffiziere lagen todt oder verwundet; von ſeinen 12,000
Mann Infanterie hatte York kaum 9000 mehr, ſeine Landwehr war im
Auguſt mit 13,000 Mann ins Feld gezogen und zählte jetzt noch 2000.
So waren an dieſer einen Stelle die Verbündeten bis auf eine kleine
Stunde an die Thore von Leipzig herangelangt.
Das Ausbleiben der Nordarmee hatte die üble Folge, daß Blücher
ſeine Armee nicht ſchwächen durfte und nicht, wie ſeine Abſicht war,
ein Corps weſtlich durch die Auen auf die Rückzugslinie Napoleons ent-
ſenden konnte. Dort im Weſten ſtand alſo Giulai mit ſeinen 22,000
Oeſterreichern den 15,000 Mann des Bertrand’ſchen Corps allein gegen-
über und er verſtand nicht ſeine Uebermacht zu verwerthen; die große
Frankfurter Straße blieb dem Imperator geſichert. Auch auf dem Haupt-
ſchauplatze des Kampfes, bei Wachau fochten die Verbündeten nicht glück-
lich. Hier hatte zwei Tage vorher ein großartiges Vorſpiel der Völker-
ſchlacht ſich abgeſpielt, ein gewaltiges Reitergefecht, wobei König Murat
nur mit Noth dem Säbel des Leutnants Guido v. d. Lippe von den
Neumärkiſchen Dragonern entgangen war. Heute hielt Napoleon ſelber
mit der Garde und dem Kerne ſeines Heeres die dritthalb Stunden lange
Linie von Dölitz bis Seifertshain beſetzt, durch Zahl und Stellung den
Verbündeten überlegen, 121,000 gegen 113,000 Mann. Auf dem linken
Flügel der Alliirten, zwiſchen den beiden Flüſſen, vergeudeten die unglück-
lichen Opfer der Feldherrnkunſt Langenaus ihre Kraft in einem tapferen,
aber ausſichtsloſen Kampfe; eingeklemmt in dem buſchigen Gelände ver-
mochten ſie ihre Macht nicht zu gebrauchen. General Merveldt ſelbſt
gerieth mit einem Theile ſeines Corps in Gefangenſchaft; mit Mühe
wurden die Reſerven dieſer Oeſterreicher aus den Auen über die Pleiße
rechtsab auf die offene Ebene hinauf gezogen. Es war die höchſte Zeit,
denn hier im Centrum konnten Kleiſts Preußen und die Ruſſen des
Prinzen Eugen ſich auf die Dauer nicht behaupten in dem verzweifelten
Ringen gegen die erdrückende Uebermacht, die unter dem Schutze von
300 Geſchützen ihre Schläge führte. Die volle Hälfte dieſer Helden von
Kulm lag auf dem Schlachtfelde. Schon glaubt Napoleon die Schlacht
gewonnen, befiehlt in der Stadt Victoria zu läuten, ſendet Siegesboten
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 500. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/516>, abgerufen am 22.11.2024.
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