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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Beginn des Frühjahrsfeldzugs.
mußten sie bald erkennen, wie wenig die verfügbaren Streitkräfte vorder-
hand noch für so großartige Entwürfe ausreichten. Ein glücklicher An-
griff des kleinen Dörnberg'schen Corps auf Lüneburg gab zwar ein er-
hebendes Zeugniß von der Tapferkeit des jungen Heeres -- die Soldaten
priesen den ersten Ritter des eisernen Kreuzes, Major Borcke, die Poe-
ten besangen das Heldenmädchen Johanna Stegen, das den Kämpfern
im dichten Kugelregen Pulver und Blei zutrug -- jedoch das vereinzelte
Unternehmen hatte keine bleibenden Folgen. Eine Schilderhebung der
Patrioten im Bremischen wurde durch Vandamme, den rohesten und
wüstesten der napoleonischen Generale, rasch niedergeworfen und grausam
bestraft. Auch von den Festungen diesseits der Elbe waren bis zu Ende
April nur Thorn und Spandau den Franzosen entrissen. Eine kühne
Kriegführung, wie sie Scharnhorst verlangte, konnte gleichwohl die Armee
des Vicekönigs im Magdeburger Lande vernichten bevor Napoleons Haupt-
heer herankam. Aber das russische Hauptquartier blieb wochenlang un-
beweglich in Polen. Der Czar bedurfte längerer Zeit um seine Armee,
deren Schwäche mit seinen eigenen prahlerischen Angaben in lächerlichem
Widerspruche stand, zu verstärken; auch wollte er Polen nicht verlassen
bevor die Ruhe in dem aufgeregten Lande durch eine genügende Truppen-
macht gesichert war. Dazu die Unlust seiner Generale und die peinlichen
Zweifel über die Absichten Oesterreichs, das aus seiner starken Flanken-
stellung heraus den Verbündeten hochgefährlich werden konnte. Erst am
24. April zog das russische Hauptheer in Dresden ein um sich dann nach
langsamen Märschen südlich von Leipzig mit Blücher zu vereinigen.

Mittlerweile hatte Napoleon seine Rüstungen mächtig gefördert. Wohl
lagen tausende der erprobten Veteranen im russischen Schnee begraben.
Die jungen Conscribirten standen den alten Kameraden weit nach, viele
hatte man in Ketten zu den Regimentern schleppen müssen; auch die
Marschälle begannen der unendlichen Kriegsarbeit satt zu werden und
sehnten sich nach friedlichem Genusse der erbeuteten Schätze. Die Ueber-
legenheit der sittlichen Spannkraft und des kriegerischen Feuers, die vor-
dem den napoleonischen Heeren eigen gewesen, war jetzt ganz und gar
auf die Preußen übergegangen. Immerhin blieb das Weltreich, das seit
Jahren von keinem Feinde betreten worden, durch seine unermeßlichen
Hilfsquellen den Verbündeten weitaus überlegen. Während Bertrand
aus Italien durch Baiern heranzog, versammelten sich die übrigen Corps
der Franzosen und Rheinbündner am Niederrhein, bei Frankfurt und im
Würzburgischen. In den letzten Tagen des April rückte Napoleon selbst
mit dem Hauptheere auf der Frankfurt-Leipziger Straße durch Thü-
ringen ostwärts und vereinigte sich am 29. bei Naumburg mit der
Armee des Vicekönigs. Er gebot über eine Feldarmee von mindestens
180,000 Mann, ungerechnet die Garnisonen der deutschen Festungen,
und die Verbündeten konnten ihm zunächst nur etwa 98,000 Mann

Beginn des Frühjahrsfeldzugs.
mußten ſie bald erkennen, wie wenig die verfügbaren Streitkräfte vorder-
hand noch für ſo großartige Entwürfe ausreichten. Ein glücklicher An-
griff des kleinen Dörnberg’ſchen Corps auf Lüneburg gab zwar ein er-
hebendes Zeugniß von der Tapferkeit des jungen Heeres — die Soldaten
prieſen den erſten Ritter des eiſernen Kreuzes, Major Borcke, die Poe-
ten beſangen das Heldenmädchen Johanna Stegen, das den Kämpfern
im dichten Kugelregen Pulver und Blei zutrug — jedoch das vereinzelte
Unternehmen hatte keine bleibenden Folgen. Eine Schilderhebung der
Patrioten im Bremiſchen wurde durch Vandamme, den roheſten und
wüſteſten der napoleoniſchen Generale, raſch niedergeworfen und grauſam
beſtraft. Auch von den Feſtungen dieſſeits der Elbe waren bis zu Ende
April nur Thorn und Spandau den Franzoſen entriſſen. Eine kühne
Kriegführung, wie ſie Scharnhorſt verlangte, konnte gleichwohl die Armee
des Vicekönigs im Magdeburger Lande vernichten bevor Napoleons Haupt-
heer herankam. Aber das ruſſiſche Hauptquartier blieb wochenlang un-
beweglich in Polen. Der Czar bedurfte längerer Zeit um ſeine Armee,
deren Schwäche mit ſeinen eigenen prahleriſchen Angaben in lächerlichem
Widerſpruche ſtand, zu verſtärken; auch wollte er Polen nicht verlaſſen
bevor die Ruhe in dem aufgeregten Lande durch eine genügende Truppen-
macht geſichert war. Dazu die Unluſt ſeiner Generale und die peinlichen
Zweifel über die Abſichten Oeſterreichs, das aus ſeiner ſtarken Flanken-
ſtellung heraus den Verbündeten hochgefährlich werden konnte. Erſt am
24. April zog das ruſſiſche Hauptheer in Dresden ein um ſich dann nach
langſamen Märſchen ſüdlich von Leipzig mit Blücher zu vereinigen.

Mittlerweile hatte Napoleon ſeine Rüſtungen mächtig gefördert. Wohl
lagen tauſende der erprobten Veteranen im ruſſiſchen Schnee begraben.
Die jungen Conſcribirten ſtanden den alten Kameraden weit nach, viele
hatte man in Ketten zu den Regimentern ſchleppen müſſen; auch die
Marſchälle begannen der unendlichen Kriegsarbeit ſatt zu werden und
ſehnten ſich nach friedlichem Genuſſe der erbeuteten Schätze. Die Ueber-
legenheit der ſittlichen Spannkraft und des kriegeriſchen Feuers, die vor-
dem den napoleoniſchen Heeren eigen geweſen, war jetzt ganz und gar
auf die Preußen übergegangen. Immerhin blieb das Weltreich, das ſeit
Jahren von keinem Feinde betreten worden, durch ſeine unermeßlichen
Hilfsquellen den Verbündeten weitaus überlegen. Während Bertrand
aus Italien durch Baiern heranzog, verſammelten ſich die übrigen Corps
der Franzoſen und Rheinbündner am Niederrhein, bei Frankfurt und im
Würzburgiſchen. In den letzten Tagen des April rückte Napoleon ſelbſt
mit dem Hauptheere auf der Frankfurt-Leipziger Straße durch Thü-
ringen oſtwärts und vereinigte ſich am 29. bei Naumburg mit der
Armee des Vicekönigs. Er gebot über eine Feldarmee von mindeſtens
180,000 Mann, ungerechnet die Garniſonen der deutſchen Feſtungen,
und die Verbündeten konnten ihm zunächſt nur etwa 98,000 Mann

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[453/0469] Beginn des Frühjahrsfeldzugs. mußten ſie bald erkennen, wie wenig die verfügbaren Streitkräfte vorder- hand noch für ſo großartige Entwürfe ausreichten. Ein glücklicher An- griff des kleinen Dörnberg’ſchen Corps auf Lüneburg gab zwar ein er- hebendes Zeugniß von der Tapferkeit des jungen Heeres — die Soldaten prieſen den erſten Ritter des eiſernen Kreuzes, Major Borcke, die Poe- ten beſangen das Heldenmädchen Johanna Stegen, das den Kämpfern im dichten Kugelregen Pulver und Blei zutrug — jedoch das vereinzelte Unternehmen hatte keine bleibenden Folgen. Eine Schilderhebung der Patrioten im Bremiſchen wurde durch Vandamme, den roheſten und wüſteſten der napoleoniſchen Generale, raſch niedergeworfen und grauſam beſtraft. Auch von den Feſtungen dieſſeits der Elbe waren bis zu Ende April nur Thorn und Spandau den Franzoſen entriſſen. Eine kühne Kriegführung, wie ſie Scharnhorſt verlangte, konnte gleichwohl die Armee des Vicekönigs im Magdeburger Lande vernichten bevor Napoleons Haupt- heer herankam. Aber das ruſſiſche Hauptquartier blieb wochenlang un- beweglich in Polen. Der Czar bedurfte längerer Zeit um ſeine Armee, deren Schwäche mit ſeinen eigenen prahleriſchen Angaben in lächerlichem Widerſpruche ſtand, zu verſtärken; auch wollte er Polen nicht verlaſſen bevor die Ruhe in dem aufgeregten Lande durch eine genügende Truppen- macht geſichert war. Dazu die Unluſt ſeiner Generale und die peinlichen Zweifel über die Abſichten Oeſterreichs, das aus ſeiner ſtarken Flanken- ſtellung heraus den Verbündeten hochgefährlich werden konnte. Erſt am 24. April zog das ruſſiſche Hauptheer in Dresden ein um ſich dann nach langſamen Märſchen ſüdlich von Leipzig mit Blücher zu vereinigen. Mittlerweile hatte Napoleon ſeine Rüſtungen mächtig gefördert. Wohl lagen tauſende der erprobten Veteranen im ruſſiſchen Schnee begraben. Die jungen Conſcribirten ſtanden den alten Kameraden weit nach, viele hatte man in Ketten zu den Regimentern ſchleppen müſſen; auch die Marſchälle begannen der unendlichen Kriegsarbeit ſatt zu werden und ſehnten ſich nach friedlichem Genuſſe der erbeuteten Schätze. Die Ueber- legenheit der ſittlichen Spannkraft und des kriegeriſchen Feuers, die vor- dem den napoleoniſchen Heeren eigen geweſen, war jetzt ganz und gar auf die Preußen übergegangen. Immerhin blieb das Weltreich, das ſeit Jahren von keinem Feinde betreten worden, durch ſeine unermeßlichen Hilfsquellen den Verbündeten weitaus überlegen. Während Bertrand aus Italien durch Baiern heranzog, verſammelten ſich die übrigen Corps der Franzoſen und Rheinbündner am Niederrhein, bei Frankfurt und im Würzburgiſchen. In den letzten Tagen des April rückte Napoleon ſelbſt mit dem Hauptheere auf der Frankfurt-Leipziger Straße durch Thü- ringen oſtwärts und vereinigte ſich am 29. bei Naumburg mit der Armee des Vicekönigs. Er gebot über eine Feldarmee von mindeſtens 180,000 Mann, ungerechnet die Garniſonen der deutſchen Feſtungen, und die Verbündeten konnten ihm zunächſt nur etwa 98,000 Mann

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 453. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/469>, abgerufen am 22.11.2024.