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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 4. Der Befreiungskrieg.
entgegenstellen. Scharnhorst wünschte anfangs die Schlacht in der freien
Ebene von Leipzig, wo die überlegene Reiterei der Verbündeten zur vol-
len Wirksamkeit gelangen konnte. Das russische Hauptquartier dagegen
beschloß, südlich von dem alten Lützener Schlachtfelde, in dem sumpfigen,
von Gräben, Hecken und Hohlwegen durchschnittenen Wiesenlande bei
Großgörschen, das zur Entfaltung großer Reitermassen wenig Raum bot,
einen Vorstoß gegen die rechte Flanke des nach Leipzig vorrückenden Fein-
des zu wagen. Höchstwahrscheinlich war es Scharnhorst, der zuerst den
einfach kühnen Rath gab: man solle die Uebermacht des Feindes schon
auf dem Anmarsch überraschen, seine Marschkolonnen durch einen Flanken-
angriff durchbrechen. Der verwegene Plan konnte nur durch Ueberraschung,
durch die höchste Schnelligkeit der Ausführung gelingen. General Die-
bitsch, der in Wittgensteins Auftrag die Anordnungen traf, leitete jedoch
den Aufmarsch so unglücklich, daß die Corps von Blücher und York ein-
ander durchkreuzten.

Erst um Mittag des 2. Mai konnten die Preußen den Angriff be-
ginnen auf die zwischen den Büschen versteckten vier Dörfer Groß- und
Klein-Görschen, Rahna und Caja, welche Ney mit gewaltiger Uebermacht
hielt. Unter brausendem Hurrahruf stürmten ihre Regimenter heran, noch
niemals waren die französischen Legionen einem solchen Ungestüm kriegerischer
Begeisterung begegnet. Nichts von der natürlichen Unsicherheit junger
Truppen; ein Sturm des Zornes schien Jeden fortzureißen; Niemand
konnte sich auszeichnen, so groß war die Tapferkeit Aller! Nach zweistün-
digem mörderischem Kampfe wurden drei von den Dörfern den Franzosen
entrissen. Da eilte Napoleon selbst von der Leipziger Straße herbei, ver-
suchte mit frischen Truppen die Schlacht herzustellen. Er mußte mit an-
sehen, wie die preußische Garde durch einen zweiten furchtbaren Angriff
die vier Dörfer sämmtlich nahm; kam die Reserve der Verbündeten
rechtzeitig heran, so war die Marschlinie der Franzosen durchbrochen,
ihrem Hauptheere eine schwere Niederlage bereitet. Auf einen Augenblick
wurde der Imperator unsicher. "Glaubt Ihr, daß mein Stern unter-
geht?" fragte er zweifelnd seinen Berthier, und beim Anblick des Todes-
muthes der Preußen entfuhr ihm der Ausruf: "Diese Thiere haben
etwas gelernt." Doch Wittgensteins Reserven blieben aus; das Corps
von Miloradowitsch wurde durch ein unglückliches Mißverständniß dem
Schlachtfelde fern gehalten, und die russischen Garden erschienen erst
auf der Wahlstatt als mit dem Anbruch der Nacht der Kampf zu
Ende ging. Die Reiterei der Verbündeten gelangte nicht zu entscheiden-
dem Eingreifen, da Wittgenstein sich völlig unfähig zeigte die Leitung des
Heeres in der Hand zu behalten und eigentlich Niemand den Oberbefehl
führte; ihr Fußvolk verbiß sich in den blutigen Kampf um die Dörfer,
der bei der Ueberlegenheit der feindlichen Infanterie keinen günstigen Aus-
gang versprach. Währenddem zog Napoleon vom Norden her neue Ver-

I. 4. Der Befreiungskrieg.
entgegenſtellen. Scharnhorſt wünſchte anfangs die Schlacht in der freien
Ebene von Leipzig, wo die überlegene Reiterei der Verbündeten zur vol-
len Wirkſamkeit gelangen konnte. Das ruſſiſche Hauptquartier dagegen
beſchloß, ſüdlich von dem alten Lützener Schlachtfelde, in dem ſumpfigen,
von Gräben, Hecken und Hohlwegen durchſchnittenen Wieſenlande bei
Großgörſchen, das zur Entfaltung großer Reitermaſſen wenig Raum bot,
einen Vorſtoß gegen die rechte Flanke des nach Leipzig vorrückenden Fein-
des zu wagen. Höchſtwahrſcheinlich war es Scharnhorſt, der zuerſt den
einfach kühnen Rath gab: man ſolle die Uebermacht des Feindes ſchon
auf dem Anmarſch überraſchen, ſeine Marſchkolonnen durch einen Flanken-
angriff durchbrechen. Der verwegene Plan konnte nur durch Ueberraſchung,
durch die höchſte Schnelligkeit der Ausführung gelingen. General Die-
bitſch, der in Wittgenſteins Auftrag die Anordnungen traf, leitete jedoch
den Aufmarſch ſo unglücklich, daß die Corps von Blücher und York ein-
ander durchkreuzten.

Erſt um Mittag des 2. Mai konnten die Preußen den Angriff be-
ginnen auf die zwiſchen den Büſchen verſteckten vier Dörfer Groß- und
Klein-Görſchen, Rahna und Caja, welche Ney mit gewaltiger Uebermacht
hielt. Unter brauſendem Hurrahruf ſtürmten ihre Regimenter heran, noch
niemals waren die franzöſiſchen Legionen einem ſolchen Ungeſtüm kriegeriſcher
Begeiſterung begegnet. Nichts von der natürlichen Unſicherheit junger
Truppen; ein Sturm des Zornes ſchien Jeden fortzureißen; Niemand
konnte ſich auszeichnen, ſo groß war die Tapferkeit Aller! Nach zweiſtün-
digem mörderiſchem Kampfe wurden drei von den Dörfern den Franzoſen
entriſſen. Da eilte Napoleon ſelbſt von der Leipziger Straße herbei, ver-
ſuchte mit friſchen Truppen die Schlacht herzuſtellen. Er mußte mit an-
ſehen, wie die preußiſche Garde durch einen zweiten furchtbaren Angriff
die vier Dörfer ſämmtlich nahm; kam die Reſerve der Verbündeten
rechtzeitig heran, ſo war die Marſchlinie der Franzoſen durchbrochen,
ihrem Hauptheere eine ſchwere Niederlage bereitet. Auf einen Augenblick
wurde der Imperator unſicher. „Glaubt Ihr, daß mein Stern unter-
geht?“ fragte er zweifelnd ſeinen Berthier, und beim Anblick des Todes-
muthes der Preußen entfuhr ihm der Ausruf: „Dieſe Thiere haben
etwas gelernt.“ Doch Wittgenſteins Reſerven blieben aus; das Corps
von Miloradowitſch wurde durch ein unglückliches Mißverſtändniß dem
Schlachtfelde fern gehalten, und die ruſſiſchen Garden erſchienen erſt
auf der Wahlſtatt als mit dem Anbruch der Nacht der Kampf zu
Ende ging. Die Reiterei der Verbündeten gelangte nicht zu entſcheiden-
dem Eingreifen, da Wittgenſtein ſich völlig unfähig zeigte die Leitung des
Heeres in der Hand zu behalten und eigentlich Niemand den Oberbefehl
führte; ihr Fußvolk verbiß ſich in den blutigen Kampf um die Dörfer,
der bei der Ueberlegenheit der feindlichen Infanterie keinen günſtigen Aus-
gang verſprach. Währenddem zog Napoleon vom Norden her neue Ver-

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[454/0470] I. 4. Der Befreiungskrieg. entgegenſtellen. Scharnhorſt wünſchte anfangs die Schlacht in der freien Ebene von Leipzig, wo die überlegene Reiterei der Verbündeten zur vol- len Wirkſamkeit gelangen konnte. Das ruſſiſche Hauptquartier dagegen beſchloß, ſüdlich von dem alten Lützener Schlachtfelde, in dem ſumpfigen, von Gräben, Hecken und Hohlwegen durchſchnittenen Wieſenlande bei Großgörſchen, das zur Entfaltung großer Reitermaſſen wenig Raum bot, einen Vorſtoß gegen die rechte Flanke des nach Leipzig vorrückenden Fein- des zu wagen. Höchſtwahrſcheinlich war es Scharnhorſt, der zuerſt den einfach kühnen Rath gab: man ſolle die Uebermacht des Feindes ſchon auf dem Anmarſch überraſchen, ſeine Marſchkolonnen durch einen Flanken- angriff durchbrechen. Der verwegene Plan konnte nur durch Ueberraſchung, durch die höchſte Schnelligkeit der Ausführung gelingen. General Die- bitſch, der in Wittgenſteins Auftrag die Anordnungen traf, leitete jedoch den Aufmarſch ſo unglücklich, daß die Corps von Blücher und York ein- ander durchkreuzten. Erſt um Mittag des 2. Mai konnten die Preußen den Angriff be- ginnen auf die zwiſchen den Büſchen verſteckten vier Dörfer Groß- und Klein-Görſchen, Rahna und Caja, welche Ney mit gewaltiger Uebermacht hielt. Unter brauſendem Hurrahruf ſtürmten ihre Regimenter heran, noch niemals waren die franzöſiſchen Legionen einem ſolchen Ungeſtüm kriegeriſcher Begeiſterung begegnet. Nichts von der natürlichen Unſicherheit junger Truppen; ein Sturm des Zornes ſchien Jeden fortzureißen; Niemand konnte ſich auszeichnen, ſo groß war die Tapferkeit Aller! Nach zweiſtün- digem mörderiſchem Kampfe wurden drei von den Dörfern den Franzoſen entriſſen. Da eilte Napoleon ſelbſt von der Leipziger Straße herbei, ver- ſuchte mit friſchen Truppen die Schlacht herzuſtellen. Er mußte mit an- ſehen, wie die preußiſche Garde durch einen zweiten furchtbaren Angriff die vier Dörfer ſämmtlich nahm; kam die Reſerve der Verbündeten rechtzeitig heran, ſo war die Marſchlinie der Franzoſen durchbrochen, ihrem Hauptheere eine ſchwere Niederlage bereitet. Auf einen Augenblick wurde der Imperator unſicher. „Glaubt Ihr, daß mein Stern unter- geht?“ fragte er zweifelnd ſeinen Berthier, und beim Anblick des Todes- muthes der Preußen entfuhr ihm der Ausruf: „Dieſe Thiere haben etwas gelernt.“ Doch Wittgenſteins Reſerven blieben aus; das Corps von Miloradowitſch wurde durch ein unglückliches Mißverſtändniß dem Schlachtfelde fern gehalten, und die ruſſiſchen Garden erſchienen erſt auf der Wahlſtatt als mit dem Anbruch der Nacht der Kampf zu Ende ging. Die Reiterei der Verbündeten gelangte nicht zu entſcheiden- dem Eingreifen, da Wittgenſtein ſich völlig unfähig zeigte die Leitung des Heeres in der Hand zu behalten und eigentlich Niemand den Oberbefehl führte; ihr Fußvolk verbiß ſich in den blutigen Kampf um die Dörfer, der bei der Ueberlegenheit der feindlichen Infanterie keinen günſtigen Aus- gang verſprach. Währenddem zog Napoleon vom Norden her neue Ver-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 454. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/470>, abgerufen am 22.11.2024.