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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 4. Der Befreiungskrieg.
Krieg nahm Aller Gedanken in Anspruch. Außer jenen rohen Schmäh-
schriften wider den Feind, welche in keinem schweren Kriege fehlen, er-
schienen in jenem Frühjahr nur solche politische Schriften, die unmittel-
bar auf die Erregung der Kampflust berechnet waren: so Arndts köstliche
Büchlein und Pfuels Erzählung von dem Rückzuge der Franzosen aus
Rußland, die erste getreue Darstellung der großen Katastrophe, ein kleines
Buch von mächtiger Wirkung. Auch die einzige norddeutsche Zeitung, welche
eine bestimmte politische Richtung verfolgte, Niebuhrs Preußischer Cor-
respondent, befaßte sich nicht näher mit den großen Fragen der deutschen
Zukunft.

Nur Fichte wollte und mußte sich Klarheit verschaffen. In der frohen
Erregung dieser hoffnungsreichen Tage war dem Philosophen die Majestät
des Staatsgedankens aufgegangen. Er erkannte dankbar, daß die Wieder-
geburt des alten Deutschlands doch früher erfolgte, als er einst in seinen
Reden angenommen, sah mit Freuden seine Hörer allesammt zum Kampfe
ziehen, trat selber mit Säbel und Pike in die Reihen des Berliner Land-
sturms. Und da er nun mit Händen griff, welche Opfer eine geliebte
und geachtete Staatsgewalt ihrem Volke zumuthen darf, lernte er größer
denken von dem Wesen der politischen Gemeinschaft und schilderte in seiner
Staatslehre den Staat als den Erzieher des Menschengeschlechts zur Frei-
heit: ihm sei auferlegt die sittliche Aufgabe auf Erden zu verwirklichen.
Dann verkündete er kurz vor seinem Tode, in dem "Fragmente einer
politischen Schrift", zum ersten male mit voller Bestimmtheit die Mei-
nung, daß allein dem preußischen Staate die Führung in Deutschland
gebühre. Alle Kleinfürsten hätten immer nur ihrem lieben Hause gelebt,
auch Oesterreich brauche die deutsche Kraft nur für seine persönlichen
Zwecke. Nur Preußen ist ein eigentlich deutscher Staat, hat als solcher
durchaus kein Interesse, zu unterjochen oder ungerecht zu sein; der preu-
ßische Staat ist Deutschlands natürlicher Herrscher, er muß sich erweitern
zum Reiche der Vernunft, sonst geht er zu Grunde. Das Fragment war
ein theueres Vermächtniß, das der tapferste und einflußreichste Lehrer der
norddeutschen Jugend seinen Schülern hinterließ, zugleich ein bedeutungs-
volles Symptom der Ahnungen und Wünsche, welche in den Kreisen der
Patrioten gährten. Jedoch die Absicht einzugreifen in die Politik des Tages
lag dem Idealisten fern. Er schrieb seine prophetischen Gedanken nur
nieder "damit sie nicht untergehen in der Welt", und erst geraume Zeit
nach seinem Tode sind sie veröffentlicht worden. Für die harten Aufgaben
des politischen Parteilebens hatte die Zeit noch gar kein Verständniß. Nur
das eine Ziel der Vernichtung der Fremdherrschaft stand den Patrioten
klar und sicher vor Augen; was darüber hinaus lag waren hochsinnige
Träume, so unbestimmt, so gestaltlos wie das in jenem Königsberger
Winter gedichtete Lied: Was ist des Deutschen Vaterland? --

Das russische Hauptquartier und die Wiener Hofburg konnten sich

I. 4. Der Befreiungskrieg.
Krieg nahm Aller Gedanken in Anſpruch. Außer jenen rohen Schmäh-
ſchriften wider den Feind, welche in keinem ſchweren Kriege fehlen, er-
ſchienen in jenem Frühjahr nur ſolche politiſche Schriften, die unmittel-
bar auf die Erregung der Kampfluſt berechnet waren: ſo Arndts köſtliche
Büchlein und Pfuels Erzählung von dem Rückzuge der Franzoſen aus
Rußland, die erſte getreue Darſtellung der großen Kataſtrophe, ein kleines
Buch von mächtiger Wirkung. Auch die einzige norddeutſche Zeitung, welche
eine beſtimmte politiſche Richtung verfolgte, Niebuhrs Preußiſcher Cor-
reſpondent, befaßte ſich nicht näher mit den großen Fragen der deutſchen
Zukunft.

Nur Fichte wollte und mußte ſich Klarheit verſchaffen. In der frohen
Erregung dieſer hoffnungsreichen Tage war dem Philoſophen die Majeſtät
des Staatsgedankens aufgegangen. Er erkannte dankbar, daß die Wieder-
geburt des alten Deutſchlands doch früher erfolgte, als er einſt in ſeinen
Reden angenommen, ſah mit Freuden ſeine Hörer alleſammt zum Kampfe
ziehen, trat ſelber mit Säbel und Pike in die Reihen des Berliner Land-
ſturms. Und da er nun mit Händen griff, welche Opfer eine geliebte
und geachtete Staatsgewalt ihrem Volke zumuthen darf, lernte er größer
denken von dem Weſen der politiſchen Gemeinſchaft und ſchilderte in ſeiner
Staatslehre den Staat als den Erzieher des Menſchengeſchlechts zur Frei-
heit: ihm ſei auferlegt die ſittliche Aufgabe auf Erden zu verwirklichen.
Dann verkündete er kurz vor ſeinem Tode, in dem „Fragmente einer
politiſchen Schrift“, zum erſten male mit voller Beſtimmtheit die Mei-
nung, daß allein dem preußiſchen Staate die Führung in Deutſchland
gebühre. Alle Kleinfürſten hätten immer nur ihrem lieben Hauſe gelebt,
auch Oeſterreich brauche die deutſche Kraft nur für ſeine perſönlichen
Zwecke. Nur Preußen iſt ein eigentlich deutſcher Staat, hat als ſolcher
durchaus kein Intereſſe, zu unterjochen oder ungerecht zu ſein; der preu-
ßiſche Staat iſt Deutſchlands natürlicher Herrſcher, er muß ſich erweitern
zum Reiche der Vernunft, ſonſt geht er zu Grunde. Das Fragment war
ein theueres Vermächtniß, das der tapferſte und einflußreichſte Lehrer der
norddeutſchen Jugend ſeinen Schülern hinterließ, zugleich ein bedeutungs-
volles Symptom der Ahnungen und Wünſche, welche in den Kreiſen der
Patrioten gährten. Jedoch die Abſicht einzugreifen in die Politik des Tages
lag dem Idealiſten fern. Er ſchrieb ſeine prophetiſchen Gedanken nur
nieder „damit ſie nicht untergehen in der Welt“, und erſt geraume Zeit
nach ſeinem Tode ſind ſie veröffentlicht worden. Für die harten Aufgaben
des politiſchen Parteilebens hatte die Zeit noch gar kein Verſtändniß. Nur
das eine Ziel der Vernichtung der Fremdherrſchaft ſtand den Patrioten
klar und ſicher vor Augen; was darüber hinaus lag waren hochſinnige
Träume, ſo unbeſtimmt, ſo geſtaltlos wie das in jenem Königsberger
Winter gedichtete Lied: Was iſt des Deutſchen Vaterland? —

Das ruſſiſche Hauptquartier und die Wiener Hofburg konnten ſich

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[436/0452] I. 4. Der Befreiungskrieg. Krieg nahm Aller Gedanken in Anſpruch. Außer jenen rohen Schmäh- ſchriften wider den Feind, welche in keinem ſchweren Kriege fehlen, er- ſchienen in jenem Frühjahr nur ſolche politiſche Schriften, die unmittel- bar auf die Erregung der Kampfluſt berechnet waren: ſo Arndts köſtliche Büchlein und Pfuels Erzählung von dem Rückzuge der Franzoſen aus Rußland, die erſte getreue Darſtellung der großen Kataſtrophe, ein kleines Buch von mächtiger Wirkung. Auch die einzige norddeutſche Zeitung, welche eine beſtimmte politiſche Richtung verfolgte, Niebuhrs Preußiſcher Cor- reſpondent, befaßte ſich nicht näher mit den großen Fragen der deutſchen Zukunft. Nur Fichte wollte und mußte ſich Klarheit verſchaffen. In der frohen Erregung dieſer hoffnungsreichen Tage war dem Philoſophen die Majeſtät des Staatsgedankens aufgegangen. Er erkannte dankbar, daß die Wieder- geburt des alten Deutſchlands doch früher erfolgte, als er einſt in ſeinen Reden angenommen, ſah mit Freuden ſeine Hörer alleſammt zum Kampfe ziehen, trat ſelber mit Säbel und Pike in die Reihen des Berliner Land- ſturms. Und da er nun mit Händen griff, welche Opfer eine geliebte und geachtete Staatsgewalt ihrem Volke zumuthen darf, lernte er größer denken von dem Weſen der politiſchen Gemeinſchaft und ſchilderte in ſeiner Staatslehre den Staat als den Erzieher des Menſchengeſchlechts zur Frei- heit: ihm ſei auferlegt die ſittliche Aufgabe auf Erden zu verwirklichen. Dann verkündete er kurz vor ſeinem Tode, in dem „Fragmente einer politiſchen Schrift“, zum erſten male mit voller Beſtimmtheit die Mei- nung, daß allein dem preußiſchen Staate die Führung in Deutſchland gebühre. Alle Kleinfürſten hätten immer nur ihrem lieben Hauſe gelebt, auch Oeſterreich brauche die deutſche Kraft nur für ſeine perſönlichen Zwecke. Nur Preußen iſt ein eigentlich deutſcher Staat, hat als ſolcher durchaus kein Intereſſe, zu unterjochen oder ungerecht zu ſein; der preu- ßiſche Staat iſt Deutſchlands natürlicher Herrſcher, er muß ſich erweitern zum Reiche der Vernunft, ſonſt geht er zu Grunde. Das Fragment war ein theueres Vermächtniß, das der tapferſte und einflußreichſte Lehrer der norddeutſchen Jugend ſeinen Schülern hinterließ, zugleich ein bedeutungs- volles Symptom der Ahnungen und Wünſche, welche in den Kreiſen der Patrioten gährten. Jedoch die Abſicht einzugreifen in die Politik des Tages lag dem Idealiſten fern. Er ſchrieb ſeine prophetiſchen Gedanken nur nieder „damit ſie nicht untergehen in der Welt“, und erſt geraume Zeit nach ſeinem Tode ſind ſie veröffentlicht worden. Für die harten Aufgaben des politiſchen Parteilebens hatte die Zeit noch gar kein Verſtändniß. Nur das eine Ziel der Vernichtung der Fremdherrſchaft ſtand den Patrioten klar und ſicher vor Augen; was darüber hinaus lag waren hochſinnige Träume, ſo unbeſtimmt, ſo geſtaltlos wie das in jenem Königsberger Winter gedichtete Lied: Was iſt des Deutſchen Vaterland? — Das ruſſiſche Hauptquartier und die Wiener Hofburg konnten ſich

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/452>, abgerufen am 22.11.2024.