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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Norddeutscher Charakter der Bewegung.
vater gesungen; das alte Lied war ihnen jetzt doppelt theuer, da sie in
vollem, heiligem Ernst ihr gutes Schwert zum Hüter weihten für das
Vaterland, das Land des Ruhmes. Die jungen Freiwilligen wurden
wirklich, wie Scharnhorst vorausgesagt, die besten Soldaten; die Haltung
der gesammten Mannschaft ward freier und gesitteter durch den Verkehr
mit den gebildeten jungen Männern. Auch der rohe Bauerbursch lernte
einige von den schwungvollen Liedern der Freiwilligen. Als dann die Zeit
der Siege kam und die Preußen immer wieder in befreite deutsche Städte
ihren jubelnden Einzug hielten, als endlich der deutsche Rhein zu den
Füßen der Sieger lag, da ahnte selbst der geringe Mann, daß er nicht
blos für seine heimathliche Hofstatt focht. Der Gedanke des Vaterlandes
ward lebendig in den tapferen Herzen, die Preußen fühlten sich stolz
als die Vorkämpfer Deutschlands. Seit Cromwells eisernen Dragonern
hatte die Welt nicht mehr ein Heer gesehen, das so durchdrungen war
von heiligem sittlichem Ernst, und es war nicht wie jene eine fanatische
Partei, sondern ein ganzes Volk. Alle die alten trennenden Gegensätze
des politischen Lebens verschwanden in dem Einmuth dieses Kampfes:
Marwitz, der abgesagte Gegner der Volksheere, übernahm willig den Be-
fehl über eine Landwehrbrigade, hatte seine Lust an dem festen Muthe
seiner märkischen Bauern.

Alle die heißen Leidenschaften, die nur ein mannhaftes Volk zum
höchsten Wagen entflammen können, waren erwacht, und doch blieb die
ungeheure Bewegung in den Schranken der Gesittung. Nichts von jenem
finsteren kirchlich-nationalen Fanatismus, der die Erhebung der Russen
und der Spanier so unheimlich erscheinen ließ. Dies junge Deutsch-
land, das jetzt mit flammenden Augen seine Speere schütterte, trug die
Kränze der Kunst und Wissenschaft auf seinem Scheitel, und mit gerech-
tem Stolze durfte Boeckh am Ausgang dieses schlachtenreichen Sommers
rufen: "siehe hier ist Germanien mit Waffen so gut wie mit Gedanken
gerüstet!" Die diesen Kampf mit Bewußtsein führten, fühlten sich auser-
wählt durch Gottes Gnade, das Reich der Arglist und der ideenlosen Ge-
walt zu zerstören, einen dauerhaften Frieden zu begründen, der allen
Völkern wieder erlauben sollte nach ihrer eigenen Art, in schönem Wett-
eifer sich selber auszuleben. Der deutsche Krieg galt der Rettung der
alten nationalen Formen der abendländischen Cultur, und als er sieg-
reich zu Ende ging, sagte der Franzose Benjamin Constant: "die Preußen
haben das menschliche Angesicht wieder zu Ehren gebracht!"

Ueber die künftige Verfassung des befreiten Deutschlands hatte dies
kindlich treuherzige Geschlecht freilich noch nicht nachgedacht. War nur
erst Alles was in deutscher Zunge sprach wieder beisammen, so konnte es
ja gar nicht fehlen, daß ein starkes, einiges, volksthümlich freies Reich
sich wieder erhob. Nach den Mitteln und Wegen fragte Niemand, jeder
Zweifler wäre des Kleinmuths bezichtigt worden. Der Krieg, allein der

28*

Norddeutſcher Charakter der Bewegung.
vater geſungen; das alte Lied war ihnen jetzt doppelt theuer, da ſie in
vollem, heiligem Ernſt ihr gutes Schwert zum Hüter weihten für das
Vaterland, das Land des Ruhmes. Die jungen Freiwilligen wurden
wirklich, wie Scharnhorſt vorausgeſagt, die beſten Soldaten; die Haltung
der geſammten Mannſchaft ward freier und geſitteter durch den Verkehr
mit den gebildeten jungen Männern. Auch der rohe Bauerburſch lernte
einige von den ſchwungvollen Liedern der Freiwilligen. Als dann die Zeit
der Siege kam und die Preußen immer wieder in befreite deutſche Städte
ihren jubelnden Einzug hielten, als endlich der deutſche Rhein zu den
Füßen der Sieger lag, da ahnte ſelbſt der geringe Mann, daß er nicht
blos für ſeine heimathliche Hofſtatt focht. Der Gedanke des Vaterlandes
ward lebendig in den tapferen Herzen, die Preußen fühlten ſich ſtolz
als die Vorkämpfer Deutſchlands. Seit Cromwells eiſernen Dragonern
hatte die Welt nicht mehr ein Heer geſehen, das ſo durchdrungen war
von heiligem ſittlichem Ernſt, und es war nicht wie jene eine fanatiſche
Partei, ſondern ein ganzes Volk. Alle die alten trennenden Gegenſätze
des politiſchen Lebens verſchwanden in dem Einmuth dieſes Kampfes:
Marwitz, der abgeſagte Gegner der Volksheere, übernahm willig den Be-
fehl über eine Landwehrbrigade, hatte ſeine Luſt an dem feſten Muthe
ſeiner märkiſchen Bauern.

Alle die heißen Leidenſchaften, die nur ein mannhaftes Volk zum
höchſten Wagen entflammen können, waren erwacht, und doch blieb die
ungeheure Bewegung in den Schranken der Geſittung. Nichts von jenem
finſteren kirchlich-nationalen Fanatismus, der die Erhebung der Ruſſen
und der Spanier ſo unheimlich erſcheinen ließ. Dies junge Deutſch-
land, das jetzt mit flammenden Augen ſeine Speere ſchütterte, trug die
Kränze der Kunſt und Wiſſenſchaft auf ſeinem Scheitel, und mit gerech-
tem Stolze durfte Boeckh am Ausgang dieſes ſchlachtenreichen Sommers
rufen: „ſiehe hier iſt Germanien mit Waffen ſo gut wie mit Gedanken
gerüſtet!“ Die dieſen Kampf mit Bewußtſein führten, fühlten ſich auser-
wählt durch Gottes Gnade, das Reich der Argliſt und der ideenloſen Ge-
walt zu zerſtören, einen dauerhaften Frieden zu begründen, der allen
Völkern wieder erlauben ſollte nach ihrer eigenen Art, in ſchönem Wett-
eifer ſich ſelber auszuleben. Der deutſche Krieg galt der Rettung der
alten nationalen Formen der abendländiſchen Cultur, und als er ſieg-
reich zu Ende ging, ſagte der Franzoſe Benjamin Conſtant: „die Preußen
haben das menſchliche Angeſicht wieder zu Ehren gebracht!“

Ueber die künftige Verfaſſung des befreiten Deutſchlands hatte dies
kindlich treuherzige Geſchlecht freilich noch nicht nachgedacht. War nur
erſt Alles was in deutſcher Zunge ſprach wieder beiſammen, ſo konnte es
ja gar nicht fehlen, daß ein ſtarkes, einiges, volksthümlich freies Reich
ſich wieder erhob. Nach den Mitteln und Wegen fragte Niemand, jeder
Zweifler wäre des Kleinmuths bezichtigt worden. Der Krieg, allein der

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[435/0451] Norddeutſcher Charakter der Bewegung. vater geſungen; das alte Lied war ihnen jetzt doppelt theuer, da ſie in vollem, heiligem Ernſt ihr gutes Schwert zum Hüter weihten für das Vaterland, das Land des Ruhmes. Die jungen Freiwilligen wurden wirklich, wie Scharnhorſt vorausgeſagt, die beſten Soldaten; die Haltung der geſammten Mannſchaft ward freier und geſitteter durch den Verkehr mit den gebildeten jungen Männern. Auch der rohe Bauerburſch lernte einige von den ſchwungvollen Liedern der Freiwilligen. Als dann die Zeit der Siege kam und die Preußen immer wieder in befreite deutſche Städte ihren jubelnden Einzug hielten, als endlich der deutſche Rhein zu den Füßen der Sieger lag, da ahnte ſelbſt der geringe Mann, daß er nicht blos für ſeine heimathliche Hofſtatt focht. Der Gedanke des Vaterlandes ward lebendig in den tapferen Herzen, die Preußen fühlten ſich ſtolz als die Vorkämpfer Deutſchlands. Seit Cromwells eiſernen Dragonern hatte die Welt nicht mehr ein Heer geſehen, das ſo durchdrungen war von heiligem ſittlichem Ernſt, und es war nicht wie jene eine fanatiſche Partei, ſondern ein ganzes Volk. Alle die alten trennenden Gegenſätze des politiſchen Lebens verſchwanden in dem Einmuth dieſes Kampfes: Marwitz, der abgeſagte Gegner der Volksheere, übernahm willig den Be- fehl über eine Landwehrbrigade, hatte ſeine Luſt an dem feſten Muthe ſeiner märkiſchen Bauern. Alle die heißen Leidenſchaften, die nur ein mannhaftes Volk zum höchſten Wagen entflammen können, waren erwacht, und doch blieb die ungeheure Bewegung in den Schranken der Geſittung. Nichts von jenem finſteren kirchlich-nationalen Fanatismus, der die Erhebung der Ruſſen und der Spanier ſo unheimlich erſcheinen ließ. Dies junge Deutſch- land, das jetzt mit flammenden Augen ſeine Speere ſchütterte, trug die Kränze der Kunſt und Wiſſenſchaft auf ſeinem Scheitel, und mit gerech- tem Stolze durfte Boeckh am Ausgang dieſes ſchlachtenreichen Sommers rufen: „ſiehe hier iſt Germanien mit Waffen ſo gut wie mit Gedanken gerüſtet!“ Die dieſen Kampf mit Bewußtſein führten, fühlten ſich auser- wählt durch Gottes Gnade, das Reich der Argliſt und der ideenloſen Ge- walt zu zerſtören, einen dauerhaften Frieden zu begründen, der allen Völkern wieder erlauben ſollte nach ihrer eigenen Art, in ſchönem Wett- eifer ſich ſelber auszuleben. Der deutſche Krieg galt der Rettung der alten nationalen Formen der abendländiſchen Cultur, und als er ſieg- reich zu Ende ging, ſagte der Franzoſe Benjamin Conſtant: „die Preußen haben das menſchliche Angeſicht wieder zu Ehren gebracht!“ Ueber die künftige Verfaſſung des befreiten Deutſchlands hatte dies kindlich treuherzige Geſchlecht freilich noch nicht nachgedacht. War nur erſt Alles was in deutſcher Zunge ſprach wieder beiſammen, ſo konnte es ja gar nicht fehlen, daß ein ſtarkes, einiges, volksthümlich freies Reich ſich wieder erhob. Nach den Mitteln und Wegen fragte Niemand, jeder Zweifler wäre des Kleinmuths bezichtigt worden. Der Krieg, allein der 28*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 435. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/451>, abgerufen am 22.11.2024.