Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite
I. 3. Preußens Erhebung.

Im Mai 1811 sah Alexander endlich ein, daß er beim Vorbrechen
gegen Warschau auf eine Schilderhebung der Polen nicht zählen könne,
und beschloß nunmehr, gründlich ernüchtert, den Angriff des Feindes im
eigenen Lande zu erwarten. Er kannte seine Russen; er wußte, daß sie
einen Krieg im Auslande als einen Kampf für die Heiden immer nur
mit halbem Herzen führen, dagegen die bedrohte Erde des heiligen Ruß-
lands noch immer ebenso tapfer und glaubensfreudig, wie einst gegen die
Tartaren und Türken, vertheidigen würden. An Nachgiebigkeit dachte er
nicht mehr der Krieg schien ihm unvermeidlich, und die Bedrängniß der
Finanzen machte den bewaffneten Frieden auf die Dauer unerträglich.

Also drohten, wie die Zeitungen sagten, die beiden Kolosse des Ostens
und des Westens auf einander zu stoßen und das unglückliche Preußen
beim ersten Anprall zu zermalmen. Neutralität war unmöglich, schon
weil Napoleon seinen Heereszug durch Preußen führen mußte; die preu-
ßischen Generale sahen voraus, daß er diese Straße einschlagen würde um
in das Herz des russischen Landes zu stoßen, den Norden und den Sü-
den des weiten Reichs getrennt zu halten. Alle seine persönlichen Ge-
fühle, der Haß wider den Unterdrücker und die Freundschaft für den
Czaren, drängten den König sich dem Staate anzuschließen, den er von
jeher als seinen natürlichen Bundesgenossen betrachtet hatte. Unterlag
Rußland, so war sicher, daß der siegreiche Imperator den verhaßten preu-
ßischen Staat vernichtete; sein Groll gegen diese zähen Norddeutschen
wuchs von Tag zu Tage, er nannte die Preußen nur noch die Jacobiner
des Nordens. Seine Hofblätter erzählten immer wieder von der großen
anarchischen Verschwörung, die in Preußen ihren Heerd finde; sie wieder-
holten gern die Weissagung des Clericalen Bonald, daß dieser Staat, das
Werk des Gottesleugners Friedrich, dem Untergange entgegeneile.

Aber wie nun, wenn Alexander sich über Preußen hinweg mit Frank-
reich verständigte? Schon dreimal, in Tilsit, in Erfurt und während
des österreichischen Krieges, hatte er seine deutschen Freunde kaltsinnig
preisgegeben. Stand Preußen allein auf, so wurde das kleine Heer von
der siebenfachen Uebermacht, die überall dicht an den Grenzen und in
den Oderfestungen stand, höchstwahrscheinlich sogleich überrannt. Wie
durfte man hoffen die Truppen rechtzeitig an der Küste im Lager bei
Colberg zu versammeln, da das nahe sächsisch-polnische Heer die schlesi-
schen Truppen sofort von der Hauptmasse der Monarchie abschneiden
konnte? Ein Handstreich der Danziger und der Stettiner Garnison ge-
nügte um die Dirschauer Brücke und die neue Oderbrücke von Schwedt,
die beiden einzigen noch offenen Verbindungswege zwischen Altpreußen,
Pommern und den Marken, alsbald zu sperren. Ueber Napoleons Ab-
sichten bestand kein Zweifel mehr. Nachdem die Hälfte der Contribution
abgezahlt war, hatte er dem Vertrage gemäß Glogau wieder an den König
zurückzugeben; doch er verweigerte die Räumung trotz zweimaliger Mah-

I. 3. Preußens Erhebung.

Im Mai 1811 ſah Alexander endlich ein, daß er beim Vorbrechen
gegen Warſchau auf eine Schilderhebung der Polen nicht zählen könne,
und beſchloß nunmehr, gründlich ernüchtert, den Angriff des Feindes im
eigenen Lande zu erwarten. Er kannte ſeine Ruſſen; er wußte, daß ſie
einen Krieg im Auslande als einen Kampf für die Heiden immer nur
mit halbem Herzen führen, dagegen die bedrohte Erde des heiligen Ruß-
lands noch immer ebenſo tapfer und glaubensfreudig, wie einſt gegen die
Tartaren und Türken, vertheidigen würden. An Nachgiebigkeit dachte er
nicht mehr der Krieg ſchien ihm unvermeidlich, und die Bedrängniß der
Finanzen machte den bewaffneten Frieden auf die Dauer unerträglich.

Alſo drohten, wie die Zeitungen ſagten, die beiden Koloſſe des Oſtens
und des Weſtens auf einander zu ſtoßen und das unglückliche Preußen
beim erſten Anprall zu zermalmen. Neutralität war unmöglich, ſchon
weil Napoleon ſeinen Heereszug durch Preußen führen mußte; die preu-
ßiſchen Generale ſahen voraus, daß er dieſe Straße einſchlagen würde um
in das Herz des ruſſiſchen Landes zu ſtoßen, den Norden und den Sü-
den des weiten Reichs getrennt zu halten. Alle ſeine perſönlichen Ge-
fühle, der Haß wider den Unterdrücker und die Freundſchaft für den
Czaren, drängten den König ſich dem Staate anzuſchließen, den er von
jeher als ſeinen natürlichen Bundesgenoſſen betrachtet hatte. Unterlag
Rußland, ſo war ſicher, daß der ſiegreiche Imperator den verhaßten preu-
ßiſchen Staat vernichtete; ſein Groll gegen dieſe zähen Norddeutſchen
wuchs von Tag zu Tage, er nannte die Preußen nur noch die Jacobiner
des Nordens. Seine Hofblätter erzählten immer wieder von der großen
anarchiſchen Verſchwörung, die in Preußen ihren Heerd finde; ſie wieder-
holten gern die Weiſſagung des Clericalen Bonald, daß dieſer Staat, das
Werk des Gottesleugners Friedrich, dem Untergange entgegeneile.

Aber wie nun, wenn Alexander ſich über Preußen hinweg mit Frank-
reich verſtändigte? Schon dreimal, in Tilſit, in Erfurt und während
des öſterreichiſchen Krieges, hatte er ſeine deutſchen Freunde kaltſinnig
preisgegeben. Stand Preußen allein auf, ſo wurde das kleine Heer von
der ſiebenfachen Uebermacht, die überall dicht an den Grenzen und in
den Oderfeſtungen ſtand, höchſtwahrſcheinlich ſogleich überrannt. Wie
durfte man hoffen die Truppen rechtzeitig an der Küſte im Lager bei
Colberg zu verſammeln, da das nahe ſächſiſch-polniſche Heer die ſchleſi-
ſchen Truppen ſofort von der Hauptmaſſe der Monarchie abſchneiden
konnte? Ein Handſtreich der Danziger und der Stettiner Garniſon ge-
nügte um die Dirſchauer Brücke und die neue Oderbrücke von Schwedt,
die beiden einzigen noch offenen Verbindungswege zwiſchen Altpreußen,
Pommern und den Marken, alsbald zu ſperren. Ueber Napoleons Ab-
ſichten beſtand kein Zweifel mehr. Nachdem die Hälfte der Contribution
abgezahlt war, hatte er dem Vertrage gemäß Glogau wieder an den König
zurückzugeben; doch er verweigerte die Räumung trotz zweimaliger Mah-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0402" n="386"/>
            <fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> 3. Preußens Erhebung.</fw><lb/>
            <p>Im Mai 1811 &#x017F;ah Alexander endlich ein, daß er beim Vorbrechen<lb/>
gegen War&#x017F;chau auf eine Schilderhebung der Polen nicht zählen könne,<lb/>
und be&#x017F;chloß nunmehr, gründlich ernüchtert, den Angriff des Feindes im<lb/>
eigenen Lande zu erwarten. Er kannte &#x017F;eine Ru&#x017F;&#x017F;en; er wußte, daß &#x017F;ie<lb/>
einen Krieg im Auslande als einen Kampf für die Heiden immer nur<lb/>
mit halbem Herzen führen, dagegen die bedrohte Erde des heiligen Ruß-<lb/>
lands noch immer eben&#x017F;o tapfer und glaubensfreudig, wie ein&#x017F;t gegen die<lb/>
Tartaren und Türken, vertheidigen würden. An Nachgiebigkeit dachte er<lb/>
nicht mehr der Krieg &#x017F;chien ihm unvermeidlich, und die Bedrängniß der<lb/>
Finanzen machte den bewaffneten Frieden auf die Dauer unerträglich.</p><lb/>
            <p>Al&#x017F;o drohten, wie die Zeitungen &#x017F;agten, die beiden Kolo&#x017F;&#x017F;e des O&#x017F;tens<lb/>
und des We&#x017F;tens auf einander zu &#x017F;toßen und das unglückliche Preußen<lb/>
beim er&#x017F;ten Anprall zu zermalmen. Neutralität war unmöglich, &#x017F;chon<lb/>
weil Napoleon &#x017F;einen Heereszug durch Preußen führen mußte; die preu-<lb/>
ßi&#x017F;chen Generale &#x017F;ahen voraus, daß er die&#x017F;e Straße ein&#x017F;chlagen würde um<lb/>
in das Herz des ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Landes zu &#x017F;toßen, den Norden und den Sü-<lb/>
den des weiten Reichs getrennt zu halten. Alle &#x017F;eine per&#x017F;önlichen Ge-<lb/>
fühle, der Haß wider den Unterdrücker und die Freund&#x017F;chaft für den<lb/>
Czaren, drängten den König &#x017F;ich dem Staate anzu&#x017F;chließen, den er von<lb/>
jeher als &#x017F;einen natürlichen Bundesgeno&#x017F;&#x017F;en betrachtet hatte. Unterlag<lb/>
Rußland, &#x017F;o war &#x017F;icher, daß der &#x017F;iegreiche Imperator den verhaßten preu-<lb/>
ßi&#x017F;chen Staat vernichtete; &#x017F;ein Groll gegen die&#x017F;e zähen Norddeut&#x017F;chen<lb/>
wuchs von Tag zu Tage, er nannte die Preußen nur noch die Jacobiner<lb/>
des Nordens. Seine Hofblätter erzählten immer wieder von der großen<lb/>
anarchi&#x017F;chen Ver&#x017F;chwörung, die in Preußen ihren Heerd finde; &#x017F;ie wieder-<lb/>
holten gern die Wei&#x017F;&#x017F;agung des Clericalen Bonald, daß die&#x017F;er Staat, das<lb/>
Werk des Gottesleugners Friedrich, dem Untergange entgegeneile.</p><lb/>
            <p>Aber wie nun, wenn Alexander &#x017F;ich über Preußen hinweg mit Frank-<lb/>
reich ver&#x017F;tändigte? Schon dreimal, in Til&#x017F;it, in Erfurt und während<lb/>
des ö&#x017F;terreichi&#x017F;chen Krieges, hatte er &#x017F;eine deut&#x017F;chen Freunde kalt&#x017F;innig<lb/>
preisgegeben. Stand Preußen allein auf, &#x017F;o wurde das kleine Heer von<lb/>
der &#x017F;iebenfachen Uebermacht, die überall dicht an den Grenzen und in<lb/>
den Oderfe&#x017F;tungen &#x017F;tand, höch&#x017F;twahr&#x017F;cheinlich &#x017F;ogleich überrannt. Wie<lb/>
durfte man hoffen die Truppen rechtzeitig an der Kü&#x017F;te im Lager bei<lb/>
Colberg zu ver&#x017F;ammeln, da das nahe &#x017F;äch&#x017F;i&#x017F;ch-polni&#x017F;che Heer die &#x017F;chle&#x017F;i-<lb/>
&#x017F;chen Truppen &#x017F;ofort von der Hauptma&#x017F;&#x017F;e der Monarchie ab&#x017F;chneiden<lb/>
konnte? Ein Hand&#x017F;treich der Danziger und der Stettiner Garni&#x017F;on ge-<lb/>
nügte um die Dir&#x017F;chauer Brücke und die neue Oderbrücke von Schwedt,<lb/>
die beiden einzigen noch offenen Verbindungswege zwi&#x017F;chen Altpreußen,<lb/>
Pommern und den Marken, alsbald zu &#x017F;perren. Ueber Napoleons Ab-<lb/>
&#x017F;ichten be&#x017F;tand kein Zweifel mehr. Nachdem die Hälfte der Contribution<lb/>
abgezahlt war, hatte er dem Vertrage gemäß Glogau wieder an den König<lb/>
zurückzugeben; doch er verweigerte die Räumung trotz zweimaliger Mah-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[386/0402] I. 3. Preußens Erhebung. Im Mai 1811 ſah Alexander endlich ein, daß er beim Vorbrechen gegen Warſchau auf eine Schilderhebung der Polen nicht zählen könne, und beſchloß nunmehr, gründlich ernüchtert, den Angriff des Feindes im eigenen Lande zu erwarten. Er kannte ſeine Ruſſen; er wußte, daß ſie einen Krieg im Auslande als einen Kampf für die Heiden immer nur mit halbem Herzen führen, dagegen die bedrohte Erde des heiligen Ruß- lands noch immer ebenſo tapfer und glaubensfreudig, wie einſt gegen die Tartaren und Türken, vertheidigen würden. An Nachgiebigkeit dachte er nicht mehr der Krieg ſchien ihm unvermeidlich, und die Bedrängniß der Finanzen machte den bewaffneten Frieden auf die Dauer unerträglich. Alſo drohten, wie die Zeitungen ſagten, die beiden Koloſſe des Oſtens und des Weſtens auf einander zu ſtoßen und das unglückliche Preußen beim erſten Anprall zu zermalmen. Neutralität war unmöglich, ſchon weil Napoleon ſeinen Heereszug durch Preußen führen mußte; die preu- ßiſchen Generale ſahen voraus, daß er dieſe Straße einſchlagen würde um in das Herz des ruſſiſchen Landes zu ſtoßen, den Norden und den Sü- den des weiten Reichs getrennt zu halten. Alle ſeine perſönlichen Ge- fühle, der Haß wider den Unterdrücker und die Freundſchaft für den Czaren, drängten den König ſich dem Staate anzuſchließen, den er von jeher als ſeinen natürlichen Bundesgenoſſen betrachtet hatte. Unterlag Rußland, ſo war ſicher, daß der ſiegreiche Imperator den verhaßten preu- ßiſchen Staat vernichtete; ſein Groll gegen dieſe zähen Norddeutſchen wuchs von Tag zu Tage, er nannte die Preußen nur noch die Jacobiner des Nordens. Seine Hofblätter erzählten immer wieder von der großen anarchiſchen Verſchwörung, die in Preußen ihren Heerd finde; ſie wieder- holten gern die Weiſſagung des Clericalen Bonald, daß dieſer Staat, das Werk des Gottesleugners Friedrich, dem Untergange entgegeneile. Aber wie nun, wenn Alexander ſich über Preußen hinweg mit Frank- reich verſtändigte? Schon dreimal, in Tilſit, in Erfurt und während des öſterreichiſchen Krieges, hatte er ſeine deutſchen Freunde kaltſinnig preisgegeben. Stand Preußen allein auf, ſo wurde das kleine Heer von der ſiebenfachen Uebermacht, die überall dicht an den Grenzen und in den Oderfeſtungen ſtand, höchſtwahrſcheinlich ſogleich überrannt. Wie durfte man hoffen die Truppen rechtzeitig an der Küſte im Lager bei Colberg zu verſammeln, da das nahe ſächſiſch-polniſche Heer die ſchleſi- ſchen Truppen ſofort von der Hauptmaſſe der Monarchie abſchneiden konnte? Ein Handſtreich der Danziger und der Stettiner Garniſon ge- nügte um die Dirſchauer Brücke und die neue Oderbrücke von Schwedt, die beiden einzigen noch offenen Verbindungswege zwiſchen Altpreußen, Pommern und den Marken, alsbald zu ſperren. Ueber Napoleons Ab- ſichten beſtand kein Zweifel mehr. Nachdem die Hälfte der Contribution abgezahlt war, hatte er dem Vertrage gemäß Glogau wieder an den König zurückzugeben; doch er verweigerte die Räumung trotz zweimaliger Mah-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/402
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/402>, abgerufen am 22.11.2024.