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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 3. Preußens Erhebung.
sollte die ungebrochene Kraft des deutschen Volksthums sich zeigen, und
man verstand darunter mit Vorliebe den Zeitraum vom vierzehnten bis
zum sechzehnten Jahrhundert. Die fröhlichen Zunftbräuche der alten Hand-
werker, das geheimnißvolle Treiben der Bauhütten, die Wanderlust der
fahrenden Schüler, die Abenteuer ritterlicher Wegelagerer -- das war das
echte deutsche Leben, und sein Schauplatz lag in den malerischen Gefilden
des Südwestens, in dem eigentlichen alten Reiche. Bei Alledem war von
einer landschaftlichen Sonderbildung nicht die Rede. Die Norddeutschen
sammt einigen protestantischen Schwaben und Franken gaben noch immer
den Ton an für das ganze Deutschland; auch die geborenen Rheinländer
unter den Romantikern, Görres, Brentano, die Boisserees -- die ersten
Katholiken, die in der Geschichte unserer neuen Literatur wieder mit-
zählten -- verdankten ihres Lebens besten Inhalt jener gesammtdeutschen
Bildung, die aus dem Protestantismus erwachsen war. Wer noch deutsch
empfand und dachte wurde von der historischen Sehnsucht der Zeit er-
griffen; selbst die unästhetische Natur des Freiherrn vom Stein blieb da-
von nicht unberührt. An den Bildern der heimischen Vorzeit erbaute sich
das nationale Selbstgefühl und Vorurtheil. Nur unter den Germanen
-- das stand dem jungen Geschlechte fest -- gedieh die Ursprünglichkeit
persönlicher Eigenart; in Frankreich hatte die Natur, wie A. W. Schlegel
spottete, freigebig von einem einzigen Originalmenschen dreißig Millionen
Exemplare aufgelegt. Nur aus deutscher Erde sprang der Quell der
Wahrheit; unter den Wälschen herrschte der Lügengeist -- so hieß jetzt
kurzerhand Alles was der romantischen Jugend unfrei, langweilig, un-
natürlich erschien: die akademisch geregelte Kunst, die mechanische Ordnung
des Polizeistaates, die Nüchternheit der harten Verstandesbildung.

Unter den Schriften jenes Heidelberger Kreises wurde keine so folgen-
reich wie des Knaben Wunderhorn, die Sammlung alter deutscher Lieder
von Arnim und Brentano. Der frische Junge auf dem Titelbilde, wie er
so dahinsprengte auf freiem ungesatteltem Rosse, das Liederhorn in der
erhobenen Hand schwingend, schien gleich einem Herold zum fröhlichen
Kampfe gegen den Lügengeist zu rufen. Nicht ohne Besorgniß sendeten
die Freunde diese übelangeschriebenen Lieder in die bildungsstolze Welt
hinaus und baten Goethe sie mit dem Mantel seines großen Namens zu
decken. Ihnen lag daran, daß Deutschland nicht so verwirthschaftet werde
wie die abgeholzten Berge am Rhein; sie hofften auf eine neue Zeit voll
Sang und Spiel und herzhafter Lebensfreude, wo die Waffenübung
wieder die allgemeine höchste Lust der Deutschen wäre und Jedermann so
froh und frei durch die Welt zöge wie heutzutage nur "die herrlichen
Studenten", die letzten Künstler und Erfinder in dieser prosaischen Zeit.

Die Sammlung erschien zur rechten Stunde; denn eben jetzt begann
Schillers Tell auf weite Kreise zu wirken und weckte überall die Empfäng-
lichkeit für die einfältige Kraft der Altvordern. Man fand der freudigen

I. 3. Preußens Erhebung.
ſollte die ungebrochene Kraft des deutſchen Volksthums ſich zeigen, und
man verſtand darunter mit Vorliebe den Zeitraum vom vierzehnten bis
zum ſechzehnten Jahrhundert. Die fröhlichen Zunftbräuche der alten Hand-
werker, das geheimnißvolle Treiben der Bauhütten, die Wanderluſt der
fahrenden Schüler, die Abenteuer ritterlicher Wegelagerer — das war das
echte deutſche Leben, und ſein Schauplatz lag in den maleriſchen Gefilden
des Südweſtens, in dem eigentlichen alten Reiche. Bei Alledem war von
einer landſchaftlichen Sonderbildung nicht die Rede. Die Norddeutſchen
ſammt einigen proteſtantiſchen Schwaben und Franken gaben noch immer
den Ton an für das ganze Deutſchland; auch die geborenen Rheinländer
unter den Romantikern, Görres, Brentano, die Boiſſerees — die erſten
Katholiken, die in der Geſchichte unſerer neuen Literatur wieder mit-
zählten — verdankten ihres Lebens beſten Inhalt jener geſammtdeutſchen
Bildung, die aus dem Proteſtantismus erwachſen war. Wer noch deutſch
empfand und dachte wurde von der hiſtoriſchen Sehnſucht der Zeit er-
griffen; ſelbſt die unäſthetiſche Natur des Freiherrn vom Stein blieb da-
von nicht unberührt. An den Bildern der heimiſchen Vorzeit erbaute ſich
das nationale Selbſtgefühl und Vorurtheil. Nur unter den Germanen
— das ſtand dem jungen Geſchlechte feſt — gedieh die Urſprünglichkeit
perſönlicher Eigenart; in Frankreich hatte die Natur, wie A. W. Schlegel
ſpottete, freigebig von einem einzigen Originalmenſchen dreißig Millionen
Exemplare aufgelegt. Nur aus deutſcher Erde ſprang der Quell der
Wahrheit; unter den Wälſchen herrſchte der Lügengeiſt — ſo hieß jetzt
kurzerhand Alles was der romantiſchen Jugend unfrei, langweilig, un-
natürlich erſchien: die akademiſch geregelte Kunſt, die mechaniſche Ordnung
des Polizeiſtaates, die Nüchternheit der harten Verſtandesbildung.

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reich wie des Knaben Wunderhorn, die Sammlung alter deutſcher Lieder
von Arnim und Brentano. Der friſche Junge auf dem Titelbilde, wie er
ſo dahinſprengte auf freiem ungeſatteltem Roſſe, das Liederhorn in der
erhobenen Hand ſchwingend, ſchien gleich einem Herold zum fröhlichen
Kampfe gegen den Lügengeiſt zu rufen. Nicht ohne Beſorgniß ſendeten
die Freunde dieſe übelangeſchriebenen Lieder in die bildungsſtolze Welt
hinaus und baten Goethe ſie mit dem Mantel ſeines großen Namens zu
decken. Ihnen lag daran, daß Deutſchland nicht ſo verwirthſchaftet werde
wie die abgeholzten Berge am Rhein; ſie hofften auf eine neue Zeit voll
Sang und Spiel und herzhafter Lebensfreude, wo die Waffenübung
wieder die allgemeine höchſte Luſt der Deutſchen wäre und Jedermann ſo
froh und frei durch die Welt zöge wie heutzutage nur „die herrlichen
Studenten“, die letzten Künſtler und Erfinder in dieſer proſaiſchen Zeit.

Die Sammlung erſchien zur rechten Stunde; denn eben jetzt begann
Schillers Tell auf weite Kreiſe zu wirken und weckte überall die Empfäng-
lichkeit für die einfältige Kraft der Altvordern. Man fand der freudigen

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[310/0326] I. 3. Preußens Erhebung. ſollte die ungebrochene Kraft des deutſchen Volksthums ſich zeigen, und man verſtand darunter mit Vorliebe den Zeitraum vom vierzehnten bis zum ſechzehnten Jahrhundert. Die fröhlichen Zunftbräuche der alten Hand- werker, das geheimnißvolle Treiben der Bauhütten, die Wanderluſt der fahrenden Schüler, die Abenteuer ritterlicher Wegelagerer — das war das echte deutſche Leben, und ſein Schauplatz lag in den maleriſchen Gefilden des Südweſtens, in dem eigentlichen alten Reiche. Bei Alledem war von einer landſchaftlichen Sonderbildung nicht die Rede. Die Norddeutſchen ſammt einigen proteſtantiſchen Schwaben und Franken gaben noch immer den Ton an für das ganze Deutſchland; auch die geborenen Rheinländer unter den Romantikern, Görres, Brentano, die Boiſſerees — die erſten Katholiken, die in der Geſchichte unſerer neuen Literatur wieder mit- zählten — verdankten ihres Lebens beſten Inhalt jener geſammtdeutſchen Bildung, die aus dem Proteſtantismus erwachſen war. Wer noch deutſch empfand und dachte wurde von der hiſtoriſchen Sehnſucht der Zeit er- griffen; ſelbſt die unäſthetiſche Natur des Freiherrn vom Stein blieb da- von nicht unberührt. An den Bildern der heimiſchen Vorzeit erbaute ſich das nationale Selbſtgefühl und Vorurtheil. Nur unter den Germanen — das ſtand dem jungen Geſchlechte feſt — gedieh die Urſprünglichkeit perſönlicher Eigenart; in Frankreich hatte die Natur, wie A. W. Schlegel ſpottete, freigebig von einem einzigen Originalmenſchen dreißig Millionen Exemplare aufgelegt. Nur aus deutſcher Erde ſprang der Quell der Wahrheit; unter den Wälſchen herrſchte der Lügengeiſt — ſo hieß jetzt kurzerhand Alles was der romantiſchen Jugend unfrei, langweilig, un- natürlich erſchien: die akademiſch geregelte Kunſt, die mechaniſche Ordnung des Polizeiſtaates, die Nüchternheit der harten Verſtandesbildung. Unter den Schriften jenes Heidelberger Kreiſes wurde keine ſo folgen- reich wie des Knaben Wunderhorn, die Sammlung alter deutſcher Lieder von Arnim und Brentano. Der friſche Junge auf dem Titelbilde, wie er ſo dahinſprengte auf freiem ungeſatteltem Roſſe, das Liederhorn in der erhobenen Hand ſchwingend, ſchien gleich einem Herold zum fröhlichen Kampfe gegen den Lügengeiſt zu rufen. Nicht ohne Beſorgniß ſendeten die Freunde dieſe übelangeſchriebenen Lieder in die bildungsſtolze Welt hinaus und baten Goethe ſie mit dem Mantel ſeines großen Namens zu decken. Ihnen lag daran, daß Deutſchland nicht ſo verwirthſchaftet werde wie die abgeholzten Berge am Rhein; ſie hofften auf eine neue Zeit voll Sang und Spiel und herzhafter Lebensfreude, wo die Waffenübung wieder die allgemeine höchſte Luſt der Deutſchen wäre und Jedermann ſo froh und frei durch die Welt zöge wie heutzutage nur „die herrlichen Studenten“, die letzten Künſtler und Erfinder in dieſer proſaiſchen Zeit. Die Sammlung erſchien zur rechten Stunde; denn eben jetzt begann Schillers Tell auf weite Kreiſe zu wirken und weckte überall die Empfäng- lichkeit für die einfältige Kraft der Altvordern. Man fand der freudigen

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/326>, abgerufen am 22.11.2024.