Verwunderung kein Ende, als die Glocken des Wunderhorns mit süßem Schall erzählten, wie überschwänglich reich dies alte Deutschland mit der Gottesgabe der Poesie begnadet gewesen, welche Fülle von Liebe und Sehn- sucht, Muth und Schelmerei tausende namenloser Studenten und Lands- knechte, Jäger und Bettelleute in ihren kunstlosen Liedern niedergelegt hatten. Herders große Offenbarung, daß die Dichtung ein Gemeingut Aller sei, fand nun erst allgemeines Verständniß. Nachher gab v. d. Hagen in Berlin die Nibelungen heraus, und so schülerhaft die Bearbeitung war, die mächtigen Gestalten des grimmen Hagen und der lancrächen Chriem- hild erregten in der Seele der Leser doch die frohe Ahnung, daß unser Volk sechshundert Jahre vor Goethe schon einmal eine große Zeit der Dichtung gesehen habe. Noch überwog der Dilettantismus. Mittelalter- lich und deutsch galt fast für gleichbedeutend; man warf die grundver- schiedenen Epochen der mittelalterlichen Cultur kritiklos durch einander, und die Begeisterten ließen sichs nicht träumen, daß die verhaßten Fran- zosen in der Blüthezeit des Ritterthums eigentlich die Tonangeber, die Culturbringer gewesen waren. Der schwächlich phantastische Fouque, dem doch nur zuweilen ein stimmungsvolles, den Geheimnissen des Waldes und des Wassers abgelauschtes Märchenbild oder eine kräftige Schilde- rung altnordischer Reckengröße gelang, wurde für einige Jahre der Mode- dichter der vornehmen Welt. Die Berliner Damen schwärmten für seine sinnigen, sittigen, minniglichen Jungfrauen, für die ausbündige Tugend seiner Ritter, schmückten ihre Putztische mit eisernen Crucifixen und silber- beschlagenen Andachtsbüchern.
Die germanistische Sprachforschung war bisher bei anderen Wissen- schaften zu Gaste gegangen, nur nebenher von einzelnen Historikern, Juristen und Theologen gefördert worden. Nunmehr versuchte sie endlich sich auf eigne Füße zu stellen, Herders kühne Ahnungen und F. A. Wolfs An- sichten über die Entstehung der homerischen Gedichte für das deutsche Alter- thum zu verwerthen. Die Gebrüder Grimm gaben ihr zuerst den Charakter einer selbständigen Wissenschaft. Man achtete der beiden Anspruchslosen wenig, als sie in der Einsiedlerzeitung der Heidelberger auftraten; doch bald sollten sie sich als die Reinsten und Stärksten unter den Genossen bewähren. Durch sie vornehmlich ist der echte, fruchtbare Kern der romantischen Weltanschauung nachher einer gänzlich verwandelten Welt erhalten und in das geistige Vermögen der Nation aufgenommen worden. Sie nahmen den alten Glaubenssatz der Romantiker, daß dem Oceane der Poesie Alles entströme, in vollem Ernst, suchten auf jedem Gebiete des Volkslebens, in Sprache, Recht und Sitte nachzuweisen, wie sich Bil- dung und Abstraction überall aus dem Sinnlichen, Natürlichen, Ursprüng- lichen heraus gestaltet habe. Wie vornehm herablassend hatten die Schrift- steller des achtzehnten Jahrhunderts noch zum Volke gesprochen, wenn sie sich ja einmal um den geringen Mann kümmerten; jetzt ging die zünftige
Deutſche Sprach- und Sagenforſchung.
Verwunderung kein Ende, als die Glocken des Wunderhorns mit ſüßem Schall erzählten, wie überſchwänglich reich dies alte Deutſchland mit der Gottesgabe der Poeſie begnadet geweſen, welche Fülle von Liebe und Sehn- ſucht, Muth und Schelmerei tauſende namenloſer Studenten und Lands- knechte, Jäger und Bettelleute in ihren kunſtloſen Liedern niedergelegt hatten. Herders große Offenbarung, daß die Dichtung ein Gemeingut Aller ſei, fand nun erſt allgemeines Verſtändniß. Nachher gab v. d. Hagen in Berlin die Nibelungen heraus, und ſo ſchülerhaft die Bearbeitung war, die mächtigen Geſtalten des grimmen Hagen und der lancrächen Chriem- hild erregten in der Seele der Leſer doch die frohe Ahnung, daß unſer Volk ſechshundert Jahre vor Goethe ſchon einmal eine große Zeit der Dichtung geſehen habe. Noch überwog der Dilettantismus. Mittelalter- lich und deutſch galt faſt für gleichbedeutend; man warf die grundver- ſchiedenen Epochen der mittelalterlichen Cultur kritiklos durch einander, und die Begeiſterten ließen ſichs nicht träumen, daß die verhaßten Fran- zoſen in der Blüthezeit des Ritterthums eigentlich die Tonangeber, die Culturbringer geweſen waren. Der ſchwächlich phantaſtiſche Fouqué, dem doch nur zuweilen ein ſtimmungsvolles, den Geheimniſſen des Waldes und des Waſſers abgelauſchtes Märchenbild oder eine kräftige Schilde- rung altnordiſcher Reckengröße gelang, wurde für einige Jahre der Mode- dichter der vornehmen Welt. Die Berliner Damen ſchwärmten für ſeine ſinnigen, ſittigen, minniglichen Jungfrauen, für die ausbündige Tugend ſeiner Ritter, ſchmückten ihre Putztiſche mit eiſernen Crucifixen und ſilber- beſchlagenen Andachtsbüchern.
Die germaniſtiſche Sprachforſchung war bisher bei anderen Wiſſen- ſchaften zu Gaſte gegangen, nur nebenher von einzelnen Hiſtorikern, Juriſten und Theologen gefördert worden. Nunmehr verſuchte ſie endlich ſich auf eigne Füße zu ſtellen, Herders kühne Ahnungen und F. A. Wolfs An- ſichten über die Entſtehung der homeriſchen Gedichte für das deutſche Alter- thum zu verwerthen. Die Gebrüder Grimm gaben ihr zuerſt den Charakter einer ſelbſtändigen Wiſſenſchaft. Man achtete der beiden Anſpruchsloſen wenig, als ſie in der Einſiedlerzeitung der Heidelberger auftraten; doch bald ſollten ſie ſich als die Reinſten und Stärkſten unter den Genoſſen bewähren. Durch ſie vornehmlich iſt der echte, fruchtbare Kern der romantiſchen Weltanſchauung nachher einer gänzlich verwandelten Welt erhalten und in das geiſtige Vermögen der Nation aufgenommen worden. Sie nahmen den alten Glaubensſatz der Romantiker, daß dem Oceane der Poeſie Alles entſtröme, in vollem Ernſt, ſuchten auf jedem Gebiete des Volkslebens, in Sprache, Recht und Sitte nachzuweiſen, wie ſich Bil- dung und Abſtraction überall aus dem Sinnlichen, Natürlichen, Urſprüng- lichen heraus geſtaltet habe. Wie vornehm herablaſſend hatten die Schrift- ſteller des achtzehnten Jahrhunderts noch zum Volke geſprochen, wenn ſie ſich ja einmal um den geringen Mann kümmerten; jetzt ging die zünftige
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Deutſche Sprach- und Sagenforſchung.
Verwunderung kein Ende, als die Glocken des Wunderhorns mit ſüßem
Schall erzählten, wie überſchwänglich reich dies alte Deutſchland mit der
Gottesgabe der Poeſie begnadet geweſen, welche Fülle von Liebe und Sehn-
ſucht, Muth und Schelmerei tauſende namenloſer Studenten und Lands-
knechte, Jäger und Bettelleute in ihren kunſtloſen Liedern niedergelegt
hatten. Herders große Offenbarung, daß die Dichtung ein Gemeingut
Aller ſei, fand nun erſt allgemeines Verſtändniß. Nachher gab v. d. Hagen
in Berlin die Nibelungen heraus, und ſo ſchülerhaft die Bearbeitung war,
die mächtigen Geſtalten des grimmen Hagen und der lancrächen Chriem-
hild erregten in der Seele der Leſer doch die frohe Ahnung, daß unſer
Volk ſechshundert Jahre vor Goethe ſchon einmal eine große Zeit der
Dichtung geſehen habe. Noch überwog der Dilettantismus. Mittelalter-
lich und deutſch galt faſt für gleichbedeutend; man warf die grundver-
ſchiedenen Epochen der mittelalterlichen Cultur kritiklos durch einander,
und die Begeiſterten ließen ſichs nicht träumen, daß die verhaßten Fran-
zoſen in der Blüthezeit des Ritterthums eigentlich die Tonangeber, die
Culturbringer geweſen waren. Der ſchwächlich phantaſtiſche Fouqué, dem
doch nur zuweilen ein ſtimmungsvolles, den Geheimniſſen des Waldes
und des Waſſers abgelauſchtes Märchenbild oder eine kräftige Schilde-
rung altnordiſcher Reckengröße gelang, wurde für einige Jahre der Mode-
dichter der vornehmen Welt. Die Berliner Damen ſchwärmten für ſeine
ſinnigen, ſittigen, minniglichen Jungfrauen, für die ausbündige Tugend
ſeiner Ritter, ſchmückten ihre Putztiſche mit eiſernen Crucifixen und ſilber-
beſchlagenen Andachtsbüchern.
Die germaniſtiſche Sprachforſchung war bisher bei anderen Wiſſen-
ſchaften zu Gaſte gegangen, nur nebenher von einzelnen Hiſtorikern, Juriſten
und Theologen gefördert worden. Nunmehr verſuchte ſie endlich ſich auf
eigne Füße zu ſtellen, Herders kühne Ahnungen und F. A. Wolfs An-
ſichten über die Entſtehung der homeriſchen Gedichte für das deutſche Alter-
thum zu verwerthen. Die Gebrüder Grimm gaben ihr zuerſt den Charakter
einer ſelbſtändigen Wiſſenſchaft. Man achtete der beiden Anſpruchsloſen
wenig, als ſie in der Einſiedlerzeitung der Heidelberger auftraten; doch
bald ſollten ſie ſich als die Reinſten und Stärkſten unter den Genoſſen
bewähren. Durch ſie vornehmlich iſt der echte, fruchtbare Kern der
romantiſchen Weltanſchauung nachher einer gänzlich verwandelten Welt
erhalten und in das geiſtige Vermögen der Nation aufgenommen worden.
Sie nahmen den alten Glaubensſatz der Romantiker, daß dem Oceane
der Poeſie Alles entſtröme, in vollem Ernſt, ſuchten auf jedem Gebiete
des Volkslebens, in Sprache, Recht und Sitte nachzuweiſen, wie ſich Bil-
dung und Abſtraction überall aus dem Sinnlichen, Natürlichen, Urſprüng-
lichen heraus geſtaltet habe. Wie vornehm herablaſſend hatten die Schrift-
ſteller des achtzehnten Jahrhunderts noch zum Volke geſprochen, wenn ſie
ſich ja einmal um den geringen Mann kümmerten; jetzt ging die zünftige
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/327>, abgerufen am 23.07.2024.
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