Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.Deutsche Sprach- und Sagenforschung. Verwunderung kein Ende, als die Glocken des Wunderhorns mit süßemSchall erzählten, wie überschwänglich reich dies alte Deutschland mit der Gottesgabe der Poesie begnadet gewesen, welche Fülle von Liebe und Sehn- sucht, Muth und Schelmerei tausende namenloser Studenten und Lands- knechte, Jäger und Bettelleute in ihren kunstlosen Liedern niedergelegt hatten. Herders große Offenbarung, daß die Dichtung ein Gemeingut Aller sei, fand nun erst allgemeines Verständniß. Nachher gab v. d. Hagen in Berlin die Nibelungen heraus, und so schülerhaft die Bearbeitung war, die mächtigen Gestalten des grimmen Hagen und der lancrächen Chriem- hild erregten in der Seele der Leser doch die frohe Ahnung, daß unser Volk sechshundert Jahre vor Goethe schon einmal eine große Zeit der Dichtung gesehen habe. Noch überwog der Dilettantismus. Mittelalter- lich und deutsch galt fast für gleichbedeutend; man warf die grundver- schiedenen Epochen der mittelalterlichen Cultur kritiklos durch einander, und die Begeisterten ließen sichs nicht träumen, daß die verhaßten Fran- zosen in der Blüthezeit des Ritterthums eigentlich die Tonangeber, die Culturbringer gewesen waren. Der schwächlich phantastische Fouque, dem doch nur zuweilen ein stimmungsvolles, den Geheimnissen des Waldes und des Wassers abgelauschtes Märchenbild oder eine kräftige Schilde- rung altnordischer Reckengröße gelang, wurde für einige Jahre der Mode- dichter der vornehmen Welt. Die Berliner Damen schwärmten für seine sinnigen, sittigen, minniglichen Jungfrauen, für die ausbündige Tugend seiner Ritter, schmückten ihre Putztische mit eisernen Crucifixen und silber- beschlagenen Andachtsbüchern. Die germanistische Sprachforschung war bisher bei anderen Wissen- Deutſche Sprach- und Sagenforſchung. Verwunderung kein Ende, als die Glocken des Wunderhorns mit ſüßemSchall erzählten, wie überſchwänglich reich dies alte Deutſchland mit der Gottesgabe der Poeſie begnadet geweſen, welche Fülle von Liebe und Sehn- ſucht, Muth und Schelmerei tauſende namenloſer Studenten und Lands- knechte, Jäger und Bettelleute in ihren kunſtloſen Liedern niedergelegt hatten. Herders große Offenbarung, daß die Dichtung ein Gemeingut Aller ſei, fand nun erſt allgemeines Verſtändniß. Nachher gab v. d. Hagen in Berlin die Nibelungen heraus, und ſo ſchülerhaft die Bearbeitung war, die mächtigen Geſtalten des grimmen Hagen und der lancrächen Chriem- hild erregten in der Seele der Leſer doch die frohe Ahnung, daß unſer Volk ſechshundert Jahre vor Goethe ſchon einmal eine große Zeit der Dichtung geſehen habe. Noch überwog der Dilettantismus. Mittelalter- lich und deutſch galt faſt für gleichbedeutend; man warf die grundver- ſchiedenen Epochen der mittelalterlichen Cultur kritiklos durch einander, und die Begeiſterten ließen ſichs nicht träumen, daß die verhaßten Fran- zoſen in der Blüthezeit des Ritterthums eigentlich die Tonangeber, die Culturbringer geweſen waren. Der ſchwächlich phantaſtiſche Fouqué, dem doch nur zuweilen ein ſtimmungsvolles, den Geheimniſſen des Waldes und des Waſſers abgelauſchtes Märchenbild oder eine kräftige Schilde- rung altnordiſcher Reckengröße gelang, wurde für einige Jahre der Mode- dichter der vornehmen Welt. Die Berliner Damen ſchwärmten für ſeine ſinnigen, ſittigen, minniglichen Jungfrauen, für die ausbündige Tugend ſeiner Ritter, ſchmückten ihre Putztiſche mit eiſernen Crucifixen und ſilber- beſchlagenen Andachtsbüchern. Die germaniſtiſche Sprachforſchung war bisher bei anderen Wiſſen- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0327" n="311"/><fw place="top" type="header">Deutſche Sprach- und Sagenforſchung.</fw><lb/> Verwunderung kein Ende, als die Glocken des Wunderhorns mit ſüßem<lb/> Schall erzählten, wie überſchwänglich reich dies alte Deutſchland mit der<lb/> Gottesgabe der Poeſie begnadet geweſen, welche Fülle von Liebe und Sehn-<lb/> ſucht, Muth und Schelmerei tauſende namenloſer Studenten und Lands-<lb/> knechte, Jäger und Bettelleute in ihren kunſtloſen Liedern niedergelegt<lb/> hatten. Herders große Offenbarung, daß die Dichtung ein Gemeingut<lb/> Aller ſei, fand nun erſt allgemeines Verſtändniß. Nachher gab v. d. Hagen<lb/> in Berlin die Nibelungen heraus, und ſo ſchülerhaft die Bearbeitung war,<lb/> die mächtigen Geſtalten des grimmen Hagen und der lancrächen Chriem-<lb/> hild erregten in der Seele der Leſer doch die frohe Ahnung, daß unſer<lb/> Volk ſechshundert Jahre vor Goethe ſchon einmal eine große Zeit der<lb/> Dichtung geſehen habe. Noch überwog der Dilettantismus. Mittelalter-<lb/> lich und deutſch galt faſt für gleichbedeutend; man warf die grundver-<lb/> ſchiedenen Epochen der mittelalterlichen Cultur kritiklos durch einander,<lb/> und die Begeiſterten ließen ſichs nicht träumen, daß die verhaßten Fran-<lb/> zoſen in der Blüthezeit des Ritterthums eigentlich die Tonangeber, die<lb/> Culturbringer geweſen waren. Der ſchwächlich phantaſtiſche Fouqu<hi rendition="#aq">é</hi>, dem<lb/> doch nur zuweilen ein ſtimmungsvolles, den Geheimniſſen des Waldes<lb/> und des Waſſers abgelauſchtes Märchenbild oder eine kräftige Schilde-<lb/> rung altnordiſcher Reckengröße gelang, wurde für einige Jahre der Mode-<lb/> dichter der vornehmen Welt. Die Berliner Damen ſchwärmten für ſeine<lb/> ſinnigen, ſittigen, minniglichen Jungfrauen, für die ausbündige Tugend<lb/> ſeiner Ritter, ſchmückten ihre Putztiſche mit eiſernen Crucifixen und ſilber-<lb/> beſchlagenen Andachtsbüchern.</p><lb/> <p>Die germaniſtiſche Sprachforſchung war bisher bei anderen Wiſſen-<lb/> ſchaften zu Gaſte gegangen, nur nebenher von einzelnen Hiſtorikern, Juriſten<lb/> und Theologen gefördert worden. Nunmehr verſuchte ſie endlich ſich auf<lb/> eigne Füße zu ſtellen, Herders kühne Ahnungen und F. A. Wolfs An-<lb/> ſichten über die Entſtehung der homeriſchen Gedichte für das deutſche Alter-<lb/> thum zu verwerthen. Die Gebrüder Grimm gaben ihr zuerſt den Charakter<lb/> einer ſelbſtändigen Wiſſenſchaft. Man achtete der beiden Anſpruchsloſen<lb/> wenig, als ſie in der Einſiedlerzeitung der Heidelberger auftraten; doch<lb/> bald ſollten ſie ſich als die Reinſten und Stärkſten unter den Genoſſen<lb/> bewähren. Durch ſie vornehmlich iſt der echte, fruchtbare Kern der<lb/> romantiſchen Weltanſchauung nachher einer gänzlich verwandelten Welt<lb/> erhalten und in das geiſtige Vermögen der Nation aufgenommen worden.<lb/> Sie nahmen den alten Glaubensſatz der Romantiker, daß dem Oceane<lb/> der Poeſie Alles entſtröme, in vollem Ernſt, ſuchten auf jedem Gebiete<lb/> des Volkslebens, in Sprache, Recht und Sitte nachzuweiſen, wie ſich Bil-<lb/> dung und Abſtraction überall aus dem Sinnlichen, Natürlichen, Urſprüng-<lb/> lichen heraus geſtaltet habe. Wie vornehm herablaſſend hatten die Schrift-<lb/> ſteller des achtzehnten Jahrhunderts noch zum Volke geſprochen, wenn ſie<lb/> ſich ja einmal um den geringen Mann kümmerten; jetzt ging die zünftige<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [311/0327]
Deutſche Sprach- und Sagenforſchung.
Verwunderung kein Ende, als die Glocken des Wunderhorns mit ſüßem
Schall erzählten, wie überſchwänglich reich dies alte Deutſchland mit der
Gottesgabe der Poeſie begnadet geweſen, welche Fülle von Liebe und Sehn-
ſucht, Muth und Schelmerei tauſende namenloſer Studenten und Lands-
knechte, Jäger und Bettelleute in ihren kunſtloſen Liedern niedergelegt
hatten. Herders große Offenbarung, daß die Dichtung ein Gemeingut
Aller ſei, fand nun erſt allgemeines Verſtändniß. Nachher gab v. d. Hagen
in Berlin die Nibelungen heraus, und ſo ſchülerhaft die Bearbeitung war,
die mächtigen Geſtalten des grimmen Hagen und der lancrächen Chriem-
hild erregten in der Seele der Leſer doch die frohe Ahnung, daß unſer
Volk ſechshundert Jahre vor Goethe ſchon einmal eine große Zeit der
Dichtung geſehen habe. Noch überwog der Dilettantismus. Mittelalter-
lich und deutſch galt faſt für gleichbedeutend; man warf die grundver-
ſchiedenen Epochen der mittelalterlichen Cultur kritiklos durch einander,
und die Begeiſterten ließen ſichs nicht träumen, daß die verhaßten Fran-
zoſen in der Blüthezeit des Ritterthums eigentlich die Tonangeber, die
Culturbringer geweſen waren. Der ſchwächlich phantaſtiſche Fouqué, dem
doch nur zuweilen ein ſtimmungsvolles, den Geheimniſſen des Waldes
und des Waſſers abgelauſchtes Märchenbild oder eine kräftige Schilde-
rung altnordiſcher Reckengröße gelang, wurde für einige Jahre der Mode-
dichter der vornehmen Welt. Die Berliner Damen ſchwärmten für ſeine
ſinnigen, ſittigen, minniglichen Jungfrauen, für die ausbündige Tugend
ſeiner Ritter, ſchmückten ihre Putztiſche mit eiſernen Crucifixen und ſilber-
beſchlagenen Andachtsbüchern.
Die germaniſtiſche Sprachforſchung war bisher bei anderen Wiſſen-
ſchaften zu Gaſte gegangen, nur nebenher von einzelnen Hiſtorikern, Juriſten
und Theologen gefördert worden. Nunmehr verſuchte ſie endlich ſich auf
eigne Füße zu ſtellen, Herders kühne Ahnungen und F. A. Wolfs An-
ſichten über die Entſtehung der homeriſchen Gedichte für das deutſche Alter-
thum zu verwerthen. Die Gebrüder Grimm gaben ihr zuerſt den Charakter
einer ſelbſtändigen Wiſſenſchaft. Man achtete der beiden Anſpruchsloſen
wenig, als ſie in der Einſiedlerzeitung der Heidelberger auftraten; doch
bald ſollten ſie ſich als die Reinſten und Stärkſten unter den Genoſſen
bewähren. Durch ſie vornehmlich iſt der echte, fruchtbare Kern der
romantiſchen Weltanſchauung nachher einer gänzlich verwandelten Welt
erhalten und in das geiſtige Vermögen der Nation aufgenommen worden.
Sie nahmen den alten Glaubensſatz der Romantiker, daß dem Oceane
der Poeſie Alles entſtröme, in vollem Ernſt, ſuchten auf jedem Gebiete
des Volkslebens, in Sprache, Recht und Sitte nachzuweiſen, wie ſich Bil-
dung und Abſtraction überall aus dem Sinnlichen, Natürlichen, Urſprüng-
lichen heraus geſtaltet habe. Wie vornehm herablaſſend hatten die Schrift-
ſteller des achtzehnten Jahrhunderts noch zum Volke geſprochen, wenn ſie
ſich ja einmal um den geringen Mann kümmerten; jetzt ging die zünftige
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |