Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.
den Verwaltung kennen. Man ehrte das Unglück durch milde Behand-
lung der Aufständischen, während über das russische Polen ein grausames
Strafgericht erging. Der Edelmann ward endlich zum Unterthan, mußte
sich dem Ansehen des Gesetzes unterwerfen; der Bauer und der Jude
durften wieder für die Zukunft schaffen, der friedlichen Arbeit nachgehen
ohne vor der Karbatsche des Slachtizen zu zittern. Die dem alten Polen
völlig unbekannte Sicherheit der Rechtspflege lockte zahlreiche Ansiedler
und Capitalien aus den deutschen Provinzen auf diesen reichen jung-
fräulichen Boden; der Landbau hob sich zusehends, die Hypothekenordnung
ermöglichte eine intensivere Wirthschaft, neue Straßen und Wasserwege
entstanden, Warschau nahm überraschend schnell den Charakter einer
deutschen Stadt an. Das Aufblühen der Volkswirthschaft war überall
unverkennbar.

Aber man erfuhr bald, daß Macht und Glück der Staaten nicht
allein von militärischen und handelspolitischen Bedingungen abhängen.
Die hohe Gerechtigkeit des historischen Schicksals bleibt darum ewig un-
erforschlich und nur der ahnenden Andacht erkennbar, weil sie die Ein-
zelnen wie die Völker nicht mit gleichem Maße mißt. Unter den Staaten
wie unter den Menschen giebt es Glückskinder, denen jeder leichte Er-
werb gedeiht, und wieder Andere von härterem Metall, denen nur das
schwer Erkämpfte zum Heile gereicht. Was der preußische Staat besaß
war der Lohn ernster Arbeit; diese neue gewaltige Gebietserweiterung aber
fiel ihm in den Schooß nach schwächlichen Feldzügen und ruhmlosen Unter-
handlungen, sie wirkte wie Spielgewinn auf einen geordneten Haushalt.
Wie oft hatten die Hohenzollern verlockenden Rufen aus dem Auslande
widerstanden; diesmal waren sie der Versuchung unterlegen. Preußen besaß
jetzt unter zehntehalb Millionen Einwohnern an vier Millionen Slaven
und lief Gefahr seiner großen deutschen Zukunft entfremdet zu werden.
Die Erwerbung von Warschau und Pultusk war freilich ein nothwendiger
Schritt, unbedingt geboten nach den Anschauungen der Zeit, da Preußen
den Schlüssel zu seiner Ostgrenze weder an Oesterreich noch an Ruß-
land überlassen durfte; den König trifft kein persönlicher Vorwurf, weil
er über die Gleichgewichtslehre der Epoche nicht hinaussah und von der
Macht der nationalen Gegensätze ebenso wenig ahnte wie alle seine Zeit-
genossen. Doch es blieb unmöglich, diese Tausende feindseliger Slachtizen,
diese verdummten, den Kaplänen blind gehorchenden Bauern mit dem
protestantischen deutschen Staate zu versöhnen; während der rheinischen
Kriege sah man polnische Rekruten in Ketten geschlossen nach dem Westen
marschiren, und es geschah zuweilen, daß die Hälfte unterwegs entsprang.
Die polnischen Provinzen schwächten die sittliche Kraft des Staates, der
ohne die willige Hingebung seiner Bürger nicht bestehen konnte, und
brachten seine innere Entwicklung zum Stillstande. Die Theilung Polens
steht obenan unter den mannichfaltigen Ursachen jener unheimlichen Er-

I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
den Verwaltung kennen. Man ehrte das Unglück durch milde Behand-
lung der Aufſtändiſchen, während über das ruſſiſche Polen ein grauſames
Strafgericht erging. Der Edelmann ward endlich zum Unterthan, mußte
ſich dem Anſehen des Geſetzes unterwerfen; der Bauer und der Jude
durften wieder für die Zukunft ſchaffen, der friedlichen Arbeit nachgehen
ohne vor der Karbatſche des Slachtizen zu zittern. Die dem alten Polen
völlig unbekannte Sicherheit der Rechtspflege lockte zahlreiche Anſiedler
und Capitalien aus den deutſchen Provinzen auf dieſen reichen jung-
fräulichen Boden; der Landbau hob ſich zuſehends, die Hypothekenordnung
ermöglichte eine intenſivere Wirthſchaft, neue Straßen und Waſſerwege
entſtanden, Warſchau nahm überraſchend ſchnell den Charakter einer
deutſchen Stadt an. Das Aufblühen der Volkswirthſchaft war überall
unverkennbar.

Aber man erfuhr bald, daß Macht und Glück der Staaten nicht
allein von militäriſchen und handelspolitiſchen Bedingungen abhängen.
Die hohe Gerechtigkeit des hiſtoriſchen Schickſals bleibt darum ewig un-
erforſchlich und nur der ahnenden Andacht erkennbar, weil ſie die Ein-
zelnen wie die Völker nicht mit gleichem Maße mißt. Unter den Staaten
wie unter den Menſchen giebt es Glückskinder, denen jeder leichte Er-
werb gedeiht, und wieder Andere von härterem Metall, denen nur das
ſchwer Erkämpfte zum Heile gereicht. Was der preußiſche Staat beſaß
war der Lohn ernſter Arbeit; dieſe neue gewaltige Gebietserweiterung aber
fiel ihm in den Schooß nach ſchwächlichen Feldzügen und ruhmloſen Unter-
handlungen, ſie wirkte wie Spielgewinn auf einen geordneten Haushalt.
Wie oft hatten die Hohenzollern verlockenden Rufen aus dem Auslande
widerſtanden; diesmal waren ſie der Verſuchung unterlegen. Preußen beſaß
jetzt unter zehntehalb Millionen Einwohnern an vier Millionen Slaven
und lief Gefahr ſeiner großen deutſchen Zukunft entfremdet zu werden.
Die Erwerbung von Warſchau und Pultusk war freilich ein nothwendiger
Schritt, unbedingt geboten nach den Anſchauungen der Zeit, da Preußen
den Schlüſſel zu ſeiner Oſtgrenze weder an Oeſterreich noch an Ruß-
land überlaſſen durfte; den König trifft kein perſönlicher Vorwurf, weil
er über die Gleichgewichtslehre der Epoche nicht hinausſah und von der
Macht der nationalen Gegenſätze ebenſo wenig ahnte wie alle ſeine Zeit-
genoſſen. Doch es blieb unmöglich, dieſe Tauſende feindſeliger Slachtizen,
dieſe verdummten, den Kaplänen blind gehorchenden Bauern mit dem
proteſtantiſchen deutſchen Staate zu verſöhnen; während der rheiniſchen
Kriege ſah man polniſche Rekruten in Ketten geſchloſſen nach dem Weſten
marſchiren, und es geſchah zuweilen, daß die Hälfte unterwegs entſprang.
Die polniſchen Provinzen ſchwächten die ſittliche Kraft des Staates, der
ohne die willige Hingebung ſeiner Bürger nicht beſtehen konnte, und
brachten ſeine innere Entwicklung zum Stillſtande. Die Theilung Polens
ſteht obenan unter den mannichfaltigen Urſachen jener unheimlichen Er-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0160" n="144"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> 2. Revolution und Fremdherr&#x017F;chaft.</fw><lb/>
den Verwaltung kennen. Man ehrte das Unglück durch milde Behand-<lb/>
lung der Auf&#x017F;tändi&#x017F;chen, während über das ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;che Polen ein grau&#x017F;ames<lb/>
Strafgericht erging. Der Edelmann ward endlich zum Unterthan, mußte<lb/>
&#x017F;ich dem An&#x017F;ehen des Ge&#x017F;etzes unterwerfen; der Bauer und der Jude<lb/>
durften wieder für die Zukunft &#x017F;chaffen, der friedlichen Arbeit nachgehen<lb/>
ohne vor der Karbat&#x017F;che des Slachtizen zu zittern. Die dem alten Polen<lb/>
völlig unbekannte Sicherheit der Rechtspflege lockte zahlreiche An&#x017F;iedler<lb/>
und Capitalien aus den deut&#x017F;chen Provinzen auf die&#x017F;en reichen jung-<lb/>
fräulichen Boden; der Landbau hob &#x017F;ich zu&#x017F;ehends, die Hypothekenordnung<lb/>
ermöglichte eine inten&#x017F;ivere Wirth&#x017F;chaft, neue Straßen und Wa&#x017F;&#x017F;erwege<lb/>
ent&#x017F;tanden, War&#x017F;chau nahm überra&#x017F;chend &#x017F;chnell den Charakter einer<lb/>
deut&#x017F;chen Stadt an. Das Aufblühen der Volkswirth&#x017F;chaft war überall<lb/>
unverkennbar.</p><lb/>
            <p>Aber man erfuhr bald, daß Macht und Glück der Staaten nicht<lb/>
allein von militäri&#x017F;chen und handelspoliti&#x017F;chen Bedingungen abhängen.<lb/>
Die hohe Gerechtigkeit des hi&#x017F;tori&#x017F;chen Schick&#x017F;als bleibt darum ewig un-<lb/>
erfor&#x017F;chlich und nur der ahnenden Andacht erkennbar, weil &#x017F;ie die Ein-<lb/>
zelnen wie die Völker nicht mit gleichem Maße mißt. Unter den Staaten<lb/>
wie unter den Men&#x017F;chen giebt es Glückskinder, denen jeder leichte Er-<lb/>
werb gedeiht, und wieder Andere von härterem Metall, denen nur das<lb/>
&#x017F;chwer Erkämpfte zum Heile gereicht. Was der preußi&#x017F;che Staat be&#x017F;<lb/>
war der Lohn ern&#x017F;ter Arbeit; die&#x017F;e neue gewaltige Gebietserweiterung aber<lb/>
fiel ihm in den Schooß nach &#x017F;chwächlichen Feldzügen und ruhmlo&#x017F;en Unter-<lb/>
handlungen, &#x017F;ie wirkte wie Spielgewinn auf einen geordneten Haushalt.<lb/>
Wie oft hatten die Hohenzollern verlockenden Rufen aus dem Auslande<lb/>
wider&#x017F;tanden; diesmal waren &#x017F;ie der Ver&#x017F;uchung unterlegen. Preußen be&#x017F;<lb/>
jetzt unter zehntehalb Millionen Einwohnern an vier Millionen Slaven<lb/>
und lief Gefahr &#x017F;einer großen deut&#x017F;chen Zukunft entfremdet zu werden.<lb/>
Die Erwerbung von War&#x017F;chau und Pultusk war freilich ein nothwendiger<lb/>
Schritt, unbedingt geboten nach den An&#x017F;chauungen der Zeit, da Preußen<lb/>
den Schlü&#x017F;&#x017F;el zu &#x017F;einer O&#x017F;tgrenze weder an Oe&#x017F;terreich noch an Ruß-<lb/>
land überla&#x017F;&#x017F;en durfte; den König trifft kein per&#x017F;önlicher Vorwurf, weil<lb/>
er über die Gleichgewichtslehre der Epoche nicht hinaus&#x017F;ah und von der<lb/>
Macht der nationalen Gegen&#x017F;ätze eben&#x017F;o wenig ahnte wie alle &#x017F;eine Zeit-<lb/>
geno&#x017F;&#x017F;en. Doch es blieb unmöglich, die&#x017F;e Tau&#x017F;ende feind&#x017F;eliger Slachtizen,<lb/>
die&#x017F;e verdummten, den Kaplänen blind gehorchenden Bauern mit dem<lb/>
prote&#x017F;tanti&#x017F;chen deut&#x017F;chen Staate zu ver&#x017F;öhnen; während der rheini&#x017F;chen<lb/>
Kriege &#x017F;ah man polni&#x017F;che Rekruten in Ketten ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en nach dem We&#x017F;ten<lb/>
mar&#x017F;chiren, und es ge&#x017F;chah zuweilen, daß die Hälfte unterwegs ent&#x017F;prang.<lb/>
Die polni&#x017F;chen Provinzen &#x017F;chwächten die &#x017F;ittliche Kraft des Staates, der<lb/>
ohne die willige Hingebung &#x017F;einer Bürger nicht be&#x017F;tehen konnte, und<lb/>
brachten &#x017F;eine innere Entwicklung zum Still&#x017F;tande. Die Theilung Polens<lb/>
&#x017F;teht obenan unter den mannichfaltigen Ur&#x017F;achen jener unheimlichen Er-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[144/0160] I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft. den Verwaltung kennen. Man ehrte das Unglück durch milde Behand- lung der Aufſtändiſchen, während über das ruſſiſche Polen ein grauſames Strafgericht erging. Der Edelmann ward endlich zum Unterthan, mußte ſich dem Anſehen des Geſetzes unterwerfen; der Bauer und der Jude durften wieder für die Zukunft ſchaffen, der friedlichen Arbeit nachgehen ohne vor der Karbatſche des Slachtizen zu zittern. Die dem alten Polen völlig unbekannte Sicherheit der Rechtspflege lockte zahlreiche Anſiedler und Capitalien aus den deutſchen Provinzen auf dieſen reichen jung- fräulichen Boden; der Landbau hob ſich zuſehends, die Hypothekenordnung ermöglichte eine intenſivere Wirthſchaft, neue Straßen und Waſſerwege entſtanden, Warſchau nahm überraſchend ſchnell den Charakter einer deutſchen Stadt an. Das Aufblühen der Volkswirthſchaft war überall unverkennbar. Aber man erfuhr bald, daß Macht und Glück der Staaten nicht allein von militäriſchen und handelspolitiſchen Bedingungen abhängen. Die hohe Gerechtigkeit des hiſtoriſchen Schickſals bleibt darum ewig un- erforſchlich und nur der ahnenden Andacht erkennbar, weil ſie die Ein- zelnen wie die Völker nicht mit gleichem Maße mißt. Unter den Staaten wie unter den Menſchen giebt es Glückskinder, denen jeder leichte Er- werb gedeiht, und wieder Andere von härterem Metall, denen nur das ſchwer Erkämpfte zum Heile gereicht. Was der preußiſche Staat beſaß war der Lohn ernſter Arbeit; dieſe neue gewaltige Gebietserweiterung aber fiel ihm in den Schooß nach ſchwächlichen Feldzügen und ruhmloſen Unter- handlungen, ſie wirkte wie Spielgewinn auf einen geordneten Haushalt. Wie oft hatten die Hohenzollern verlockenden Rufen aus dem Auslande widerſtanden; diesmal waren ſie der Verſuchung unterlegen. Preußen beſaß jetzt unter zehntehalb Millionen Einwohnern an vier Millionen Slaven und lief Gefahr ſeiner großen deutſchen Zukunft entfremdet zu werden. Die Erwerbung von Warſchau und Pultusk war freilich ein nothwendiger Schritt, unbedingt geboten nach den Anſchauungen der Zeit, da Preußen den Schlüſſel zu ſeiner Oſtgrenze weder an Oeſterreich noch an Ruß- land überlaſſen durfte; den König trifft kein perſönlicher Vorwurf, weil er über die Gleichgewichtslehre der Epoche nicht hinausſah und von der Macht der nationalen Gegenſätze ebenſo wenig ahnte wie alle ſeine Zeit- genoſſen. Doch es blieb unmöglich, dieſe Tauſende feindſeliger Slachtizen, dieſe verdummten, den Kaplänen blind gehorchenden Bauern mit dem proteſtantiſchen deutſchen Staate zu verſöhnen; während der rheiniſchen Kriege ſah man polniſche Rekruten in Ketten geſchloſſen nach dem Weſten marſchiren, und es geſchah zuweilen, daß die Hälfte unterwegs entſprang. Die polniſchen Provinzen ſchwächten die ſittliche Kraft des Staates, der ohne die willige Hingebung ſeiner Bürger nicht beſtehen konnte, und brachten ſeine innere Entwicklung zum Stillſtande. Die Theilung Polens ſteht obenan unter den mannichfaltigen Urſachen jener unheimlichen Er-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/160
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/160>, abgerufen am 27.11.2024.