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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Dritte Theilung Polens.

Erstaunlich nun, wie man in Norddeutschland sich gar nichts träumen
ließ von der ungeheuren Einbuße, welche Preußens Ruf und Ansehen
durch den kleinmüthigen Friedensschluß erlitten, von der völligen Ver-
wüstung jeder Pietät und jedes Rechtsgefühls, die über Deutschland herein-
brechen mußte seit der einzige lebendige deutsche Staat das Reich verlassen
hatte. Alle Welt im Norden rief den weisen Friedensstiftern Beifall zu.
Handel und Wandel blühten; Preußens Rhederei und Getreideausfuhr
genossen der Vortheile der neutralen Flagge, nahmen durch den allge-
meinen Seekrieg einen ungeahnten Aufschwung. In ungestörter Sicher-
heit entfalteten sich alle Kräfte der neuen Literatur; eben jetzt sah Weimar
seine goldenen Tage. Halb verächtlich, halb gleichgiltig blickte der bildungs-
stolze Norddeutsche aus der Fülle geistigen Lebens, die ihn umfing, hinüber
nach dem wüsten Kriegsgetümmel jenseits der Demarcationslinie. Der
alte Kant wurde durch die frohe Nachricht aus Basel angeregt seine
Abhandlung vom ewigen Frieden niederzuschreiben und träumte von dem
nahen Untergange der Barbarei des Krieges -- zur selben Stunde, da
ein neues eisernes Zeitalter über das aufgeklärte Europa heraufzog. Auch
der König, der so lange dem Frieden widerstrebt, beruhigte sich bald beim
Anblick der allgemeinen Zufriedenheit, er lernte aus der Noth eine Tugend
zu machen, schrieb voll Selbstgefühls an Katharina: er glaube nur dem
Beispiele seines Vorgängers zu folgen, der ebenfalls zuerst die Grenzen
seiner Staaten erweitert und sich's dann zum Systeme gemacht habe das
neu Erworbene im Frieden zu regieren und zu behaupten.

In der That hatte außer Johann Sigismund und Friedrich II. noch
kein Hohenzoller der Monarchie eine so unverhältnißmäßige Vergrößerung
gebracht; das Gebiet wuchs in den zehn Jahren dieser Regierung von
3500 auf nahezu 5600 Geviertmeilen. Mit den fränkischen Markgraf-
schaften trat wieder ein gesegnetes Land alter Cultur zu den dürftigen
überelbischen Coloniallanden hinzu. Unter Hardenbergs Leitung bildete
sich eine fränkische Schule preußischer Beamten; Alexander Humboldt war
für den Bergbau im Fichtelgebirge thätig, Altenstein, Kircheisen, Nagler
lernten dort die strengen Grundsätze der altpreußischen Verwaltung den
behäbigen Lebensverhältnissen freier Bauern und wohlhabender Kleinbürger
anzupassen. Diese Franken und die philosophischen Ostpreußen, welche, wie
der junge Schoen, in Königsberg zu Kants Füßen gesessen und durch den
trefflichen Kraus die Ideen Adam Smiths kennen gelernt hatten, wurden
nachher der Stamm der Reformpartei des Beamtenthums. Die neue
Grenze am Bug und der Pilica war militärisch und wirthschaftlich sehr
günstig, sie eröffnete den Häfen der Provinz Preußen freien Verkehr mit
dem Holz- und Getreidereichthum des inneren Polens, gab dem Staate
die vielbewunderte uneinnehmbare Position zwischen Weichsel, Bug und
Narew. Das unglückliche Volk in Großpolen und Masovien lernte zum
ersten male seit Jahrhunderten den Segen einer gerechten und fürsorgen-

Dritte Theilung Polens.

Erſtaunlich nun, wie man in Norddeutſchland ſich gar nichts träumen
ließ von der ungeheuren Einbuße, welche Preußens Ruf und Anſehen
durch den kleinmüthigen Friedensſchluß erlitten, von der völligen Ver-
wüſtung jeder Pietät und jedes Rechtsgefühls, die über Deutſchland herein-
brechen mußte ſeit der einzige lebendige deutſche Staat das Reich verlaſſen
hatte. Alle Welt im Norden rief den weiſen Friedensſtiftern Beifall zu.
Handel und Wandel blühten; Preußens Rhederei und Getreideausfuhr
genoſſen der Vortheile der neutralen Flagge, nahmen durch den allge-
meinen Seekrieg einen ungeahnten Aufſchwung. In ungeſtörter Sicher-
heit entfalteten ſich alle Kräfte der neuen Literatur; eben jetzt ſah Weimar
ſeine goldenen Tage. Halb verächtlich, halb gleichgiltig blickte der bildungs-
ſtolze Norddeutſche aus der Fülle geiſtigen Lebens, die ihn umfing, hinüber
nach dem wüſten Kriegsgetümmel jenſeits der Demarcationslinie. Der
alte Kant wurde durch die frohe Nachricht aus Baſel angeregt ſeine
Abhandlung vom ewigen Frieden niederzuſchreiben und träumte von dem
nahen Untergange der Barbarei des Krieges — zur ſelben Stunde, da
ein neues eiſernes Zeitalter über das aufgeklärte Europa heraufzog. Auch
der König, der ſo lange dem Frieden widerſtrebt, beruhigte ſich bald beim
Anblick der allgemeinen Zufriedenheit, er lernte aus der Noth eine Tugend
zu machen, ſchrieb voll Selbſtgefühls an Katharina: er glaube nur dem
Beiſpiele ſeines Vorgängers zu folgen, der ebenfalls zuerſt die Grenzen
ſeiner Staaten erweitert und ſich’s dann zum Syſteme gemacht habe das
neu Erworbene im Frieden zu regieren und zu behaupten.

In der That hatte außer Johann Sigismund und Friedrich II. noch
kein Hohenzoller der Monarchie eine ſo unverhältnißmäßige Vergrößerung
gebracht; das Gebiet wuchs in den zehn Jahren dieſer Regierung von
3500 auf nahezu 5600 Geviertmeilen. Mit den fränkiſchen Markgraf-
ſchaften trat wieder ein geſegnetes Land alter Cultur zu den dürftigen
überelbiſchen Coloniallanden hinzu. Unter Hardenbergs Leitung bildete
ſich eine fränkiſche Schule preußiſcher Beamten; Alexander Humboldt war
für den Bergbau im Fichtelgebirge thätig, Altenſtein, Kircheiſen, Nagler
lernten dort die ſtrengen Grundſätze der altpreußiſchen Verwaltung den
behäbigen Lebensverhältniſſen freier Bauern und wohlhabender Kleinbürger
anzupaſſen. Dieſe Franken und die philoſophiſchen Oſtpreußen, welche, wie
der junge Schoen, in Königsberg zu Kants Füßen geſeſſen und durch den
trefflichen Kraus die Ideen Adam Smiths kennen gelernt hatten, wurden
nachher der Stamm der Reformpartei des Beamtenthums. Die neue
Grenze am Bug und der Pilica war militäriſch und wirthſchaftlich ſehr
günſtig, ſie eröffnete den Häfen der Provinz Preußen freien Verkehr mit
dem Holz- und Getreidereichthum des inneren Polens, gab dem Staate
die vielbewunderte uneinnehmbare Poſition zwiſchen Weichſel, Bug und
Narew. Das unglückliche Volk in Großpolen und Maſovien lernte zum
erſten male ſeit Jahrhunderten den Segen einer gerechten und fürſorgen-

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[143/0159] Dritte Theilung Polens. Erſtaunlich nun, wie man in Norddeutſchland ſich gar nichts träumen ließ von der ungeheuren Einbuße, welche Preußens Ruf und Anſehen durch den kleinmüthigen Friedensſchluß erlitten, von der völligen Ver- wüſtung jeder Pietät und jedes Rechtsgefühls, die über Deutſchland herein- brechen mußte ſeit der einzige lebendige deutſche Staat das Reich verlaſſen hatte. Alle Welt im Norden rief den weiſen Friedensſtiftern Beifall zu. Handel und Wandel blühten; Preußens Rhederei und Getreideausfuhr genoſſen der Vortheile der neutralen Flagge, nahmen durch den allge- meinen Seekrieg einen ungeahnten Aufſchwung. In ungeſtörter Sicher- heit entfalteten ſich alle Kräfte der neuen Literatur; eben jetzt ſah Weimar ſeine goldenen Tage. Halb verächtlich, halb gleichgiltig blickte der bildungs- ſtolze Norddeutſche aus der Fülle geiſtigen Lebens, die ihn umfing, hinüber nach dem wüſten Kriegsgetümmel jenſeits der Demarcationslinie. Der alte Kant wurde durch die frohe Nachricht aus Baſel angeregt ſeine Abhandlung vom ewigen Frieden niederzuſchreiben und träumte von dem nahen Untergange der Barbarei des Krieges — zur ſelben Stunde, da ein neues eiſernes Zeitalter über das aufgeklärte Europa heraufzog. Auch der König, der ſo lange dem Frieden widerſtrebt, beruhigte ſich bald beim Anblick der allgemeinen Zufriedenheit, er lernte aus der Noth eine Tugend zu machen, ſchrieb voll Selbſtgefühls an Katharina: er glaube nur dem Beiſpiele ſeines Vorgängers zu folgen, der ebenfalls zuerſt die Grenzen ſeiner Staaten erweitert und ſich’s dann zum Syſteme gemacht habe das neu Erworbene im Frieden zu regieren und zu behaupten. In der That hatte außer Johann Sigismund und Friedrich II. noch kein Hohenzoller der Monarchie eine ſo unverhältnißmäßige Vergrößerung gebracht; das Gebiet wuchs in den zehn Jahren dieſer Regierung von 3500 auf nahezu 5600 Geviertmeilen. Mit den fränkiſchen Markgraf- ſchaften trat wieder ein geſegnetes Land alter Cultur zu den dürftigen überelbiſchen Coloniallanden hinzu. Unter Hardenbergs Leitung bildete ſich eine fränkiſche Schule preußiſcher Beamten; Alexander Humboldt war für den Bergbau im Fichtelgebirge thätig, Altenſtein, Kircheiſen, Nagler lernten dort die ſtrengen Grundſätze der altpreußiſchen Verwaltung den behäbigen Lebensverhältniſſen freier Bauern und wohlhabender Kleinbürger anzupaſſen. Dieſe Franken und die philoſophiſchen Oſtpreußen, welche, wie der junge Schoen, in Königsberg zu Kants Füßen geſeſſen und durch den trefflichen Kraus die Ideen Adam Smiths kennen gelernt hatten, wurden nachher der Stamm der Reformpartei des Beamtenthums. Die neue Grenze am Bug und der Pilica war militäriſch und wirthſchaftlich ſehr günſtig, ſie eröffnete den Häfen der Provinz Preußen freien Verkehr mit dem Holz- und Getreidereichthum des inneren Polens, gab dem Staate die vielbewunderte uneinnehmbare Poſition zwiſchen Weichſel, Bug und Narew. Das unglückliche Volk in Großpolen und Maſovien lernte zum erſten male ſeit Jahrhunderten den Segen einer gerechten und fürſorgen-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/159>, abgerufen am 27.11.2024.