oder Behörde geben, welche von den Contrahenten (dem Staate auf der einen Seite, den Einzelnen, d. i. der Gesell- schaft, auf der anderen) eingesetzt oder anerkannt wird, um es zu entscheiden. Für diese richterliche Behörde gibt es dann kein ferneres Recht und ist nicht erfordert, weil ihr Wille nichts als wissenschaftliche Wahrheit in Bezug auf das Recht, ihr Handeln nichts als Sprechen ist. Sie hat mithin auch weder Recht noch Gewalt zu zwingen, viel weniger als irgendwelche physische Person haben kann. Sie ist die nackte sociale Vernunft in höchster Potenz, aber darum auch von allen anderrn Kräften entblösst. Hingegen ist der Staat, gerade seiner rechtlichen Bestimmung nach, nichts als Gewalt, Inhaber und Vertreter aller natürlichen Zwangsrechte. Er selbst bedarf der Erkenntniss des Rechtes, um es zu erzwingen. Er macht das natürliche Recht zu seinem Objecte, er nimmt es in seinen Willen auf und wird Interpret desselben. Was er aber auf diese Art in seiner Hand hat, das kann er auch verändern. Nicht blos thatsächlich. Er muss es auch rechtmässiger Weise verändern können. Denn er kann die Regeln, nach welchen er es interpretiren will, für seine Untergebenen als Satzun- gen verbindlich machen. Seine Erklärung, was Rechtens ist, bedeutet für diese so viel als: was Rechtens sein soll, mithin in allen praktischen Folgen des Rechtes. In diesem Sinne kann der Staat beliebiges Recht machen, indem er seinen Richtern befiehlt, sich darnach zu richten und seinen Executiv-Beamten, es zu vollziehen. Der unbeschränk- ten Ausdehnung dieser legislativen Gewalt oder der Verdrängung des Rechtes von Natur oder aus Convention, durch Recht von Staats wegen oder aus Politik kann sich mit Behauptung ihres Rechtes die neben und doch gleichsam unter dem Staate verharrende Gesellschaft, als Summe von Einzelnen, widersetzen. Hier würde alsdann eine rechtliche Entscheidung nur durch das bezeichnete Schiedsgericht möglich sein. Aber der Staat ist zweitens die Gesellschaft selber oder die sociale Vernunft, welche mit dem Begriffe des einzelnen vernünftigen gesellschaft- lichen Subjectes gegeben ist; die Gesellschaft in ihrer Ein- heit, nicht als besondere Person ausser und neben die übri-
oder Behörde geben, welche von den Contrahenten (dem Staate auf der einen Seite, den Einzelnen, d. i. der Gesell- schaft, auf der anderen) eingesetzt oder anerkannt wird, um es zu entscheiden. Für diese richterliche Behörde gibt es dann kein ferneres Recht und ist nicht erfordert, weil ihr Wille nichts als wissenschaftliche Wahrheit in Bezug auf das Recht, ihr Handeln nichts als Sprechen ist. Sie hat mithin auch weder Recht noch Gewalt zu zwingen, viel weniger als irgendwelche physische Person haben kann. Sie ist die nackte sociale Vernunft in höchster Potenz, aber darum auch von allen anderrn Kräften entblösst. Hingegen ist der Staat, gerade seiner rechtlichen Bestimmung nach, nichts als Gewalt, Inhaber und Vertreter aller natürlichen Zwangsrechte. Er selbst bedarf der Erkenntniss des Rechtes, um es zu erzwingen. Er macht das natürliche Recht zu seinem Objecte, er nimmt es in seinen Willen auf und wird Interpret desselben. Was er aber auf diese Art in seiner Hand hat, das kann er auch verändern. Nicht blos thatsächlich. Er muss es auch rechtmässiger Weise verändern können. Denn er kann die Regeln, nach welchen er es interpretiren will, für seine Untergebenen als Satzun- gen verbindlich machen. Seine Erklärung, was Rechtens ist, bedeutet für diese so viel als: was Rechtens sein soll, mithin in allen praktischen Folgen des Rechtes. In diesem Sinne kann der Staat beliebiges Recht machen, indem er seinen Richtern befiehlt, sich darnach zu richten und seinen Executiv-Beamten, es zu vollziehen. Der unbeschränk- ten Ausdehnung dieser legislativen Gewalt oder der Verdrängung des Rechtes von Natur oder aus Convention, durch Recht von Staats wegen oder aus Politik kann sich mit Behauptung ihres Rechtes die neben und doch gleichsam unter dem Staate verharrende Gesellschaft, als Summe von Einzelnen, widersetzen. Hier würde alsdann eine rechtliche Entscheidung nur durch das bezeichnete Schiedsgericht möglich sein. Aber der Staat ist zweitens die Gesellschaft selber oder die sociale Vernunft, welche mit dem Begriffe des einzelnen vernünftigen gesellschaft- lichen Subjectes gegeben ist; die Gesellschaft in ihrer Ein- heit, nicht als besondere Person ausser und neben die übri-
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[265/0301]
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es zu entscheiden. Für diese richterliche Behörde gibt
es dann kein ferneres Recht und ist nicht erfordert, weil
ihr Wille nichts als wissenschaftliche Wahrheit in Bezug
auf das Recht, ihr Handeln nichts als Sprechen ist. Sie
hat mithin auch weder Recht noch Gewalt zu zwingen,
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Sie ist die nackte sociale Vernunft in höchster Potenz, aber
darum auch von allen anderrn Kräften entblösst. Hingegen
ist der Staat, gerade seiner rechtlichen Bestimmung nach,
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Zwangsrechte. Er selbst bedarf der Erkenntniss des
Rechtes, um es zu erzwingen. Er macht das natürliche
Recht zu seinem Objecte, er nimmt es in seinen Willen auf
und wird Interpret desselben. Was er aber auf diese Art
in seiner Hand hat, das kann er auch verändern. Nicht
blos thatsächlich. Er muss es auch rechtmässiger Weise
verändern können. Denn er kann die Regeln, nach welchen
er es interpretiren will, für seine Untergebenen als Satzun-
gen verbindlich machen. Seine Erklärung, was Rechtens
ist, bedeutet für diese so viel als: was Rechtens sein soll,
mithin in allen praktischen Folgen des Rechtes. In diesem
Sinne kann der Staat beliebiges Recht machen, indem
er seinen Richtern befiehlt, sich darnach zu richten und
seinen Executiv-Beamten, es zu vollziehen. Der unbeschränk-
ten Ausdehnung dieser legislativen Gewalt oder der
Verdrängung des Rechtes von Natur oder aus Convention,
durch Recht von Staats wegen oder aus Politik kann sich
mit Behauptung ihres Rechtes die neben und doch gleichsam
unter dem Staate verharrende Gesellschaft, als Summe von
Einzelnen, widersetzen. Hier würde alsdann eine
rechtliche Entscheidung nur durch das bezeichnete
Schiedsgericht möglich sein. Aber der Staat ist zweitens
die Gesellschaft selber oder die sociale Vernunft, welche
mit dem Begriffe des einzelnen vernünftigen gesellschaft-
lichen Subjectes gegeben ist; die Gesellschaft in ihrer Ein-
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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/301>, abgerufen am 23.11.2024.
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