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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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denn eine beständige Wahrscheinlichkeit und Gefahr, zu
Gunsten des Zusammenhanges bei eigentlich dienenden,
untergeordneten Gliedern, zu Gunsten der Freiheit bei den
wesentlich herrschenden Functionen gegeben ist. Denn ihrer
Natur nach müssen auch jene irgend welche bestimmende
Wirkungen auf das Ganze ausüben, und sind doch auch diese
so zu definiren, dass sie Gliedern oder Theilen angehören,
welche als solche dem Ganzen dienen und sich nach ihm
richten müssen. Alle diese Verhältnisse aber und ihre Ein-
richtungen sind, wo und wie sie immer gestaltet sein mögen,
positiven Rechtes, als Gewohnheitsrechte, d. i. sie ge-
hören dem Allgemein-Willen an, sofern er als Brauch und
Sitte sich darstellt. Das Volk eines Landes, als Subject
und Träger solches positiven Rechtes nenne ich ein Ge-
meinwesen
. Gemeinwesen ist das organisirte Volk
als besonderes, individuelles Selbst, daher in möglichen Ver-
hältnissen zu seinen Gliedern oder Organen gedacht. Die-
sem seinem Dasein nach stellt ein Gemeinwesen als Insti-
tution natürlichen Rechtes sich dar, welches aber eben
mit diesem Acte seiner Schöpfung in das Gebiet des posi-
tiven Rechtes übergehend gedacht wird. Denn wie jede
Verbindung als für sich seiendes Wesen auf einem Ver-
ständnisse beruhet -- indem sie für ein gemeinsames Ge-
dächtniss und Sprache vorhanden ist, hat sie für die Meh-
reren objective psychologische Wirklichkeit --, so ent-
wickelt sich der ursprüngliche organische Zusammenhang
zwischen Menschen, welcher durch Eintracht getragen wird,
auf einer gewissen Höhe, unter gewissen Bedingungen, in
die Idee und Essenz eines Gemeinwesens. Diese kann nicht
durch Sitte entstehen; insofern sie Sitte voraussetzt. Man
muss nun an dem Zustande oder der Verfassung eines Ge-
meinwesens unterscheiden, welche Merkmale oder Eigen-
schaften ihm wesentlich, also nothwendig und natürlich (in
diesem bestimmteren Sinne) sind, von den blos accidentellen,
positiven und insoweit veränderlichen. Hiernach kann fol-
gende Eintheilung leicht sich ergeben: 1) patriarchalische
Gemeinwesen, in welchen das Fundament des gemeinsamen
Besitzes an Grund und Boden schon vorhanden, aber noch
nicht
ganz und gar wesentlich ist, 2) landschaftliche Ge-

denn eine beständige Wahrscheinlichkeit und Gefahr, zu
Gunsten des Zusammenhanges bei eigentlich dienenden,
untergeordneten Gliedern, zu Gunsten der Freiheit bei den
wesentlich herrschenden Functionen gegeben ist. Denn ihrer
Natur nach müssen auch jene irgend welche bestimmende
Wirkungen auf das Ganze ausüben, und sind doch auch diese
so zu definiren, dass sie Gliedern oder Theilen angehören,
welche als solche dem Ganzen dienen und sich nach ihm
richten müssen. Alle diese Verhältnisse aber und ihre Ein-
richtungen sind, wo und wie sie immer gestaltet sein mögen,
positiven Rechtes, als Gewohnheitsrechte, d. i. sie ge-
hören dem Allgemein-Willen an, sofern er als Brauch und
Sitte sich darstellt. Das Volk eines Landes, als Subject
und Träger solches positiven Rechtes nenne ich ein Ge-
meinwesen
. Gemeinwesen ist das organisirte Volk
als besonderes, individuelles Selbst, daher in möglichen Ver-
hältnissen zu seinen Gliedern oder Organen gedacht. Die-
sem seinem Dasein nach stellt ein Gemeinwesen als Insti-
tution natürlichen Rechtes sich dar, welches aber eben
mit diesem Acte seiner Schöpfung in das Gebiet des posi-
tiven Rechtes übergehend gedacht wird. Denn wie jede
Verbindung als für sich seiendes Wesen auf einem Ver-
ständnisse beruhet — indem sie für ein gemeinsames Ge-
dächtniss und Sprache vorhanden ist, hat sie für die Meh-
reren objective psychologische Wirklichkeit —, so ent-
wickelt sich der ursprüngliche organische Zusammenhang
zwischen Menschen, welcher durch Eintracht getragen wird,
auf einer gewissen Höhe, unter gewissen Bedingungen, in
die Idee und Essenz eines Gemeinwesens. Diese kann nicht
durch Sitte entstehen; insofern sie Sitte voraussetzt. Man
muss nun an dem Zustande oder der Verfassung eines Ge-
meinwesens unterscheiden, welche Merkmale oder Eigen-
schaften ihm wesentlich, also nothwendig und natürlich (in
diesem bestimmteren Sinne) sind, von den blos accidentellen,
positiven und insoweit veränderlichen. Hiernach kann fol-
gende Eintheilung leicht sich ergeben: 1) patriarchalische
Gemeinwesen, in welchen das Fundament des gemeinsamen
Besitzes an Grund und Boden schon vorhanden, aber noch
nicht
ganz und gar wesentlich ist, 2) landschaftliche Ge-

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[254/0290] denn eine beständige Wahrscheinlichkeit und Gefahr, zu Gunsten des Zusammenhanges bei eigentlich dienenden, untergeordneten Gliedern, zu Gunsten der Freiheit bei den wesentlich herrschenden Functionen gegeben ist. Denn ihrer Natur nach müssen auch jene irgend welche bestimmende Wirkungen auf das Ganze ausüben, und sind doch auch diese so zu definiren, dass sie Gliedern oder Theilen angehören, welche als solche dem Ganzen dienen und sich nach ihm richten müssen. Alle diese Verhältnisse aber und ihre Ein- richtungen sind, wo und wie sie immer gestaltet sein mögen, positiven Rechtes, als Gewohnheitsrechte, d. i. sie ge- hören dem Allgemein-Willen an, sofern er als Brauch und Sitte sich darstellt. Das Volk eines Landes, als Subject und Träger solches positiven Rechtes nenne ich ein Ge- meinwesen. Gemeinwesen ist das organisirte Volk als besonderes, individuelles Selbst, daher in möglichen Ver- hältnissen zu seinen Gliedern oder Organen gedacht. Die- sem seinem Dasein nach stellt ein Gemeinwesen als Insti- tution natürlichen Rechtes sich dar, welches aber eben mit diesem Acte seiner Schöpfung in das Gebiet des posi- tiven Rechtes übergehend gedacht wird. Denn wie jede Verbindung als für sich seiendes Wesen auf einem Ver- ständnisse beruhet — indem sie für ein gemeinsames Ge- dächtniss und Sprache vorhanden ist, hat sie für die Meh- reren objective psychologische Wirklichkeit —, so ent- wickelt sich der ursprüngliche organische Zusammenhang zwischen Menschen, welcher durch Eintracht getragen wird, auf einer gewissen Höhe, unter gewissen Bedingungen, in die Idee und Essenz eines Gemeinwesens. Diese kann nicht durch Sitte entstehen; insofern sie Sitte voraussetzt. Man muss nun an dem Zustande oder der Verfassung eines Ge- meinwesens unterscheiden, welche Merkmale oder Eigen- schaften ihm wesentlich, also nothwendig und natürlich (in diesem bestimmteren Sinne) sind, von den blos accidentellen, positiven und insoweit veränderlichen. Hiernach kann fol- gende Eintheilung leicht sich ergeben: 1) patriarchalische Gemeinwesen, in welchen das Fundament des gemeinsamen Besitzes an Grund und Boden schon vorhanden, aber noch nicht ganz und gar wesentlich ist, 2) landschaftliche Ge-

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/290>, abgerufen am 23.11.2024.