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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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der begibt sich dadurch seines hauptsächlichen Vortheils
als Käufer und entgeht, wenn die Leistung schon geschehen
-- also, nach dem gesellschaftlichen Schema, ein stillschwei-
gender Contract vorher abgeschlossen worden ist -- der
Gefahr, durch Nachforderung des Verkäufers dazu genöthigt
zu werden, nur durch reichliche Zahlung, welche also
über den Werth und Preis hinaus eine freie Gabe zu ent-
halten gedacht wird; und diese mag allerdings als eine Ver-
gütung und eigentlicher Lohn für Eigenschaften und Thä-
tigkeiten, deren Werth nicht angeboten worden ist oder
werden kann, angesehen werden. Sonst aber hat sie den
Charakter des Almosens, als der freiwilligen Abgabe des
Höheren an Niedere, als deren einziger Grund die Noth der
Niederen vorgestellt wird. Doch hat auch dieses einen ver-
schiedenen, gemeinschaftlichen oder gesellschaftlichen Sinn;
oder vielmehr verschieden, je wie es aus individualem
Wesenwillen oder individualer Willkür hervorgeht. Denn
einmal geschieht es aus besonderem oder allgemeinem Mit-
leiden, besonderem oder allgemeinem Pflichtgefühl, aus hel-
fender, fördernder Gesinnung, und die Idee einer Nothwen-
digkeit (aus dem eigenen Antriebe) oder Schuldigkeit (aus
dem Verhältnisse einer Verwandtschaft oder Nachbar-
schaft oder Standes oder Berufsgenossenschaft, endlich gar
einer religiösen und etwa allgemein-menschlichen Brüder-
lichkeit) involvirend. Anders, wenn es mit vollkommener
Kälte, um eines äusseren Zweckes willen -- z. B. um den
lästigen Anblick des Bettlers los zu werden -- gegeben
wird, oder um die Eigenschaft der Freigebigkeit zu zeigen,
um sich in der Meinung von Macht und Reichthum (im
Credit) zu erhalten, oder endlich -- und das ist das Häu-
figste, mit dem Uebrigen aber sehr nahe zusammenhängend
-- unter dem Drucke der gesellschaftlichen Convention und
Etikette, welche ihre guten Gründe hat, solche Vorschriften
zu machen und durchzusetzen. Und dies ist die Art des
Wohlthuns der Reichen und Vornehmen -- eine vornehme
Art, wie alle vornehme Art kühl und gefühllos ist. -- Aus
diesen Gesichtspunkten möge das interessante und von
den Neueren so angelegentlich erörterte Phänomen des
Trinkgeldes beurtheilt werden: eine seltsame Mischung

der begibt sich dadurch seines hauptsächlichen Vortheils
als Käufer und entgeht, wenn die Leistung schon geschehen
— also, nach dem gesellschaftlichen Schema, ein stillschwei-
gender Contract vorher abgeschlossen worden ist — der
Gefahr, durch Nachforderung des Verkäufers dazu genöthigt
zu werden, nur durch reichliche Zahlung, welche also
über den Werth und Preis hinaus eine freie Gabe zu ent-
halten gedacht wird; und diese mag allerdings als eine Ver-
gütung und eigentlicher Lohn für Eigenschaften und Thä-
tigkeiten, deren Werth nicht angeboten worden ist oder
werden kann, angesehen werden. Sonst aber hat sie den
Charakter des Almosens, als der freiwilligen Abgabe des
Höheren an Niedere, als deren einziger Grund die Noth der
Niederen vorgestellt wird. Doch hat auch dieses einen ver-
schiedenen, gemeinschaftlichen oder gesellschaftlichen Sinn;
oder vielmehr verschieden, je wie es aus individualem
Wesenwillen oder individualer Willkür hervorgeht. Denn
einmal geschieht es aus besonderem oder allgemeinem Mit-
leiden, besonderem oder allgemeinem Pflichtgefühl, aus hel-
fender, fördernder Gesinnung, und die Idee einer Nothwen-
digkeit (aus dem eigenen Antriebe) oder Schuldigkeit (aus
dem Verhältnisse einer Verwandtschaft oder Nachbar-
schaft oder Standes oder Berufsgenossenschaft, endlich gar
einer religiösen und etwa allgemein-menschlichen Brüder-
lichkeit) involvirend. Anders, wenn es mit vollkommener
Kälte, um eines äusseren Zweckes willen — z. B. um den
lästigen Anblick des Bettlers los zu werden — gegeben
wird, oder um die Eigenschaft der Freigebigkeit zu zeigen,
um sich in der Meinung von Macht und Reichthum (im
Credit) zu erhalten, oder endlich — und das ist das Häu-
figste, mit dem Uebrigen aber sehr nahe zusammenhängend
— unter dem Drucke der gesellschaftlichen Convention und
Etikette, welche ihre guten Gründe hat, solche Vorschriften
zu machen und durchzusetzen. Und dies ist die Art des
Wohlthuns der Reichen und Vornehmen — eine vornehme
Art, wie alle vornehme Art kühl und gefühllos ist. — Aus
diesen Gesichtspunkten möge das interessante und von
den Neueren so angelegentlich erörterte Phänomen des
Trinkgeldes beurtheilt werden: eine seltsame Mischung

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[223/0259] der begibt sich dadurch seines hauptsächlichen Vortheils als Käufer und entgeht, wenn die Leistung schon geschehen — also, nach dem gesellschaftlichen Schema, ein stillschwei- gender Contract vorher abgeschlossen worden ist — der Gefahr, durch Nachforderung des Verkäufers dazu genöthigt zu werden, nur durch reichliche Zahlung, welche also über den Werth und Preis hinaus eine freie Gabe zu ent- halten gedacht wird; und diese mag allerdings als eine Ver- gütung und eigentlicher Lohn für Eigenschaften und Thä- tigkeiten, deren Werth nicht angeboten worden ist oder werden kann, angesehen werden. Sonst aber hat sie den Charakter des Almosens, als der freiwilligen Abgabe des Höheren an Niedere, als deren einziger Grund die Noth der Niederen vorgestellt wird. Doch hat auch dieses einen ver- schiedenen, gemeinschaftlichen oder gesellschaftlichen Sinn; oder vielmehr verschieden, je wie es aus individualem Wesenwillen oder individualer Willkür hervorgeht. Denn einmal geschieht es aus besonderem oder allgemeinem Mit- leiden, besonderem oder allgemeinem Pflichtgefühl, aus hel- fender, fördernder Gesinnung, und die Idee einer Nothwen- digkeit (aus dem eigenen Antriebe) oder Schuldigkeit (aus dem Verhältnisse einer Verwandtschaft oder Nachbar- schaft oder Standes oder Berufsgenossenschaft, endlich gar einer religiösen und etwa allgemein-menschlichen Brüder- lichkeit) involvirend. Anders, wenn es mit vollkommener Kälte, um eines äusseren Zweckes willen — z. B. um den lästigen Anblick des Bettlers los zu werden — gegeben wird, oder um die Eigenschaft der Freigebigkeit zu zeigen, um sich in der Meinung von Macht und Reichthum (im Credit) zu erhalten, oder endlich — und das ist das Häu- figste, mit dem Uebrigen aber sehr nahe zusammenhängend — unter dem Drucke der gesellschaftlichen Convention und Etikette, welche ihre guten Gründe hat, solche Vorschriften zu machen und durchzusetzen. Und dies ist die Art des Wohlthuns der Reichen und Vornehmen — eine vornehme Art, wie alle vornehme Art kühl und gefühllos ist. — Aus diesen Gesichtspunkten möge das interessante und von den Neueren so angelegentlich erörterte Phänomen des Trinkgeldes beurtheilt werden: eine seltsame Mischung

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/259>, abgerufen am 25.11.2024.