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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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willens soll nichts von Willkür, in den Formen der Willkür
nichts von Wesenwillen mit gedacht werden. Wenn jedoch
dieselben Begriffe als empirische genommen werden (als
welche sie dann nichts als Namen sind, durch welche eine
Vielheit der Anschauung oder Vorstellung umfasst und be-
halten wird; mithin je weiter desto leerer an Merkmalen),
so ergibt sich aus Beobachtung und Ueberlegung leicht:
dass kein Wesenwille ohne Willkür, worin er sich ausdrückt
und keine Willkür ohne Wesenwillen, worauf sie beruht,
in der Erfahrung vorkommen kann. Der Werth der
strengen Scheidung jener normalen Begriffe stellt sich aber
heraus, indem wir gewahr werden, wie die empirischen
Tendenzen in der Richtung des einen und in der Rich-
tung des anderen, zwar neben einander bestehen und wirken,
ja einander fördern und vermehren können, dass aber, in-
sofern als jede Gattung auf Macht und Herrschaft ausgeht,
sie nothwendiger Weise zusammenstossen, sich widersprechen
und sich bekämpfen müssen. Denn ihr Gehalt, in Normen
und Regeln des Verhaltens ausgedrückt, ist von gleicher
Art. Wenn daher Willkür Alles nach Zwecken oder Nütz-
lichkeiten ordnen und bestimmen will, so muss sie die
gegebenen, überlieferten, eingewurzelten Regeln verdrängen,
soweit sie nicht sich solchen Zwecken anpassen lassen; sich
unterwerfen, soweit dieses angehen mag. Also: nicht nur
müssen, je entschiedener Willkür sich entwickelt, oder das
Denken sich auf Zwecke, auf Erkenntniss, Erlangung, An-
wendung von Mitteln, sich versammelt und concentrirt, desto
mehr die Gefühls- und Gedankencomplexe, welche das Be-
sondere oder Individuelle eines Wesenwillens ausmachen,
durch Ungebrauch zu verkümmern in Gefahr sein; sondern
es findet auch ein directer Antagonismus statt, indem
diese die Willkür zurückhalten und sich ihrer Freiheit und
Herrschaft entgegenstellen, Willkür aber vom Wesen-
willen zuerst sich loszumachen, sodann ihn aufzulösen, zu
vernichten oder zu beherrschen strebt. Diese Verhältnisse
werden am leichtesten sichtbar, wenn wir neutrale em-
pirische Begriffe nehmen und empfangen, um in ihnen solche
Tendenzen zu untersuchen: Begriffe der menschlichen Natur
und psychischen Beschaffenheit, wie sie dem wirklich ge-

willens soll nichts von Willkür, in den Formen der Willkür
nichts von Wesenwillen mit gedacht werden. Wenn jedoch
dieselben Begriffe als empirische genommen werden (als
welche sie dann nichts als Namen sind, durch welche eine
Vielheit der Anschauung oder Vorstellung umfasst und be-
halten wird; mithin je weiter desto leerer an Merkmalen),
so ergibt sich aus Beobachtung und Ueberlegung leicht:
dass kein Wesenwille ohne Willkür, worin er sich ausdrückt
und keine Willkür ohne Wesenwillen, worauf sie beruht,
in der Erfahrung vorkommen kann. Der Werth der
strengen Scheidung jener normalen Begriffe stellt sich aber
heraus, indem wir gewahr werden, wie die empirischen
Tendenzen in der Richtung des einen und in der Rich-
tung des anderen, zwar neben einander bestehen und wirken,
ja einander fördern und vermehren können, dass aber, in-
sofern als jede Gattung auf Macht und Herrschaft ausgeht,
sie nothwendiger Weise zusammenstossen, sich widersprechen
und sich bekämpfen müssen. Denn ihr Gehalt, in Normen
und Regeln des Verhaltens ausgedrückt, ist von gleicher
Art. Wenn daher Willkür Alles nach Zwecken oder Nütz-
lichkeiten ordnen und bestimmen will, so muss sie die
gegebenen, überlieferten, eingewurzelten Regeln verdrängen,
soweit sie nicht sich solchen Zwecken anpassen lassen; sich
unterwerfen, soweit dieses angehen mag. Also: nicht nur
müssen, je entschiedener Willkür sich entwickelt, oder das
Denken sich auf Zwecke, auf Erkenntniss, Erlangung, An-
wendung von Mitteln, sich versammelt und concentrirt, desto
mehr die Gefühls- und Gedankencomplexe, welche das Be-
sondere oder Individuelle eines Wesenwillens ausmachen,
durch Ungebrauch zu verkümmern in Gefahr sein; sondern
es findet auch ein directer Antagonismus statt, indem
diese die Willkür zurückhalten und sich ihrer Freiheit und
Herrschaft entgegenstellen, Willkür aber vom Wesen-
willen zuerst sich loszumachen, sodann ihn aufzulösen, zu
vernichten oder zu beherrschen strebt. Diese Verhältnisse
werden am leichtesten sichtbar, wenn wir neutrale em-
pirische Begriffe nehmen und empfangen, um in ihnen solche
Tendenzen zu untersuchen: Begriffe der menschlichen Natur
und psychischen Beschaffenheit, wie sie dem wirklich ge-

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[153/0189] willens soll nichts von Willkür, in den Formen der Willkür nichts von Wesenwillen mit gedacht werden. Wenn jedoch dieselben Begriffe als empirische genommen werden (als welche sie dann nichts als Namen sind, durch welche eine Vielheit der Anschauung oder Vorstellung umfasst und be- halten wird; mithin je weiter desto leerer an Merkmalen), so ergibt sich aus Beobachtung und Ueberlegung leicht: dass kein Wesenwille ohne Willkür, worin er sich ausdrückt und keine Willkür ohne Wesenwillen, worauf sie beruht, in der Erfahrung vorkommen kann. Der Werth der strengen Scheidung jener normalen Begriffe stellt sich aber heraus, indem wir gewahr werden, wie die empirischen Tendenzen in der Richtung des einen und in der Rich- tung des anderen, zwar neben einander bestehen und wirken, ja einander fördern und vermehren können, dass aber, in- sofern als jede Gattung auf Macht und Herrschaft ausgeht, sie nothwendiger Weise zusammenstossen, sich widersprechen und sich bekämpfen müssen. Denn ihr Gehalt, in Normen und Regeln des Verhaltens ausgedrückt, ist von gleicher Art. Wenn daher Willkür Alles nach Zwecken oder Nütz- lichkeiten ordnen und bestimmen will, so muss sie die gegebenen, überlieferten, eingewurzelten Regeln verdrängen, soweit sie nicht sich solchen Zwecken anpassen lassen; sich unterwerfen, soweit dieses angehen mag. Also: nicht nur müssen, je entschiedener Willkür sich entwickelt, oder das Denken sich auf Zwecke, auf Erkenntniss, Erlangung, An- wendung von Mitteln, sich versammelt und concentrirt, desto mehr die Gefühls- und Gedankencomplexe, welche das Be- sondere oder Individuelle eines Wesenwillens ausmachen, durch Ungebrauch zu verkümmern in Gefahr sein; sondern es findet auch ein directer Antagonismus statt, indem diese die Willkür zurückhalten und sich ihrer Freiheit und Herrschaft entgegenstellen, Willkür aber vom Wesen- willen zuerst sich loszumachen, sodann ihn aufzulösen, zu vernichten oder zu beherrschen strebt. Diese Verhältnisse werden am leichtesten sichtbar, wenn wir neutrale em- pirische Begriffe nehmen und empfangen, um in ihnen solche Tendenzen zu untersuchen: Begriffe der menschlichen Natur und psychischen Beschaffenheit, wie sie dem wirklich ge-

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/189>, abgerufen am 24.11.2024.