Oft fühl ich Zweifel, die mich quälen; Heul oft vor Uncuh meiner Seelen, Und meine Hülf ist fern!
Gefühl und Empfindungen entscheiden den Werth des Chri- stenthums nicht. Ein sichrer Sünder kan sich immer freuen, und ein Begnadigter traurig seyn, und so auch umge- kehrt. Eine Regel nur ist hier entscheidend. "Hassest du, o See- &q;le! die Sünden, die Gott hasset; liebest du die Gebote Gottes, &q;die Gott liebet; mit Einem Worte: jagest du der Heiligung &q;nach, und dieses um Gottes und Christi willen, so hast du Grund, &q;der Gnade Gottes dich gewiß versichert zu halten." Alle Be- kehrten können nicht einerlei Empfindungen haben. Temperament, Erziehung, angewöhnte Denkungsart, jedesmalige Beschaffenheit des Körpers und sonderlich des Bluts, grössere oder geringere Ein- sichten, gröbere oder kleinere ehemalige Versündigungen, besondre Schicksale, treuer oder nachläßiger Gebrauch der Gnadenmittel und der Trostgründe für schwermütige Frommen: diese und andere Ursachen bestimmen die Grade der Freude und Trau- rigkeit der Kinder Gottes. Auch bei ihnen sind, wie im Reiche der Natur, Armuth und Reichthum verschiedentlich ausgetheilet.
Jst es möglich, Vater! so schenk mir deinem Kinde ein freudiges Christenthum, und vielen Vorschmack des ewigen Le- bens! Soltest du es aber besser finden, daß ich auf Erden mehr zu deiner Ehre weinen, als freudigen Dank bringen soll: so will ich nicht verzagen, sondern mich fest an meinen Erlöser halten. Beten, Sünde meiden und so viel möglich Gutes thun: mehr vermag ich nicht. Schenkst du mir darauf keine Erleichterung des Herzens, keine angenehmere Aussichten, so will ich mit dem geringern Masse deiner Gnade mich begnügen lassen, und dennoch einen seligen Ausgang meiner Leiden erwarten. Göttliche Trau- rigkeit über Sünden und aufsteigende Zweifel gegen die Gewiß- heit des Gnadenstandes haben auch ihre gute Seite.
Denn
D 3
Der 26te Januar.
Oft fuͤhl ich Zweifel, die mich quaͤlen; Heul oft vor Uncuh meiner Seelen, Und meine Huͤlf iſt fern!
Gefuͤhl und Empfindungen entſcheiden den Werth des Chri- ſtenthums nicht. Ein ſichrer Suͤnder kan ſich immer freuen, und ein Begnadigter traurig ſeyn, und ſo auch umge- kehrt. Eine Regel nur iſt hier entſcheidend. „Haſſeſt du, o See- &q;le! die Suͤnden, die Gott haſſet; liebeſt du die Gebote Gottes, &q;die Gott liebet; mit Einem Worte: jageſt du der Heiligung &q;nach, und dieſes um Gottes und Chriſti willen, ſo haſt du Grund, &q;der Gnade Gottes dich gewiß verſichert zu halten.„ Alle Be- kehrten koͤnnen nicht einerlei Empfindungen haben. Temperament, Erziehung, angewoͤhnte Denkungsart, jedesmalige Beſchaffenheit des Koͤrpers und ſonderlich des Bluts, groͤſſere oder geringere Ein- ſichten, groͤbere oder kleinere ehemalige Verſuͤndigungen, beſondre Schickſale, treuer oder nachlaͤßiger Gebrauch der Gnadenmittel und der Troſtgruͤnde fuͤr ſchwermuͤtige Frommen: dieſe und andere Urſachen beſtimmen die Grade der Freude und Trau- rigkeit der Kinder Gottes. Auch bei ihnen ſind, wie im Reiche der Natur, Armuth und Reichthum verſchiedentlich ausgetheilet.
Jſt es moͤglich, Vater! ſo ſchenk mir deinem Kinde ein freudiges Chriſtenthum, und vielen Vorſchmack des ewigen Le- bens! Solteſt du es aber beſſer finden, daß ich auf Erden mehr zu deiner Ehre weinen, als freudigen Dank bringen ſoll: ſo will ich nicht verzagen, ſondern mich feſt an meinen Erloͤſer halten. Beten, Suͤnde meiden und ſo viel moͤglich Gutes thun: mehr vermag ich nicht. Schenkſt du mir darauf keine Erleichterung des Herzens, keine angenehmere Ausſichten, ſo will ich mit dem geringern Maſſe deiner Gnade mich begnuͤgen laſſen, und dennoch einen ſeligen Ausgang meiner Leiden erwarten. Goͤttliche Trau- rigkeit uͤber Suͤnden und aufſteigende Zweifel gegen die Gewiß- heit des Gnadenſtandes haben auch ihre gute Seite.
Denn
D 3
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[53[83]/0090]
Der 26te Januar.
Oft fuͤhl ich Zweifel, die mich quaͤlen;
Heul oft vor Uncuh meiner Seelen,
Und meine Huͤlf iſt fern!
Gefuͤhl und Empfindungen entſcheiden den Werth des Chri-
ſtenthums nicht. Ein ſichrer Suͤnder kan ſich immer
freuen, und ein Begnadigter traurig ſeyn, und ſo auch umge-
kehrt. Eine Regel nur iſt hier entſcheidend. „Haſſeſt du, o See-
&q;le! die Suͤnden, die Gott haſſet; liebeſt du die Gebote Gottes,
&q;die Gott liebet; mit Einem Worte: jageſt du der Heiligung
&q;nach, und dieſes um Gottes und Chriſti willen, ſo haſt du Grund,
&q;der Gnade Gottes dich gewiß verſichert zu halten.„ Alle Be-
kehrten koͤnnen nicht einerlei Empfindungen haben. Temperament,
Erziehung, angewoͤhnte Denkungsart, jedesmalige Beſchaffenheit
des Koͤrpers und ſonderlich des Bluts, groͤſſere oder geringere Ein-
ſichten, groͤbere oder kleinere ehemalige Verſuͤndigungen, beſondre
Schickſale, treuer oder nachlaͤßiger Gebrauch der Gnadenmittel
und der Troſtgruͤnde fuͤr ſchwermuͤtige Frommen: dieſe
und andere Urſachen beſtimmen die Grade der Freude und Trau-
rigkeit der Kinder Gottes. Auch bei ihnen ſind, wie im Reiche
der Natur, Armuth und Reichthum verſchiedentlich ausgetheilet.
Jſt es moͤglich, Vater! ſo ſchenk mir deinem Kinde ein
freudiges Chriſtenthum, und vielen Vorſchmack des ewigen Le-
bens! Solteſt du es aber beſſer finden, daß ich auf Erden mehr
zu deiner Ehre weinen, als freudigen Dank bringen ſoll: ſo will
ich nicht verzagen, ſondern mich feſt an meinen Erloͤſer halten.
Beten, Suͤnde meiden und ſo viel moͤglich Gutes thun: mehr
vermag ich nicht. Schenkſt du mir darauf keine Erleichterung
des Herzens, keine angenehmere Ausſichten, ſo will ich mit dem
geringern Maſſe deiner Gnade mich begnuͤgen laſſen, und dennoch
einen ſeligen Ausgang meiner Leiden erwarten. Goͤttliche Trau-
rigkeit uͤber Suͤnden und aufſteigende Zweifel gegen die Gewiß-
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(2023-05-24T12:24:22Z)
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 53[83]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/90>, abgerufen am 23.11.2024.
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