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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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zur ersten Auflage.
daher ein wahres Unglück, daß unsre meisten Theologen
entweder für ihre Fakultät, oder für den Pöbel schreiben.
Der Mittelstand zwischen beiden wird zu sehr in Schriften
und auf der Kanzel vernachläßiget.

Die Erbauung ist eine delikate Sache. Unter zehn
unsrer alten Erbauungsschriften sind gewiß neune, welche
für gewisse Leser höchst unerbaulich, für andre anstößig
und für einige gar lächerlich sind. Woher mag das kom-
men? An den Wahrheiten der heil. Schrift selbst kan es
unmöglich liegen, wol aber am Vortrage und an der Ein-
kleidung derselben. Das leitet mich zu einem kleinen Ent-
wurf einer Geschichte des erbaulichen Vortrags. Vorher
will ich nur folgendes bemerken:

Entweder will man uns die Religionswarheiten als
gewiß, oder als annehmungswürdig vorstellen. Beides
findet bei der Glaubens- und Tugendlehre statt. Ein
Theologe, der die Religion blos beweisen und erklären will,
muß mit der Dogmatik (Glaubenslehre) durchaus und
vorzüglich verknüpfen: Philologie, (Sprachkunde) Her-
menevtik und Eregetik (Schriftauslegung); und um sie
zu vertheidigen, übt er sich in der Polemik, (geistlichen
Disputirkunst) folglich auch in der Logik oder Dialektik
(Vernunftlehre) und Metaphysik (Grundwissenschaft).
Dis sind die ihm nöthigste Wissenschaften. Es verstehet
sich von selbst, daß andre ihm auch mehr oder weniger
nützlich sind. Will aber ein Theologe seine vorzutragende
Warheiten nicht eben von der gründlichen, sondern prakti-
schen und nützlichen Seite zeigen: so wird er hauptsächlich
die Moral (Tugendlehre) bearbeiten, und um sie liebens-
würdig darzustellen, wird er sie in Verbindung mit solchen

Wissen-
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zur erſten Auflage.
daher ein wahres Ungluͤck, daß unſre meiſten Theologen
entweder fuͤr ihre Fakultaͤt, oder fuͤr den Poͤbel ſchreiben.
Der Mittelſtand zwiſchen beiden wird zu ſehr in Schriften
und auf der Kanzel vernachlaͤßiget.

Die Erbauung iſt eine delikate Sache. Unter zehn
unſrer alten Erbauungsſchriften ſind gewiß neune, welche
fuͤr gewiſſe Leſer hoͤchſt unerbaulich, fuͤr andre anſtoͤßig
und fuͤr einige gar laͤcherlich ſind. Woher mag das kom-
men? An den Wahrheiten der heil. Schrift ſelbſt kan es
unmoͤglich liegen, wol aber am Vortrage und an der Ein-
kleidung derſelben. Das leitet mich zu einem kleinen Ent-
wurf einer Geſchichte des erbaulichen Vortrags. Vorher
will ich nur folgendes bemerken:

Entweder will man uns die Religionswarheiten als
gewiß, oder als annehmungswuͤrdig vorſtellen. Beides
findet bei der Glaubens- und Tugendlehre ſtatt. Ein
Theologe, der die Religion blos beweiſen und erklaͤren will,
muß mit der Dogmatik (Glaubenslehre) durchaus und
vorzuͤglich verknuͤpfen: Philologie, (Sprachkunde) Her-
menevtik und Eregetik (Schriftauslegung); und um ſie
zu vertheidigen, uͤbt er ſich in der Polemik, (geiſtlichen
Diſputirkunſt) folglich auch in der Logik oder Dialektik
(Vernunftlehre) und Metaphyſik (Grundwiſſenſchaft).
Dis ſind die ihm noͤthigſte Wiſſenſchaften. Es verſtehet
ſich von ſelbſt, daß andre ihm auch mehr oder weniger
nuͤtzlich ſind. Will aber ein Theologe ſeine vorzutragende
Warheiten nicht eben von der gruͤndlichen, ſondern prakti-
ſchen und nuͤtzlichen Seite zeigen: ſo wird er hauptſaͤchlich
die Moral (Tugendlehre) bearbeiten, und um ſie liebens-
wuͤrdig darzuſtellen, wird er ſie in Verbindung mit ſolchen

Wiſſen-
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[19/0026] zur erſten Auflage. daher ein wahres Ungluͤck, daß unſre meiſten Theologen entweder fuͤr ihre Fakultaͤt, oder fuͤr den Poͤbel ſchreiben. Der Mittelſtand zwiſchen beiden wird zu ſehr in Schriften und auf der Kanzel vernachlaͤßiget. Die Erbauung iſt eine delikate Sache. Unter zehn unſrer alten Erbauungsſchriften ſind gewiß neune, welche fuͤr gewiſſe Leſer hoͤchſt unerbaulich, fuͤr andre anſtoͤßig und fuͤr einige gar laͤcherlich ſind. Woher mag das kom- men? An den Wahrheiten der heil. Schrift ſelbſt kan es unmoͤglich liegen, wol aber am Vortrage und an der Ein- kleidung derſelben. Das leitet mich zu einem kleinen Ent- wurf einer Geſchichte des erbaulichen Vortrags. Vorher will ich nur folgendes bemerken: Entweder will man uns die Religionswarheiten als gewiß, oder als annehmungswuͤrdig vorſtellen. Beides findet bei der Glaubens- und Tugendlehre ſtatt. Ein Theologe, der die Religion blos beweiſen und erklaͤren will, muß mit der Dogmatik (Glaubenslehre) durchaus und vorzuͤglich verknuͤpfen: Philologie, (Sprachkunde) Her- menevtik und Eregetik (Schriftauslegung); und um ſie zu vertheidigen, uͤbt er ſich in der Polemik, (geiſtlichen Diſputirkunſt) folglich auch in der Logik oder Dialektik (Vernunftlehre) und Metaphyſik (Grundwiſſenſchaft). Dis ſind die ihm noͤthigſte Wiſſenſchaften. Es verſtehet ſich von ſelbſt, daß andre ihm auch mehr oder weniger nuͤtzlich ſind. Will aber ein Theologe ſeine vorzutragende Warheiten nicht eben von der gruͤndlichen, ſondern prakti- ſchen und nuͤtzlichen Seite zeigen: ſo wird er hauptſaͤchlich die Moral (Tugendlehre) bearbeiten, und um ſie liebens- wuͤrdig darzuſtellen, wird er ſie in Verbindung mit ſolchen Wiſſen- b 3

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/26>, abgerufen am 24.11.2024.