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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 10te April.
Gott! sey der Leitstern meiner Brüder,
Die nichts als Lust und Wellen sehn.
Bring sie gesund den ihrgen wieder,
Und uns mit ihnen Wohlergehn!


Jndem ich mich jetzt sicher zur Ruhe begeben will, erinnere ich
mich meiner Brüder zur See, welche vieleicht in stockfinstrer
und stürmischer Nacht mit ihrer Angst und den Wellen kämpfen.
Und da es höchst wahrscheinlich ist, daß sich unter ihrer Ladung
auch Arzenei und Gewürz für mich oder meine Freunde befindet,
so wär es mehr als stiefhrüderlich, wenn ich nicht den geringsten
Antheil an ihrem Schicksale nehmen wolte. Jch empfehle die
Seefahrer
vielmehr deiner gütigen Leitung, Herr der Erde und
der Meere! Beschütz sie wider die Wut der Wogen! Hör ihre
Gebete von ihrem Verdeck, wie du vor unsern Altären und in
unsern Tempeln Gebet erhörest. Führ sie zu den ofnen Armen
der ihrigen zurück, so werde auch ich in ihnen gesegnet seyn!

Wie viel gebraucht nicht der Mensch, daß jährlich so viel
tausend Schiffe die Meere durchsegeln müssen! Und wie unaus-
sprechlich gütig ist nicht Gott, der einer jeden Himmelsgegend be-
sondre Vorzüge und solche Früchte der Erde gab, welche ihr keine
andre Provinz so leichtlich rauben, oder in sich verpflanzen kan!
Hiedurch führte Gott eine Absicht aus, die er auch durch das
Verbot der Heiraten unter nahen Blutsfreunden erreichen wolte,
nemlich: daß die Menschen mehr Verbindung unter einander ha-
ben, und sich einander ihre Kentnisse und Gaben mittheilen solten.
Eine Familie, welche blos unter sich heiratete, und ein Land, das
mit keinem andern Gemeinschaft hätte, würde bald zu eigenliebig,
hart und einfältig werden. Es glebt Bäume, welche keine Früchte

tragen,
Tiedens Abendand. I. Th. O


Der 10te April.
Gott! ſey der Leitſtern meiner Bruͤder,
Die nichts als Luſt und Wellen ſehn.
Bring ſie geſund den ihrgen wieder,
Und uns mit ihnen Wohlergehn!


Jndem ich mich jetzt ſicher zur Ruhe begeben will, erinnere ich
mich meiner Bruͤder zur See, welche vieleicht in ſtockfinſtrer
und ſtuͤrmiſcher Nacht mit ihrer Angſt und den Wellen kaͤmpfen.
Und da es hoͤchſt wahrſcheinlich iſt, daß ſich unter ihrer Ladung
auch Arzenei und Gewuͤrz fuͤr mich oder meine Freunde befindet,
ſo waͤr es mehr als ſtiefhruͤderlich, wenn ich nicht den geringſten
Antheil an ihrem Schickſale nehmen wolte. Jch empfehle die
Seefahrer
vielmehr deiner guͤtigen Leitung, Herr der Erde und
der Meere! Beſchuͤtz ſie wider die Wut der Wogen! Hoͤr ihre
Gebete von ihrem Verdeck, wie du vor unſern Altaͤren und in
unſern Tempeln Gebet erhoͤreſt. Fuͤhr ſie zu den ofnen Armen
der ihrigen zuruͤck, ſo werde auch ich in ihnen geſegnet ſeyn!

Wie viel gebraucht nicht der Menſch, daß jaͤhrlich ſo viel
tauſend Schiffe die Meere durchſegeln muͤſſen! Und wie unaus-
ſprechlich guͤtig iſt nicht Gott, der einer jeden Himmelsgegend be-
ſondre Vorzuͤge und ſolche Fruͤchte der Erde gab, welche ihr keine
andre Provinz ſo leichtlich rauben, oder in ſich verpflanzen kan!
Hiedurch fuͤhrte Gott eine Abſicht aus, die er auch durch das
Verbot der Heiraten unter nahen Blutsfreunden erreichen wolte,
nemlich: daß die Menſchen mehr Verbindung unter einander ha-
ben, und ſich einander ihre Kentniſſe und Gaben mittheilen ſolten.
Eine Familie, welche blos unter ſich heiratete, und ein Land, das
mit keinem andern Gemeinſchaft haͤtte, wuͤrde bald zu eigenliebig,
hart und einfaͤltig werden. Es glebt Baͤume, welche keine Fruͤchte

tragen,
Tiedens Abendand. I. Th. O
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[209[239]/0246] Der 10te April. Gott! ſey der Leitſtern meiner Bruͤder, Die nichts als Luſt und Wellen ſehn. Bring ſie geſund den ihrgen wieder, Und uns mit ihnen Wohlergehn! Jndem ich mich jetzt ſicher zur Ruhe begeben will, erinnere ich mich meiner Bruͤder zur See, welche vieleicht in ſtockfinſtrer und ſtuͤrmiſcher Nacht mit ihrer Angſt und den Wellen kaͤmpfen. Und da es hoͤchſt wahrſcheinlich iſt, daß ſich unter ihrer Ladung auch Arzenei und Gewuͤrz fuͤr mich oder meine Freunde befindet, ſo waͤr es mehr als ſtiefhruͤderlich, wenn ich nicht den geringſten Antheil an ihrem Schickſale nehmen wolte. Jch empfehle die Seefahrer vielmehr deiner guͤtigen Leitung, Herr der Erde und der Meere! Beſchuͤtz ſie wider die Wut der Wogen! Hoͤr ihre Gebete von ihrem Verdeck, wie du vor unſern Altaͤren und in unſern Tempeln Gebet erhoͤreſt. Fuͤhr ſie zu den ofnen Armen der ihrigen zuruͤck, ſo werde auch ich in ihnen geſegnet ſeyn! Wie viel gebraucht nicht der Menſch, daß jaͤhrlich ſo viel tauſend Schiffe die Meere durchſegeln muͤſſen! Und wie unaus- ſprechlich guͤtig iſt nicht Gott, der einer jeden Himmelsgegend be- ſondre Vorzuͤge und ſolche Fruͤchte der Erde gab, welche ihr keine andre Provinz ſo leichtlich rauben, oder in ſich verpflanzen kan! Hiedurch fuͤhrte Gott eine Abſicht aus, die er auch durch das Verbot der Heiraten unter nahen Blutsfreunden erreichen wolte, nemlich: daß die Menſchen mehr Verbindung unter einander ha- ben, und ſich einander ihre Kentniſſe und Gaben mittheilen ſolten. Eine Familie, welche blos unter ſich heiratete, und ein Land, das mit keinem andern Gemeinſchaft haͤtte, wuͤrde bald zu eigenliebig, hart und einfaͤltig werden. Es glebt Baͤume, welche keine Fruͤchte tragen, Tiedens Abendand. I. Th. O

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 209[239]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/246>, abgerufen am 12.06.2024.