Getäuscht durch Vorurtheil, Geblendet durch den Schein, Sehn wir den innern Werth Der Dinge selten ein!
Wir lernen frühzeitig Gold und Silber für etwas wichtiges halten, den Werth aber von nützlichern Dingen verken- nen wir öfters noch im hohen Alter. Zugestanden, daß Edel- gestein, Silber und Gold keine Kleinigkeiten sind, weil sie in den meisten Fällen unsrer Dürftigkeit abhelfen können, so hat doch das zu geringe geschätzte Holz einen weit grössern innern Werth, als jene. Es ist gleichfals wahr, daß in der Natur ein allgemeiner Zusammenhang ist. Gleich den Gliedern einer Kette greifet eins in das andre, und wir würden mit blossem Holz ein kümmerliches Leben führen. Aber das bleibt doch eine unumstößliche Warheit, daß wir einer Gabe der Natur immer mehr entbehren können als der andern, und daß sich folglich der Werth einer Sache verhält, wie ihre uns unentbehrliche Brauch- barkeit. Ohne Gold und Diamanten können und müssen die meisten Menschen in der Welt leben, und sind deshalb nicht krän- ker oder trauriger: aber wer kan, sonderlich in dieser Jahrszeit, ohne Feuerung gesund und vergnügt seyn? Holz hat nächst Was- ser und Brod den höchsten Werth. Das Feuer des Brillanten erwärmet nicht!
Die einzige Entschuldigung, warum man das Holz so gerin- ge schätzt, ist, das man es weit leichter haben kan, als glänzendes Metall. Aber eben um deswillen solten wir Gott desto inniger dafür danken. Das nützliche giebt er uns im Ueberfluß, und fast ohne unser Zuthun wachsen die Wälder heran. Der weise Schö- pfer richtete sich nach unsern Bedürfnissen. Unsre Felder können weit mehr Korn als Blumen tragen, auch unser zahmes Feder-
vieh
Der 14te Februar.
Getaͤuſcht durch Vorurtheil, Geblendet durch den Schein, Sehn wir den innern Werth Der Dinge ſelten ein!
Wir lernen fruͤhzeitig Gold und Silber fuͤr etwas wichtiges halten, den Werth aber von nuͤtzlichern Dingen verken- nen wir oͤfters noch im hohen Alter. Zugeſtanden, daß Edel- geſtein, Silber und Gold keine Kleinigkeiten ſind, weil ſie in den meiſten Faͤllen unſrer Duͤrftigkeit abhelfen koͤnnen, ſo hat doch das zu geringe geſchaͤtzte Holz einen weit groͤſſern innern Werth, als jene. Es iſt gleichfals wahr, daß in der Natur ein allgemeiner Zuſammenhang iſt. Gleich den Gliedern einer Kette greifet eins in das andre, und wir wuͤrden mit bloſſem Holz ein kuͤmmerliches Leben fuͤhren. Aber das bleibt doch eine unumſtoͤßliche Warheit, daß wir einer Gabe der Natur immer mehr entbehren koͤnnen als der andern, und daß ſich folglich der Werth einer Sache verhaͤlt, wie ihre uns unentbehrliche Brauch- barkeit. Ohne Gold und Diamanten koͤnnen und muͤſſen die meiſten Menſchen in der Welt leben, und ſind deshalb nicht kraͤn- ker oder trauriger: aber wer kan, ſonderlich in dieſer Jahrszeit, ohne Feuerung geſund und vergnuͤgt ſeyn? Holz hat naͤchſt Waſ- ſer und Brod den hoͤchſten Werth. Das Feuer des Brillanten erwaͤrmet nicht!
Die einzige Entſchuldigung, warum man das Holz ſo gerin- ge ſchaͤtzt, iſt, das man es weit leichter haben kan, als glaͤnzendes Metall. Aber eben um deswillen ſolten wir Gott deſto inniger dafuͤr danken. Das nuͤtzliche giebt er uns im Ueberfluß, und faſt ohne unſer Zuthun wachſen die Waͤlder heran. Der weiſe Schoͤ- pfer richtete ſich nach unſern Beduͤrfniſſen. Unſre Felder koͤnnen weit mehr Korn als Blumen tragen, auch unſer zahmes Feder-
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[93[123]/0130]
Der 14te Februar.
Getaͤuſcht durch Vorurtheil,
Geblendet durch den Schein,
Sehn wir den innern Werth
Der Dinge ſelten ein!
Wir lernen fruͤhzeitig Gold und Silber fuͤr etwas wichtiges
halten, den Werth aber von nuͤtzlichern Dingen verken-
nen wir oͤfters noch im hohen Alter. Zugeſtanden, daß Edel-
geſtein, Silber und Gold keine Kleinigkeiten ſind, weil ſie in den
meiſten Faͤllen unſrer Duͤrftigkeit abhelfen koͤnnen, ſo hat doch
das zu geringe geſchaͤtzte Holz einen weit groͤſſern innern
Werth, als jene. Es iſt gleichfals wahr, daß in der Natur
ein allgemeiner Zuſammenhang iſt. Gleich den Gliedern einer
Kette greifet eins in das andre, und wir wuͤrden mit bloſſem
Holz ein kuͤmmerliches Leben fuͤhren. Aber das bleibt doch eine
unumſtoͤßliche Warheit, daß wir einer Gabe der Natur immer
mehr entbehren koͤnnen als der andern, und daß ſich folglich der
Werth einer Sache verhaͤlt, wie ihre uns unentbehrliche Brauch-
barkeit. Ohne Gold und Diamanten koͤnnen und muͤſſen die
meiſten Menſchen in der Welt leben, und ſind deshalb nicht kraͤn-
ker oder trauriger: aber wer kan, ſonderlich in dieſer Jahrszeit,
ohne Feuerung geſund und vergnuͤgt ſeyn? Holz hat naͤchſt Waſ-
ſer und Brod den hoͤchſten Werth. Das Feuer des Brillanten
erwaͤrmet nicht!
Die einzige Entſchuldigung, warum man das Holz ſo gerin-
ge ſchaͤtzt, iſt, das man es weit leichter haben kan, als glaͤnzendes
Metall. Aber eben um deswillen ſolten wir Gott deſto inniger
dafuͤr danken. Das nuͤtzliche giebt er uns im Ueberfluß, und faſt
ohne unſer Zuthun wachſen die Waͤlder heran. Der weiſe Schoͤ-
pfer richtete ſich nach unſern Beduͤrfniſſen. Unſre Felder koͤnnen
weit mehr Korn als Blumen tragen, auch unſer zahmes Feder-
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 93[123]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/130>, abgerufen am 21.11.2024.
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