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Tieck, Ludwig: Franz Sternbald's Wanderungen. Bd. 2. Berlin, 1798.

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Schönheit, das ist es, was wir in allen
Formen entdecken wollen, wonach unser gie¬
riges Auge allenthalben sucht. Wenn wir
sie finden, so sind es auch nicht die Sinne
allein, die in Bewegung sind, sondern alle
unsre Entzückungen erschüttern uns auf ein¬
mal auf die lieblichste Weise. Der freie un¬
verhüllte Körper ist der höchste Triumph der
Kunst, denn was sollen mir jene beschleier¬
ten Gestalten? Warum treten sie nicht aus
ihren Gewändern heraus, die sie ängstigen
und sind sie selbst? Gewand ist höchstens
nur Zugabe, Nebenschönheit. Das griechische
Alterthum verkündigt sich in seinen nackten
Figuren am göttlichsten und menschlichsten.
Die Decenz unsers gemeinen prosaischen
Lebens ist in der Kunst unerlaubt, dort in
den heitern, reinen Regionen ist sie unge¬
ziemlich, sie ist unter uns selbst das Doku¬
ment unsrer Gemeinheit und Unsittlichkeit.

Schönheit, das iſt es, was wir in allen
Formen entdecken wollen, wonach unſer gie¬
riges Auge allenthalben ſucht. Wenn wir
ſie finden, ſo ſind es auch nicht die Sinne
allein, die in Bewegung ſind, ſondern alle
unſre Entzückungen erſchüttern uns auf ein¬
mal auf die lieblichſte Weiſe. Der freie un¬
verhüllte Körper iſt der höchſte Triumph der
Kunſt, denn was ſollen mir jene beſchleier¬
ten Geſtalten? Warum treten ſie nicht aus
ihren Gewändern heraus, die ſie ängſtigen
und ſind ſie ſelbſt? Gewand iſt höchſtens
nur Zugabe, Nebenſchönheit. Das griechiſche
Alterthum verkündigt ſich in ſeinen nackten
Figuren am göttlichſten und menſchlichſten.
Die Decenz unſers gemeinen proſaiſchen
Lebens iſt in der Kunſt unerlaubt, dort in
den heitern, reinen Regionen iſt ſie unge¬
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[165/0173] Schönheit, das iſt es, was wir in allen Formen entdecken wollen, wonach unſer gie¬ riges Auge allenthalben ſucht. Wenn wir ſie finden, ſo ſind es auch nicht die Sinne allein, die in Bewegung ſind, ſondern alle unſre Entzückungen erſchüttern uns auf ein¬ mal auf die lieblichſte Weiſe. Der freie un¬ verhüllte Körper iſt der höchſte Triumph der Kunſt, denn was ſollen mir jene beſchleier¬ ten Geſtalten? Warum treten ſie nicht aus ihren Gewändern heraus, die ſie ängſtigen und ſind ſie ſelbſt? Gewand iſt höchſtens nur Zugabe, Nebenſchönheit. Das griechiſche Alterthum verkündigt ſich in ſeinen nackten Figuren am göttlichſten und menſchlichſten. Die Decenz unſers gemeinen proſaiſchen Lebens iſt in der Kunſt unerlaubt, dort in den heitern, reinen Regionen iſt ſie unge¬ ziemlich, ſie iſt unter uns ſelbſt das Doku¬ ment unſrer Gemeinheit und Unſittlichkeit.

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Franz Sternbald's Wanderungen. Bd. 2. Berlin, 1798, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_sternbald02_1798/173>, abgerufen am 26.04.2024.