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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 3. Berlin, 1816.

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Zweite Abtheilung.

Sie scheinen ja heut, sagte Clara, Schrö-
der ihrem geliebten Fleck vorzuziehen, und doch
verstand ich sie neulich anders.

Liebste Freundinn, fuhr Lothar fort, jeder
von ihnen hatte Vorzüge vor dem andern, und
ich will versuchen, ihnen meine Ansicht deutlich
zu machen. Schröder hatte jene schaffende
Phantasie im höchsten Sinne des Wortes, die
das unerlaßlichste Erforderniß des Schauspie-
lers ist, und er war sich dieser vollkommen be-
wußt, er war fähig, mit seinem Scharfsinn und
Verstande alle ihre Tiefen zu durchdringen, und
Entdeckungen zu machen, die sein Studium und
seine Kunst zu einer zusammenhängenden Ent-
wickelung und Reise führten, daher seine Viel-
seitigkeit, seine Sicherheit im Tragischen und
Komischen, wie in den Characterrollen: deshalb
er alles, was er übernahm, vortrefflich aus-
führte, aber auch mit voller Kenntniß seiner
selbst nichts versuchte, was ihm nicht gelingen
konnte. Außerdem kam ihm die Schule seiner
Jugend zu statten, er hatte in Balletten getanzt
und in Opern gesungen, und so war er der viel-
seitigste, gewandteste, sicherste, und da er alles
im großem Style zeigte, in diesem Sinne wohl
der größte Schauspieler seiner Nation ge-
worden.

Nun, und Fleck? fragte Clara wieder.

Haben Sie Geduld mit meiner Weitschwei-
figkeit, antwortete Lothar lächelnd, der Ver-

Zweite Abtheilung.

Sie ſcheinen ja heut, ſagte Clara, Schroͤ-
der ihrem geliebten Fleck vorzuziehen, und doch
verſtand ich ſie neulich anders.

Liebſte Freundinn, fuhr Lothar fort, jeder
von ihnen hatte Vorzuͤge vor dem andern, und
ich will verſuchen, ihnen meine Anſicht deutlich
zu machen. Schroͤder hatte jene ſchaffende
Phantaſie im hoͤchſten Sinne des Wortes, die
das unerlaßlichſte Erforderniß des Schauſpie-
lers iſt, und er war ſich dieſer vollkommen be-
wußt, er war faͤhig, mit ſeinem Scharfſinn und
Verſtande alle ihre Tiefen zu durchdringen, und
Entdeckungen zu machen, die ſein Studium und
ſeine Kunſt zu einer zuſammenhaͤngenden Ent-
wickelung und Reiſe fuͤhrten, daher ſeine Viel-
ſeitigkeit, ſeine Sicherheit im Tragiſchen und
Komiſchen, wie in den Characterrollen: deshalb
er alles, was er uͤbernahm, vortrefflich aus-
fuͤhrte, aber auch mit voller Kenntniß ſeiner
ſelbſt nichts verſuchte, was ihm nicht gelingen
konnte. Außerdem kam ihm die Schule ſeiner
Jugend zu ſtatten, er hatte in Balletten getanzt
und in Opern geſungen, und ſo war er der viel-
ſeitigſte, gewandteſte, ſicherſte, und da er alles
im großem Style zeigte, in dieſem Sinne wohl
der groͤßte Schauſpieler ſeiner Nation ge-
worden.

Nun, und Fleck? fragte Clara wieder.

Haben Sie Geduld mit meiner Weitſchwei-
figkeit, antwortete Lothar laͤchelnd, der Ver-

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[504/0514] Zweite Abtheilung. Sie ſcheinen ja heut, ſagte Clara, Schroͤ- der ihrem geliebten Fleck vorzuziehen, und doch verſtand ich ſie neulich anders. Liebſte Freundinn, fuhr Lothar fort, jeder von ihnen hatte Vorzuͤge vor dem andern, und ich will verſuchen, ihnen meine Anſicht deutlich zu machen. Schroͤder hatte jene ſchaffende Phantaſie im hoͤchſten Sinne des Wortes, die das unerlaßlichſte Erforderniß des Schauſpie- lers iſt, und er war ſich dieſer vollkommen be- wußt, er war faͤhig, mit ſeinem Scharfſinn und Verſtande alle ihre Tiefen zu durchdringen, und Entdeckungen zu machen, die ſein Studium und ſeine Kunſt zu einer zuſammenhaͤngenden Ent- wickelung und Reiſe fuͤhrten, daher ſeine Viel- ſeitigkeit, ſeine Sicherheit im Tragiſchen und Komiſchen, wie in den Characterrollen: deshalb er alles, was er uͤbernahm, vortrefflich aus- fuͤhrte, aber auch mit voller Kenntniß ſeiner ſelbſt nichts verſuchte, was ihm nicht gelingen konnte. Außerdem kam ihm die Schule ſeiner Jugend zu ſtatten, er hatte in Balletten getanzt und in Opern geſungen, und ſo war er der viel- ſeitigſte, gewandteſte, ſicherſte, und da er alles im großem Style zeigte, in dieſem Sinne wohl der groͤßte Schauſpieler ſeiner Nation ge- worden. Nun, und Fleck? fragte Clara wieder. Haben Sie Geduld mit meiner Weitſchwei- figkeit, antwortete Lothar laͤchelnd, der Ver-

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 3. Berlin, 1816, S. 504. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus03_1816/514>, abgerufen am 02.05.2024.